Leitsatz (amtlich)
Die Ausgabe von Freigenußrechten an die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft im Verhältnis ihrer Beteiligung als Gesellschafter unterliegt nicht der Gesellschaftsteuer.
Normenkette
KVStG 1972 § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
In der Hauptversammlung vom 16. November 1973 beschlossen die sechs Aktionäre der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) einstimmig:
"Der Vorstand wird ermächtigt, an die Aktionäre im Verhältnis ihrer Beteiligung am Grundkapital Genußscheine mit folgendem Inhalt auszugeben:
Die (Name der Aktionärin) hat für die Jahre 1973 und 1974 einen Anspruch auf (Prozentsatz der Beteiligung der Aktionärin am Grundkapital der Gesellschaft) % von 50% des Jahresüberschusses, der sich vor Bedienung der an die Aktionäre ausgegebenen Genußscheine ergibt. Sie nimmt außerdem an der Verteilung des Liquidationserlöses teil. Liquidationserlös im vorstehenden Sinne ist der Erlös nach Abzug der Aktien-Nennbeträge. Dieser Genußschein erlischt nach Bedienung des Genußscheines aus dem Jahresüberschuß 1974."
Entsprechende Genußscheine wurden im Dezember 1973 an die Aktionärinnen ausgegeben.
Gestützt auf § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStG) 1972 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) durch vorläufigen Bescheid vom 8. Mai 1974 gegen die Klägerin aufgrund Ausgabe der Genußscheine Gesellschaftsteuer in Höhe von 2 216 263,50 DM fest.
Der unmittelbar beim Finanzgericht (FG) erhobenen Klage (§ 45 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), die auf Aufhebung des Bescheides gerichtet ist, hat das FG mit dem in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1976 S.247 (EFG 1976, 247) veröffentlichten Urteil stattgegeben.
Mit der Revision beantragt das FA, die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen. Es rügt Verletzung materiellen Rechts. Die Klägerin ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 KVStG 1972 unterliegt der Gesellschaftsteuer der Ersterwerb von Gesellschaftsrechten an einer inländischen Kapitalgesellschaft. Der Erwerb der Genußrechte (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 KVStG 1972) an der Klägerin (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 KVStG 1972) erfüllt zwar den buchstäblichen Wortlaut des Steuertatbestandes; er unterliegt aber gleichwohl nicht der Steuer.
Zweck der Gesellschaftsteuer ist es, die Vergesellschaftung von Kapital sowie die von außen bewirkte Verstärkung der Kapitalkraft der Gesellschaft (vgl. die amtliche Begründung zum Kapitalverkehrsteuergesetz 1934, RStBl 1934, 1460 ff.), d. h. die Eigenkapitalzuführung durch die Gesellschafter in allen Formen zu erfassen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. November 1967 II 176/61, BFHE 91, 172, BStBl II 1968, 213).
Wie das Kapitalverkehrsteuergesetz 1934 hat auch das Kapitalverkehrsteuergesetz 1972 - insoweit unverändert - nicht , das Erfordernis einer "Leistung" zum Tatbestandsmerkmal des § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes gemacht. Die Abkehr von diesem Tatbestandsmerkmal, wie es in § 6 Buchst. a KVStG 1922 enthalten war, beruhte nach der amtlichen Begründung zum Kapitalverkehrsteuergesetz 1934 (RStBl 1934, 1460 - 1463-) auf dem gesetzgeberischen Ziel, die Ausgabe sog. Freiaktien entgegen der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs - RFH - (vgl. Urteil vom 14. Februar 1928 II A 2/28, RFHE 23, 53) der Gesellschaftsteuer zu unterwerfen. Damit wurde aber nicht das Grundprinzip aufgegeben, daß die Steuer nur um der Kapitalzuführung willen erhoben wird und daß sie nicht auf den Erträgnissen der Gesellschaft lastet (vgl. BFH-Urteil vom 10. Mai 1972 II R 17/68, BFHE 105, 519, BStBl II 1972, 629).
Erklärtes Ziel des Gesetzgebers des Kapitalverkehrsteuergesetzes 1972 war die Umsetzung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 249/25 vom 3. Oktober 1969) in das nationale Recht (vgl. die Gesetzesbegründung unter A der Bundestags-Drucksache VI/2769). Bei der Anpassung des nationalen Rechtes an die erwähnte Harmonisierungsrichtlinie durch das Kapitalverkehrsteuergesetz 1972 ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß er die Richtlinie umgesetzt habe und vertragsgetreu keine Vorgänge mehr der Steuer unterwerfe, die nach der Zielsetzung der Richtlinie zwingend nicht mehr besteuert werden dürfen.
Diese Ausgangslage ist bei der Auslegung des nationalen Rechtes zu berücksichtigen. Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der erwähnten Richtlinie setzt die Besteuerung des Erwerbs von Rechten, die nicht einen Anteil am Kapital oder am Gesellschaftsvermögen verkörpern, sondern sonstige Rechte sind, wie sie Gesellschaftern gewährt werden (beispielsweise Stimmrechte, Recht auf Gewinnbeteiligung oder auf Liquidationserlös), voraus, daß sie für die Erhöhung des Gesellschaftsvermögens einer Kapitalgesellschaft durch Einlagen jeder Art eingeräumt werden. Bei Ausgabe von Freigenußrechten der vorliegenden Art an die Aktionäre im Verhältnis ihrer Beteiligung werden lediglich Ansprüche auf die Erträgnisse (einschließlich eines etwaigen Liquidationserlöses) verselbständigt, die den Aktionären bisher schon zustanden. Es handelt sich um eine ausschließlich die Gewinnverwendung betreffende Maßnahme, die nicht einmal formal die Vermögenssituation der Kapitalgesellschaft verändert.
Sinn und Zweck des Gesellschaftsteuerrechts sowie das aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ableitbare Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechtes zwingen zu einer teleologischen Reduktion des Wortlautes von § 2 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 2 KVStG 1972 dahingehend, daß die bloße Verselbständigung von Teilen des Vermögensüberschusses, der den mit den Genußrechtserwerbern identischen Aktionären zusteht, in Genußscheinen, nicht der Steuer unterliegt, sofern ihr nicht eine das Gesellschaftsvermögen der ausgebenden Kapitalgesellschaft erhöhende Einlage gegenübersteht. Diese Auslegung wird allein dem Zweck der Gesellschaftsteuer, die Kapitalzuführung an Kapitalgesellschaften zu besteuern (vgl. Art. 1 der Richtlinie), gerecht. Denn in einem Fall, wie dem vorliegenden, ändert sich weder die Gesamtvermögenssituation der Kapitalgesellschaft noch die Form ihrer Kapitalausstattung.
Fundstellen
Haufe-Index 413483 |
BStBl II 1981, 279 |
BFHE 1981, 319 |