Leitsatz (amtlich)
1. Hat jemand vorsätzlich Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet und wird er deswegen nach § 112 AO als Haftender in Anspruch genommen, so ist diese Inanspruchnahme im Regelfall nicht ermessensfehlerhaft und braucht die Ausübung dieses Ermessens im Haftungsbescheid nicht begründet zu werden.
2. Die Richtlinien der EVSt vom 19. August 1965 und 24. Januar 1966 zur Art und Weise des Nachweises der Beschaffenheit der zur Erlangung einer Erstattung ausgeführten Waren hatten keinen Rechtssatzcharakter und waren für Dritte unverbindlich (Bestätigung der Rechtsprechung).
Normenkette
AO § 118 S. 1; ErstVOGetrReis § 6 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Landproduktenhändler A ließ in den Jahren 1965 und 1966 wie auch in den Jahren zuvor durch die Fa. B nach seinen Weisungen Gerste schälen und schleifen, wobei im allgemeinen eine Ausbeute von ca. 80 v. H. erzielt wurde. A führte dieses Produkt von Oktober 1965 bis Mai 1966 in die Schweiz aus und deklarierte es in den Ausfuhrpapieren und in den Erstattungsanträgen bei der Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel (EVSt) als „perlförmig geschliffene Gerste mit einem Aschegehalt von höchstens 1 v. H.”. Die Versandabfertigung für die Ausfuhren in die Schweiz fand auf den Betriebsgelände der Fa. B durch Beamte des Beklagten und Revisionsklägers (Hauptzollamt – HZA –) statt. Diesen oblag es u. a., Proben von der Ware zu entnehmen und zu versiegeln, die als Nachweis der Beschaffenheit der ausgeführten Erzeugnisse dienten. Dabei war zunächst, und zwar bis gegen Ende 1964, so verfahren worden, daß der Obermüller W aus den verladenen oder noch zu verladenden Säcken im Beisein der Zollbeamten Proben entnahm und sie diesen zur Siegelung übergab.
Kurz nachdem der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) im September 1964 die Geschäftsführung der Fa. B übernommen hatte, erhielt er von A den Auftrag, geschliffene Gerste mit verschiedenen Ausbeutegraden herzustellen, die angeblich als Muster für Warenuntersuchungen dienen sollten. Im Dezember 1964 gab er ihm ferner die Weisung, die Proben, welche den Zollbeamten bei der Versandabfertigung ausgehändigt wurden, nicht mehr der zu versendenden Ware, sondern bestimmten Partien der als Muster hergestellten stark geschliffenen Gerste zu entnehmen. Der Kläger und der Obermüller, an den er diesen Auftrag weitergab, verfuhren in der Folgezeit entsprechend. A ließ die so erlangten, zollamtlich versiegelten Muster durch einen vereidigten Sachverständigen begutachten. Aufgrund der darüber ausgestellten Untersuchungszeugnisse gewährte ihm die EVSt Erstattungen in Form der Genehmigung der abschöpfungsfreien Einfuhr von Gerste nach dem für perlförmig geschliffene Gerste mit einem Aschegehalt von höchstens 1 v. H. gültigen Schlüssel.
Wegen dieses Sachverhalts wurde der Kläger durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts C vom 26. Februar 1971 eines fortgesetzten Vergehens der Beihilfe zur Abschöpfungshinterziehung schuldig gesprochen. Das Gericht ging in seiner Entscheidung davon aus, daß der Kläger mindestens seit 1. Oktober 1965, dem Beginn einer bei der Fa. B durchgeführten Außenwirtschaftsprüfung, gewußt habe, daß A für die ausgeführten Gerstenerzeugnisse Ausfuhrerstattungen in Anspruch genommen habe. Von da an sei ihm auch klar gewesen, welche Bedeutung die den Zollbeamten bei der Versandabfertigung ausgehändigten Proben dafür gehabt hätten.
Das HZA nahm den Kläger wegen seiner Beteiligung an den Manipulationen des A nach § 112 der Reichsabgabenordnung (AO) als Haftungsschuldner für von diesem verkürzte Abgaben in Anspruch. Durch Bescheid vom 30. Mai 1969 forderte es von ihm deswegen zunächst Abgaben in Höhe von 1 160 399,24 DM mit der Begrüngung, er habe den Tatbestand der Beihilfe zur fortgesetzten Abgabenhinterziehung erfüllt und hafte als Tatbeteiligter an dieser Abgabenhinterziehung nach § 112 AO für die verkürzten Abgaben, und zwar nach § 7 Abs. 1 und 3 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) gesamtschuldnerisch neben A und mehreren anderen im Bescheid aufgeführten Personen. Nach der Verurteilung des Klägers durch das Landgericht ermäßigte das HZA durch Änderungsbescheid vom 6. Dezember 1973 seinen Anspruch auf 339 029,07 DM Abschöpfung mit der Begründung, die Ermäßigung ergebe sich bei Berücksichtigung der strafgerichtlichen Feststellungen. Gegen den geänderten Haftungsbescheid legte der Kläger erfolglos Einspruch ein.
Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:
Das HZA gehe zutreffend im angefochtenen Bescheid davon aus, daß der Kläger nach § 112 AO wegen einer von ihm begangenen Beihilfe zur Abgabenhinterziehung für 339 029,07 DM Abschöpfung hafte. Die von A erlangten Erstattungen seien u. a. deswegen nicht gerechtfertigt gewesen, weil A Art, Beschaffenheit und Zusammensetzung der ausgeführten Waren nicht durch Vorlage eines Untersuchungszeugnisses über zollamtlich entnommene Proben habe nachweisen können. Das sei aber ebenfalls Voraussetzung für die gewährte Erstattung, wie sich aus § 6 Abs. 1 Nr. 3 der Erstattungsverordnung Getreide und Reis vom 24. November 1964 – ErstVOGetrReis – (BGBl I 1964, 917, Bundeszollblatt – BZBl – 1965, 2) und den dazu ergangenen Richtlinien der EVSt vom 19. August 1965 (Bundesanzeiger – BAnz – Nr. 156 vom 21. August 1965) und vom 24. Januar 1966 (BAnz Nr. 18 vom 27. Januar 1966) ergebe. Trotz der Verordnungsermächtigung des § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 (Getreide) des Rates der EWG (DG EWG Getr) i. d. F. des Dritten Änderungsgesetzes vom 29. Juli 1964 (BGBl I 1964, 553), die Voraussetzungen, die Höhe und das Verfahren bei den Erstattungen durch Rechtsverordnung zu regeln, habe die EVSt das Recht gehabt, Regelungen von untergeordneter Bedeutung durch Verwaltungsvorschriften ohne Rechtsnormqualität zu treffen. Die gegenteilige Ansicht des Bundesfinanzhofs (BFH), der sich im Urteil vom 14. Mai 1974 VII R 83/71 (BFHE 112, 543) mit derselben Frage für den Bereich der Milchmarktordnung befaßt habe, teile das FG nicht.
Zu der Abschöpfungshinterziehung des A habe der Kläger Beihilfe geleistet. Hierin folge das FG den Feststellungen des Landgerichts C, die auf einer umfangreichen Beweisaufnahme und einer sorgfältigen Würdigung der Beweise beruhten. Allerdings habe der Kläger einer Verwertung der im Strafurteil getroffenen Feststellungen für das Besteuerungsverfahren widersprochen und Beweis für seine Gutgläubigkeit angeboten. Hierauf brauche indessen nicht näher eingegangen zu werden, da der angefochtene Bescheid aus anderen Gründen keinen Bestand haben könne.
Der Haftungsbescheid sei dennoch rechtswidrig. Bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners sei die Steuerbehörde nach § 118 AO ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu entscheiden. Die Heranziehung des Klägers als Haftenden für den vollen Abschöpfungsbetrag, an dessen Hinterziehung er mitgewirkt habe, stelle aber keinen dem Zweck dieser gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Gebrauch des Ermessens dar (§ 102 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Das HZA habe nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit zu entscheiden gehabt (§ 2 Abs. 2 StAnpG). Das der Steuerbehörde zustehende Ermessen reduziere sich nicht auf die Auswahl zwischen mehreren Haftenden. Dem Haftungstatbestand des § 112 AO liege der Gedanke zugrunde, daß, wer in verwerflicher Weise die Verkürzung von Steuern herbeiführe, den von ihm dem Steuergläubiger zugefügten Schaden wiedergutmachen solle. Für die Frage, ob und inwieweit es billig sei, den Hinterzieher als Haftenden für verkürzte Steuern heranzuziehen, falle es deshalb erheblich ins Gewicht, wenn der durch sein Verhalten entstandene Schaden wesentlich hinter dem Betrag dieser Steuern zurückbleibe. So verhalte es sich aber bei der vom Kläger begangenen Straftat.
Der Rechtsfehler des HZA mache den angefochtenen Haftungsbescheid insgesamt rechtswidrig und nötige zu seiner vollen Aufhebung. Denn das Gericht könne im Rahmen der ihm nach § 102 FGO obliegenden Prüfung nur die Grenzen aufzeigen, die der Ermessensausübung im Einzelfall durch den Zweck des Gesetzes gezogen seien. Seien diese, wie hier, nicht beachtet worden, so könne es nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des von der Steuerbehörde nicht oder fehlerhaft gehandhabten Ermessens setzen. Der Haftungsbescheid leide im übrigen noch an einem weiteren Mangel. Weder im Verwaltungsakt noch in der Einspruchsentscheidung seien Gründe für die Ermessensausübung angegeben worden.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Die Auffassung des FG, der angefochtene Haftungsbescheid sei schon deswegen rechswidrig, weil er Ermessensfehler aufweise und eine gerichtlich überprüfbare Begründung für die Ermessensausübung vermissen lasse, hält einer näheren Prüfung nicht stand.
Wer eine Steuerhinterziehung begeht, haftet nach § 112 AO für den Betrag, in dessen Höhe Steuereinnahmen verkürzt oder Steuervergünstigungen zu Unrecht gewährt oder belassen werden, auch dann, wenn er nicht Steuerschuldner ist. Der Begriff „Steuerhinterziehung” in dieser Vorschrift umfaßt auch die Beihilfe zu einer solchen (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 112 AO Rdnr. 1 mit weiteren Nachweisen). Die Vorschriften für den Steuerschuldner gelten nach § 97 Abs. 1 und 2 AO sinngemäß für den Haftenden. Während jedoch § 210 Abs. 1 AO das Finanzamt (FA) verpflichtet, eine ermittelte Steuerschuld durch Steuerbescheid gegenüber dem Schuldner festzusetzen, begnügt sich § 118 AO mit der Bestimmung, daß das FA „befugt” ist, auch den für die Steuer Haftenden in Anspruch zu nehmen. Mit dem FG ist davon auszugehen, daß damit die Inanspruchnahme des Haftenden in das pflichtgemäße Ermessen des FA gestellt ist.
Der Wortlaut des § 118 AO spricht dafür, daß die Befugnis des FA keiner weiteren Einschränkung unterliegt, das FA also bei seiner Ermessensentscheidung nur an den Rahmen des § 2 StAnpG gebunden ist und daher auf die Inanspruchnahme des Haftenden ganz verzichten kann, wenn dies im Sinne des § 2 Abs. 2 StAnpG der Billigkeit und der Zweckmäßigkeit entspricht. Geht man gemäß dem Wortlaut des § 118 AO von einem solchen Veranlagungsermessen aus, so stellt sich die Frage, ob das FA verpflichtet ist, vor dem Erlaß eines Haftungsbescheides bereits zu prüfen, ob ein Grund vorliegt, die Haftungsschuld gemäß § 131 AO aus Billigkeitsgründen zu erlassen.
§ 118 AO könnte allerdings auch dahin verstanden werden, daß er der Regelung besonderer Probleme dienen soll, die sich daraus ergeben, daß der Haftende und der Steuerschuldner gemäß § 7 Abs. 1 StAnpG Gesamtschuldner sind. Dann würde § 118 AO dem FA nur ein Auswahlermessen, also nur das Recht geben, nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, an welchen der Gesamtschuldner es sich wenden soll (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 118 AO Rdnr. 5; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 1.–6. Aufl., § 118 AO Rdnr. 4).
Der erkennende Senat braucht diese Fragen im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Denn auch wenn man der Auffassung der Vorinstanz folgt und dem FA bei Haftungsbescheiden auch ein Veranlagungsermessen zuerkennt, ist die Entscheidung des HZA für eine Inanspruchnahme des Klägers als Haftenden frei von Ermessensfehlern. Denn falls dem Kläger eine Beihilfe zur Steuerhinterziehung zur Last zu legen ist – worüber das FG in seiner neuerlichen Entscheidung noch endgültig zu entscheiden haben wird (vgl. die Ausführungen unter Nr. 2) –, sind regelmäßig keine Umstände denkbar, die es als ermessensfehlerhaft erscheinen lassen könnten, den Kläger als Haftenden in Anspruch zu nehmen. Hat jemand vorsätzlich Steuern hinterzogen oder Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet, so ist es im Regelfall billig und gerecht, wenn ihn das FA als Haftenden in Anspruch nimmt; das FA würde ermessensfehlerhaft handeln, würde es ihn im Hinblick auf die von der Vorentscheidung aufgeführten Erwägungen (Maß des strafrechtlichen Verschuldens, Höhe des angerichteten „Schadens”, Umfang der erlangten Vorteile usw.) von der Haftung freistellen (vgl. auch Urteile in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 24. Oktober 1979 VII R 7/77, BFHE 129, 13, BStBl II 1980, 58, Absatz 2 der Entscheidungsgründe, letzter Satz).
Aus dem Vorstehenden ergibt sich auch, daß der angefochtene Haftungsbescheid nicht deswegen rechtsfehlerhaft ist, weil das HZA in ihm die Ermessensentscheidung nach § 118 AO nicht begründet hat. Dieser Ermessensentscheidung ging die Rechtsentscheidung des HZA darüber voraus, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 112 i. V. m. § 392 Abs. 1 AO erfüllt seien. Diese Rechtsentscheidung hatte zum Inhalt, daß sich der Kläger eines fortgesetzten Vergehens der Beihilfe zur Steuerhinterziehung schuldig gemacht hatte. Das engte aber den Ermessensspielraum des HZA – soweit ihm ein solcher offenstand – jedenfalls so ein, daß die Nichtinanspruchnahme des Klägers ermessenswidrig gewesen wäre. Durch die Rechtsentscheidung des HZA war also seine Ermessensentscheidung für jedermann erkennbar so vorgeprägt, daß es keiner besonderen Begründung der Ermessensbestätigung im Haftungsbescheid mehr bedurfte (vgl. die im Vorabsatz zitierten BFH-Urteile).
2. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Der erkennende Senat ist jedoch nicht in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden. Das FG hat zwar trotz seiner (unzutreffenden) Auffassung, der Haftungsbescheid sei wegen Rechtsfehlern bei der Ermessensausübung durch das HZA und bei der Begründung aufzuheben, entschieden, daß die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Klägers nach § 112 Abs. 1 AO gegeben seien. Es hat auch die erforderlichen Feststellungen in Anlehnung an das Strafurteil getroffen (Urteil des erkennenden Senats vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311). Es hat sich jedoch im Hinblick darauf, daß es den Haftungsbescheid aus anderen Gründen für unrechtmäßig hielt, ausdrücklich nicht mit den Einwendungen des Klägers gegen die strafgerichtlichen Feststellungen auseinandergesetzt. Endgültige Feststellungen zu dieser Frage, die dem erkennenden Senat eine abschließende Entscheidung über die Klage ermöglichten, fehlen daher. Die Sache war somit an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
3. Das FG wird bei seiner neuerlichen Entscheidung folgendes zu beachten haben:
In der Vorentscheidung hat das FG die Einwendungen des Klägers gegen die Feststellungen des Strafurteils über die Beschaffenheit der ausgeführten Waren mit der Begründung übergangen, der Tatbestand der Steuerhinterziehung sei unabhängig davon erfüllt: die erschlichenen Abgabenvorteile erwiesen sich nämlich auch deshalb als ungerechtfertigt, weil A den Beschaffenheitsnachweis für die ausgeführten Waren nicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 ErstVOGetrReis i. V. m. den dazu ergangenen Richtlinien der EVSt vom 19. August 1965 und 24. Januar 1966 in Form der Vorlage von Untersuchungszeugnissen über zollamtlich gezogene Proben geführt habe. Diese Auffassung trifft jedoch nicht zu.
Der erkennende Senat hat mit Urteil in BFHE 112, 543 entschieden, die EVSt habe nicht durch Richtlinien die Form des Nachweises der Beschaffenheit von Waren, für die Ausfuhrerstattung begehrt wird, rechtswirksam dahin regeln dürfen, daß nureine bestimmte Form zugelassen, jede andere Form des Nachweises aber ausgeschlossen sei (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 29. August 1978 VII R 56/75, BFHE 126, 341, 344). Das FG wendet sich gegen diese Rechtsauffassung mit der Begründung, bei der leistungsgewährenden Verwaltung, in deren Rahmen die EVSt hier tätig geworden sei, sei dem verfassungsrechtlich gebotenen Gesetzesvorbehalt Genüge getan, wenn der Kern der zu treffenden Regelung durch Gesetz erfolge; die durch § 6 Abs. 1 Nr. 3 ErstVOGetrReis der EVSt überlassene Entscheidung über die Art und Weise des Nachweises betreffe lediglich eine untergeordnete formale Voraussetzung für die Gewährung der staatlichen Leistung. Das FG verkennt dabei, daß hier nicht die Frage von Belang ist, ob sich die Richtlinien in den Grenzen des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts bewegten (was im Hinblick auf die Grundgedanken der Urteile des Bundesverwaltungsgerichts – BVerwG – vom 21. März 1958 VII C 6.57, BVerwGE 6, 282, und vom 19. Dezember 1958 VII C 204.57, Neue Juristische Wochenschrift – NJW – 1959, 1098, zweifelhaft ist), sondern allein, ob ihnen die Qualität einer Rechtsnorm zukam, ob sie also verbindlich für jedermann zur Führung des Beschaffenheitsnachweises nur in einer bestimmten Form verpflichten konnten. Das ist jedoch nicht der Fall.
Wenn der Inhalt der Richtlinien der EVSt unter dem Gesichtspunkt des Vorbehalts des Gesetzes keiner Festlegung durch eine Rechtsnorm bedurfte, bedeutet das nur, daß die Richtlinien nicht gesetzeswidrig waren. Der mangelnde Verstoß gegen den grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalt veränderte aber die rechtliche Qualität dieser Richtlinien nicht. Sie wurden dadurch noch nicht ohne weiteres zu einer verbindlichen, verpflichtenden Norm, zu einer Rechtsnorm (vgl. § 4 der Abgabenordnung – AO 1977 –). Sie blieben, da von einer Verwaltungsbehörde erlassen, Verwaltungsvorschriften.
Allgemeine Verwaltungsvorschriften haben in erster Linie eine Wirkung nach innen durch Bindung der betroffenen Behörden. Ihnen können aber auch Außenwirkungen zukommen (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., 10. Aufl., § 4 AO 1977 Anm. 34 ff.; Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., 8. Aufl. § 4 AO 1977 Anm. 62 ff., jeweils mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung des BFH). Eine der wesentlichsten Außenwirkungen ist die sich aus dem Gleichheitssatz ergebende Selbstbindung der Verwaltung, die aber, wie der Senat im Urteil in BFHE 112, 543, 545 entschieden hat, zu einer belastenden Bindung eines Dritten an eine Verwaltungsregelung nicht führen kann (zur Frage der mangelnden Rechtsnormqualität von Verwaltungsvorschriften vgl. im übrigen auch Urteil des erkennenden Senats vom 27. Juni 1978 VII R 68/77, BFHE 125, 321, 325, und Urteil des BVerwG vom 26. April 1979 3 C 111.79, NJW 1979, 2059).
Allerdings ist es nicht völlig ausgeschlossen, daß eine Verwaltungsvorschrift unter bestimmten Umständen materiellen Rechtssatzcharakter erhält. So hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluß vom 28. Oktober 1975 2 BvR 883/73 usw. (BVerfGE 40, 237, 254 ff.) entschieden, die Allgemeinverfügung des Nordrhein-Westfälischen Justizministeriums von 1971 (wonach gegenüber Justiz- und Vollzugsmaßnahmen Antrag auf gerichtliche Entscheidung erst gestellt werden kann, nachdem ein Beschwerdeverfahren vorausgegangen ist) enthalte materiellen Rechtssatzcharakter. Das BVerfG hat das damit begründet (a. a. O., S. 255), daß der genannten Allgemeinverfügung aufgrund der Regelung des § 24 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG) „schon kraft ihrer gesetzlich intendierten Funktion, die Rechtmäßigkeit und Richtigkeit von Maßnahmen des Strafvollzugs gewährleisten zu helfen, Bindungswirkung gegenüber dem betroffenen Bürger” zukomme; „sie ist damit Bestandteil der objektiven Rechtsordnung”.
Der vom BVerfG entschiedene Fall ist jedoch mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Zwar kommt auch den Richtlinien der EVSt eine „gesetzlich intendierte Funktion” zu. Die aufgrund der Ermächtigung des § 8 DG EWG Getr erlassene ErstVOGetrReis sieht nämlich in ihrem § 6 Abs. 1 Nr. 3 vor, daß die Erstattung nur beantragen kann, wer Art, Beschaffenheit und Zusammensetzung der ausgeführten Waren nachweist; der Verordnungsgeber hat in dieser Bestimmung ausdrücklich hinzugefügt, daß die EVSt Richtlinien für diesen Nachweis im BAnz bekanntgibt. Im Unterschied zu § 24 Abs. 2 EGGVG zeichnet aber § 6 Abs. 1 Nr. 3 ErstVOGetrReis nicht bereits den gesamten Inhalt der zu erlassenden Verwaltungsvorschrift vor. Die Bestimmung enthält keinen konkreten Plan, an den sich die EVSt beim Erlaß ihrer Richtlinien etwa hätte halten müssen, geschweige denn auch nur ansatzweise die Vorgabe, sie könne nur eine einzige Art des Nachweises für zulässig erklären. Dies ist aber nach Auffassung des erkennenden Senats entscheidend. Denn allenfalls dann, wenn der Inhalt einer Verwaltungsrichtlinie in der dazu ermächtigenden Rechtsnorm in ihrem wesentlichen Inhalt – insbesondere, soweit dieser für die Betroffenen belastend ist – vorgezeichnet ist, kann ihr eine – gewissermaßen von der ermächtigenden Rechtsnorm verliehene – Bindungswirkung gegenüber dem rechtsunterworfenen Bürger zukommen. Nichts anderes hat der Senat auch im Urteil vom 23. Juli 1968 VII 37/65 (BFHE 93, 362) entschieden, wor er zum Ausdruck gebracht hat, daß eine in § 22 Abs. 2 Satz 1 der Allgemeinen Zollordnung (AZO) vorgesehene Verwaltungsvorschrift des Bundesministers der Finanzen (BMF) über die ausschließliche Art der Führung der Präferenznachweise verbindlich ist.
Fundstellen
Haufe-Index 510545 |
BFHE 1983, 157 |