Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens bei Nichtaussetzung gemäß § 74 FGO
Leitsatz (NV)
1. Es ist ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, wenn ein FG eine Sachentscheidung trifft, obwohl es das Klageverfahren gemäß § 74 FGO hätte aussetzen müssen.
2. Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO durch das FG kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn wegen der gleichen Rechtsfrage beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist.
Normenkette
FGO § 74; AO 1977 § 363; BVerfGG § 31 Abs. 2 Sätze 1-2; EStG § 32b Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhoben am 16. Februar 1988 bzw. am 20. September 1988 zwei Klagen gegen den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) vor dem Niedersächsischen Finanzgericht (FG) wegen Einkommensteuer 1986 und 1987. Als Klagebegründung machten sie die Verfassungswidrigkeit des § 32 b Abs. 1 Nr. 1 EStG 1986 geltend. Sie verwiesen auf zwei beim BVerfG zu dieser Frage anhängige Verfassungsbeschwerden, zu denen eine Entscheidung in der zweiten Jahreshälfte 1990 zu erwarten sei. Sie beantragten, die Verfahren ruhen zu lassen. Die Klagen seien nur vorsorglich erhoben worden. Sollte das BVerfG incidenter zum Nachteil der Kläger entscheiden, würden die Klagen zurückgenommen.
Das FG wies die Klagen nach mündlicher Verhandlung durch zwei Urteile ab. Gegen die Urteile erhoben die Kläger mit Datum vom 19. Juni 1990 sowohl zwei auf § 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützte Revisionen als auch zwei Nichtzulassungsbeschwerden. Aufgrund der Beschwerden hat der erkennende Senat durch Beschluß vom 8. Mai 1991 die Revisionen zugelassen. Der Beschluß wurde dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger am 28. Juni 1991 zugestellt.
Die Kläger legten in einem am 17. Juli 1991 beim FG eingegangenen Schriftsatz gegen die beiden Urteile erneut Revisionen ein, wobei sie bitten, die am 19. Juni 1990 und die nunmehr eingelegten Revisionen als eine Einheit mit der Maßgabe zu behandeln, daß sowohl über die damals als auch über die nunmehr gerügten Verfahrensfehler entschieden wird. Als zusätzlichen Verfahrensfehler rügen die Kläger neuerlich die Nichtaussetzung der Verfahren durch das FG bis zur Entscheidung des BVerfG. Außerdem machen sie die Verletzung materiellen Rechts geltend.
Das FA hat während des Revisionsverfahrens die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1986 und 1987 in bestimmten - nicht streitbefangenen - Teilen gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) für vorläufig erklärt. Die Kläger haben die so geänderten Bescheide in das Klageverfahren übergeleitet.
Entscheidungsgründe
A. Der Senat hat es für zweckmäßig gehalten, die Verfahren I R 95/90 und I R 96/90 zur gemeinsamen Entscheidung miteinander zu verbinden (§ 121, § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO).
B. Die Revisionen sind zulässig. Sie sind insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Kläger erklärten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revisionen in einem beim FG eingegangenen Schriftsatz, die schon am 20. Juni 1990 eingelegten Revisionen fortführen und dahin erweitern zu wollen, daß in jeweils einem Verfahren über die damals und nunmehr gerügten Verfahrensfehler sowie über die materielle Richtigkeit der Urteile entschieden werden soll. In dieser Erklärung liegt eine die Form und die Frist des § 120 FGO wahrende ,,Einlegung" einer Revision, die es rechtfertigt, das ursprünglich in Gang gesetzte und nunmehr erweiterte Verfahren als eine einzige Revision zu behandeln, über die einheitlich zu entscheiden ist. Dies entspricht nicht nur dem Inhalt der abgegebenen Erklärung, sondern auch dem Grundsatz, daß die sog. Zulässigkeitsvoraussetzungen erst im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen müssen. Es bestehen insoweit keine Bedenken gegen die Annahme, daß eine ursprünglich unzulässige Revision in die Zulässigkeit hineinwächst. Das Hineinwachsen setzt lediglich eine den Anforderungen des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO genügende Einlegung der Revision voraus. Die fristgerecht abgegebene Erklärung der Kläger vom 17. Juli 1991 genügt jedoch diesen Anforderungen.
Das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 12. April 1991 III R 181/90 (BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638) steht der hier getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Zwar hat danach die Stattgabe einer Nichtzulassungsbeschwerde keine Auswirkungen auf eine zuvor in der Sache unzulässigerweise erhobene Revision. Dies berührt jedoch nicht die hier zu entscheidende Rechtsfrage, ob eine ursprünglich unzulässige Revision dadurch in die Zulässigkeit hineinwachsen kann, daß der Revisionskläger fristgerecht nach der Stattgabe seiner Nichtzulassungsbeschwerde erklärt, die Revision fortführen und auf weitere Rechtsverletzungen stützen zu wollen.
C. Die Revisionen sind auch begründet. Sie führen zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Die Kläger haben ihre Revisionen mit einem Verfahrensfehler begründet, der dem FG unterlaufen ist. Der Verfahrensfehler liegt darin, daß das FG am 23. Februar 1990 Sachentscheidungen traf, obwohl es verpflichtet war, die Klageverfahren bis zur Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1176/88 auszusetzen. Der Verfahrensfehler zwingt zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG.
a) Ein Verfahrensfehler i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist ein Fehler, den das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht, sofern durch diese falsche Behandlung der materielle Inhalt seiner Entscheidung beeinflußt sein kann. In diesem Sinne stellt es nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. Urteil des BFH vom 12. November 1985 IX R 85/82, BFHE 145, 308, BStBl II 1986, 239, m. w. N.) einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens (= Verfahrensfehler) dar, wenn ein FG eine Sachentscheidung trifft, obwohl es das Klageverfahren gemäß § 74 FGO hätte aussetzen müssen. Zwar machen die Kläger auch geltend, das FG habe alternativ mit der Terminierung der Sache abwarten und die Verfahren auf diese Weise faktisch ruhen lassen können. Diese alternative Möglichkeit verändert jedoch die Annahme eines Verfahrensfehlers in ihrem Kern nicht. Dieser bestand darin, daß das FG Sachentscheidungen zu einem Zeitpunkt fällte, zu dem ihnen noch ein Hindernis entgegenstand.
b) Zwar ist die Entscheidung, das Klageverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen, eine Ermessensentscheidung des FG. Ausnahmsweise können aber die besonderen Umstände des Einzelfalles das FG zu einer Aussetzung des Verfahrens zwingen. Waren dem FG im Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Aussetzung des Verfahrens sprechenden Umstände bekannt und nahm es dennoch einen Ermessensspielraum an, der in Wirklichkeit nicht bestand, so beruht die Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens auf Ermessensfehlgebrauch. Sie ist rechtswidrig und als solche ein Verfahrensfehler.
aa) Nach § 74 FGO kann das FG, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde ausgesetzt wird. Zu dieser Vorschrift hat der erkennende Senat wiederholt die Auffassung vertreten (vgl. BFH-Urteil vom 18. Juli 1990 I R 12/90, BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986, m. w. N.), die vorgreifliche Entscheidung bzw. Feststellung müsse für das auszusetzende Verfahren nicht bindend sein. Es genüge, daß das andere Verfahren irgendwie rechtlichen Einfluß auf das auszusetzende Verfahren nehme. Demgegenüber vertreten der III. Senat (vgl. Beschluß vom 7. Oktober 1977 III B 8/77, Der Steuerberater - StB - 1979, 38; Urteil vom 8. Juni 1990 III R 41/90, BFHE 161, 1, BStBl II 1990, 944) und der VI. Senat des BFH (vgl. Beschluß vom 21. August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43) einschränkend die Auffassung, ein sog. Musterprozeß sei kein vorgreifliches Rechtsverhältnis i. S. des § 74 FGO. Die Entscheidung in dem anhängigen Verfahren müsse dasselbe Rechtsverhältnis betreffen oder rechtslogisch vom Bestehen oder Nichtbestehen des in dem anderen Verfahren anhängigen Rechtsverhältnisses abhängen. Es kann unentschieden bleiben, ob die genannten Entscheidungen miteinander in Einklang stehen. Im Streitfall besteht die Besonderheit darin, daß der ,,Musterprozeß" in einer Verfassungsbeschwerde besteht, die beim BVerfG anhängig ist. Die Entscheidung des BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde hat jedenfalls dann Gesetzeskraft, wenn das BVerfG - wie in dem Verfahren 1 BvR 1176/88 angestrebt - ein Gesetz als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt (§ 31 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 13 Nr. 8 Buchst. a des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - BVerfGG -). Ist eine entsprechende Entscheidung des BVerfG ergangen, bindet sie auch das FG bei seiner Entscheidung über den Streitfall (vgl. Maunz / Schmidt / Bleibtreu / Klein / Ulsamer, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, § 31 Rdnr. 28 ff.). In diesem Sinne betrifft die vom BVerfG in dem Verfahren 1 BvR 1176/88 zu treffende Entscheidung auch das Rechtsverhältnis, über das im Streitfall zu entscheiden ist. Die vom BVerfG zu treffende Entscheidung hat damit rechtslogisch unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidung über den Streitfall, solange diese noch nicht unanfechtbar und der angegriffene Steuerbescheid noch nicht vollzogen ist (§ 95 i. V. m. § 79 Abs. 2 BVerfGG). Folglich hätte das FG das bei ihm anhängige Klageverfahren aussetzen können.
bb) Die Möglichkeit, das Klageverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen, bedeutet für sich genommen allerdings noch nicht die Verpflichtung des FG, entsprechend zu verfahren. Grundsätzlich kann das FG, das seine Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG verneint, die Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß erlassenen Gesetzes vermuten (vgl. BFH-Urteil vom 13. Januar 1966 IV 324/65, BFHE 84, 548, BStBl III 1966, 199; vom 14. November 1989 IX R 197/84, BFHE 158, 546, BStBl II 1990, 299). Auch kann die eingelegte Verfassungsbeschwerde nach Auffassung des FG offensichtlich unbegründet sein und ausschließlich der Prozeßverschleppung dienen. Schließlich können sachliche Gründe dafür sprechen, einen weiteren ,,Musterprozeß" an das BVerfG heranzutragen, um auf diese Weise die in tatsächlicher Hinsicht unterschiedlich gelagerte Problematik zu verdeutlichen.
Der Streitfall ist jedoch anders gelagert. Das FG hat die Klagen der Kläger nicht ausdrücklich als offensichtlich unbegründet angesehen. Eine solche Wertung läßt sich weder den Entscheidungsgründen noch der Bezugnahme auf das BFH-Urteil vom 29. April 1988 VI R 74/86 (BFHE 153, 363, BStBl II 1988, 674) entnehmen. Vor allem aber handelt es sich bei dem Streitfall um eines von zahlreichen Parallelverfahren (Massenverfahren), die in tatsächlicher Hinsicht praktisch gleichgelagert sind. Die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1176/88 wird als Musterprozeß geführt. Das Herantragen der übrigen Parallelverfahren an das BVerfG macht nicht zuletzt mit Rücksicht auf § 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BVerfGG keinen Sinn. Das Vorgehen des FG bedeutet deshalb, daß alle Kläger in den entschiedenen Parallelverfahren gezwungen werden, ihrerseits gegen die jeweilige Entscheidung des FG Rechtsbehelf bzw. Verfassungsbeschwerde einzulegen. Im Ergebnis werden damit der BFH bzw. das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Verfahren ,,überschwemmt", ohne daß dies der Klärung des vorgreiflichen Rechtsproblems dient. Die Vorgehensweise des FG löst eine Belastung des BFH bzw. des BVerfG aus, die nicht im Interesse des Rechtsfriedens liegen kann und zu Lasten anderer Verfahren geht, deren Entscheidung vernünftigerweise vorrangig ist. Im Interesse der Prozeßökonomie und der Prozeßersparnis ist es gerade der Sinn des § 74 FGO, dem Gericht die Möglichkeit an die Hand zu geben, die rechtslogisch vorgreifliche und anderweitig zu treffende Entscheidung abzuwarten. Dann aber muß das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wenn die Vielzahl der andernfalls zu erwartenden Rechtsbehelfe für und praktisch kein vernünftiger Gesichtspunkt gegen die Aussetzung des Verfahrens spricht.
cc) Im Streitfall sprach für die Aussetzung der Verfahren durch das FG auch die Tatsache, daß sie noch in den mündlichen Verhandlungen von den Klägern sinngemäß beantragt wurde. Zwar widersprach das FA der Verfahrensaussetzung. Auf dessen Widerspruch kam es jedoch nicht an, weil schützenswerte Interessen des FA nicht zu erkennen waren.
dd) Die Aussetzung des Verfahrens bedeutet auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung (Chancengleichheit). Dieser Grundsatz ist solange nicht verletzt, als die Kläger nur erhalten, worauf sie materiell-rechtlich einen Anspruch haben. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, daß das FA die angefochtenen Einkommensteuerbescheide in dem Streitpunkt gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 hätte für vorläufig erklären können und sollen. Dann wäre die Änderungsmöglichkeit von vornherein auf den eigentlichen Streitpunkt beschränkt worden. Wenn das FA dieser Verpflichtung nicht nachkam, so ist es nicht die Aufgabe des FG, die Aussetzung des Verfahrens unter Berufung auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu versagen. Es hätte allenfalls die Vorläufigkeitserklärung durch das FA anregen oder in geeigneten Fällen gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO verfahren können. Auch die Beschäftigungslage rechtfertigt die Nichtaussetzung des Verfahrens jedenfalls solange nicht, als bei dem Senat des FG tatsächlich noch genügend Fälle zur Entscheidung anstehen.
2. Unbeschadet des durchgreifenden Verfahrensfehlers wären die Revisionen allerdings dann unbegründet, wenn trotz des Verfahrensfehlers die im Tenor der angefochtenen Urteile ausgesprochenen Entscheidungen aus anderen Gründen, d. h. im Ergebnis, richtig wären (§ 126 Abs. 4 FGO). Dies ist jedoch nicht der Fall, weil eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1176/88 bis heute nicht bekanntgeworden ist. Die Gründe für eine Aussetzung der Verfahren bestehen deshalb unverändert fort. Die Aussetzung der Klageverfahren anzuordnen ist jedoch Sache des FG. Deshalb waren die Vorentscheidungen aufzuheben. Die Sachen waren an das FG zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 418066 |
BFH/NV 1992, 326 |