Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermessensfehler bei der Zurückweisung verspäteten Vorbringens
Leitsatz (amtlich)
Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens ist ermessensfehlerhaft, wenn das FG bei rechtzeitiger und sachgerechter Vorbereitung der mündlichen Verhandlung in der Lage gewesen wäre, die verspätet geltend gemachten Tatsachen und Beweismittel in der Verhandlung zu berücksichtigen.
Normenkette
FGO § 79b Abs. 1, 3
Verfahrensgang
FG Baden-Württemberg (EFG 1999, 756; Lexinform-Nr. 0146193) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für die Streitjahre (1982 bis 1985) mit ihrem Ehemann zusammen zur Einkommensteuer zu veranlagen ist.
Die Klägerin und ihr Ehemann sind deutsche Staatsangehörige. Sie hatten in den Streitjahren zusammen mit ihren Kindern einen Wohnsitz in Irland. Ferner verfügte die Klägerin über eine 50,73 qm große Wohnung in I. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass diese Wohnung als inländischer Wohnsitz der Klägerin anzusehen ist. Streit herrscht hingegen darüber, ob die genannte Wohnung zugleich Wohnsitz des Ehemannes der Klägerin war.
In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre beantragten die Klägerin und ihr Ehemann jeweils eine Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) erließ entsprechende Einkommensteuerbescheide, gegen die die Klägerin jeweils Einspruch einlegte. Im weiteren Verlauf kam er indessen zu dem Schluss, dass zwar die Klägerin, nicht jedoch deren Ehemann in den Streitjahren den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe. Er erließ deshalb für alle Streitjahre Einkommensteuerbescheide, in denen er die Klägerin als unbeschränkt Steuerpflichtige einzeln zur Einkommensteuer veranlagte. Diese Bescheide sind Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
Im Verlauf der erstinstanzlichen Klageverfahren setzte das Finanzgericht (FG) der Klägerin mit Schreiben vom 13. Oktober 1993 gemäß § 79b Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eine Frist von einem Monat zur Darlegung ihrer Beschwer. Innerhalb der Frist machte die Klägerin geltend, dass die angefochtenen Bescheide nach Ablauf der Festsetzungsfristen ergangen seien. Nach Ablauf der Frist hat sie darüber hinaus vorgetragen, sie habe als Ernährerin der Familie den Wohnsitz bestimmt. Zudem habe ihr Ehemann, wenn er sich in Deutschland aufgehalten habe, zusammen mit ihr in der Wohnung in I gewohnt. Hierzu benannte sie mit Schriftsätzen vom 16. August 1994, vom 22. September 1995, vom 12. Oktober 1995 und vom 23. Oktober 1995 mehrere Zeugen. Das FG wies mit Urteilen vom 11. November 1997 die Klagen ohne vorherige Beweiserhebung ab und führte hierzu aus, das Beweisangebot der Klägerin werde zurückgewiesen, da die Klägerin die ihr gesetzte Ausschlussfrist versäumt habe und eine weitere Beweiserhebung den Abschluss der Verfahren verzögern würde (s. Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1999, 756).
Mit ihren Revisionen rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie beantragt sinngemäß, das FG-Urteil, die angefochtenen Steuerbescheide und die Einspruchsentscheidungen aufzuheben. Hilfsweise stellt sie ―ebenfalls sinngemäß― den Antrag, die angefochtenen Bescheide nach Maßgabe der abgegebenen Steuererklärungen zu ändern.
Das FA beantragt sinngemäß, die Revisionen zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revisionsverfahren I R 52/99 bis I R 55/99 werden gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 121 Satz 1 FGO zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden. Die Revisionen sind begründet; sie führen zur Aufhebung der erstinstanzlichen Urteile und zur Zurückverweisung des Verfahrens an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG hätte die von der Klägerin angebotenen Beweismittel nicht zurückweisen dürfen:
1. Nach § 79b Abs. 1 Satz 1 FGO kann im finanzgerichtlichen Verfahren der Vorsitzende oder der Berichterstatter dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt. Von dieser Möglichkeit hat das FG im Streitfall Gebrauch gemacht. Daraufhin hat die Klägerin zwar innerhalb der gesetzten Frist auf den ihrer Ansicht nach eingetretenen Ablauf der Festsetzungsfristen hingewiesen. Ihr weiterer Vortrag, dass ihr Ehemann in den Streitjahren ebenfalls die inländische Wohnung genutzt habe, ist jedoch erst nach Ablauf der Frist erfolgt. Ebenso sind die hierzu angebotenen Beweismittel erst nach dem Ablauf der Frist benannt worden. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
2. Werden Tatsachen und Beweismittel erst nach Ablauf einer nach § 79b Abs. 1 FGO gesetzten Frist vorgebracht, so kann das FG sie unter bestimmten Voraussetzungen zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden (§ 79b Abs. 3 FGO). Ob es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, muss es nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden (Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 79b FGO Rz. 164; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 79b FGO Tz. 6). Insoweit gilt für die Versäumung einer vom FG gesetzten Frist nichts anderes als in denjenigen Fällen, in denen der Kläger eine Frist versäumt hat, die ihm das FA gemäß § 364b der Abgabenordnung (AO 1977) gesetzt hatte.
Für den letztgenannten Fall hat der Bundesfinanzhof (BFH) wiederholt entschieden, dass die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens ermessensfehlerhaft sein kann, wenn trotz der eingetretenen Verspätung eine Verzögerung des Rechtsstreits durch eine rechtzeitige und sachgerechte Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hätte vermieden werden können (BFH-Urteile vom 9. September 1998 I R 31/98, BFHE 186, 511, BStBl II 1999, 26; vom 10. Juni 1999 IV R 23/98, BFHE 189, 3, BStBl II 1999, 664). Diese Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass der Einsatz der gesetzlich vorgesehenen Präklusionsmöglichkeit nicht gerechtfertigt ist, wenn die Gefahr der Verzögerung in gleicher Weise auf das Verhalten des Gerichts wie auf dasjenige des Klägers zurückgeht. Das ist dann der Fall, wenn das FG bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Prozessförderungspflicht die verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel ohne weiteres in der mündlichen Verhandlung hätte berücksichtigen können. In einem solchen Fall mag eine Zurückweisung gerechtfertigt sein, wenn hierfür besondere Gründe vorliegen. Es wäre jedoch mit dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht auf Gehör nicht vereinbar, wenn das Gericht eine von ihm selbst (mit-)bewirkte Verzögerungsgefahr generell und ohne weitere Voraussetzungen zum Anlass nehmen könnte, den Bürger mit seinem Vortrag auszuschließen. Dieselbe Überlegung greift im Zusammenhang mit der Fristsetzung nach § 79b Abs. 1 FGO, auf die die zu § 364b AO 1977 geltenden Grundsätze deshalb übertragen werden können (ebenso Buciek, Deutsche Steuer-Zeitung ―DStZ― 1999, 150).
3. Im Streitfall hat die mündliche Verhandlung, aufgrund derer die angefochtenen Urteile ergangen sind, am 11. November 1997 stattgefunden. Demgegenüber ist der Vortrag der Klägerin zum Wohnsitz ihres Ehemannes bereits in der Zeit von August 1994 bis Oktober 1995 erfolgt; schon damals hat die Klägerin außerdem Zeugen für die Richtigkeit dieses Vortrags benannt. Das FG hatte mithin mehrere Jahre Zeit, die Erheblichkeit des nachgereichten Vortrags zu prüfen und gegebenenfalls die benannten Zeugen zu laden. Es war im Rahmen seiner Prozessförderungspflicht gehalten, diese Möglichkeit wahrzunehmen. Das ist nicht geschehen, was zur Folge hatte, dass in der mündlichen Verhandlung die Zeugen nicht zur Verfügung standen. Demgemäß war zwar die Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens mit einer Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung verbunden; dies war indessen in erster Linie auf die Untätigkeit des FG im Vorfeld der mündlichen Verhandlung zurückzuführen. Das FG durfte deshalb nicht allein unter Hinweis auf das Drohen der Verzögerung den Vortrag der Klägerin zurückweisen. Besondere Umstände, die ausnahmsweise trotz des zeitlichen Abstands zwischen verspätetem Vorbringen und mündlicher Verhandlung eine Zurückweisung rechtfertigen könnten, lassen sich den Urteilen des FG nicht entnehmen.
Vor diesem Hintergrund bietet der Streitfall keine Veranlassung, abschließend zu der Frage Stellung zu nehmen, inwieweit die durch § 79b Abs. 3 FGO geforderte Ermessensentscheidung des FG im Revisionsverfahren überprüft werden kann (vgl. hierzu Lange, DStZ 1999, 176, 177). Die Entscheidung des FG, den Vortrag und die Beweisangebote der Klägerin zurückzuweisen, ist jedenfalls nicht auf hinreichende Gründe gestützt und deshalb ermessensfehlerhaft.
4. Das FG hat ―von seiner Rechtsauffassung aus folgerichtig― die von der Klägerin angebotenen Beweise nicht erhoben. Das kann im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden, weshalb der Rechtsstreit an das FG zurückverwiesen werden muss.
Im zweiten Rechtsgang wird das FG erneut über die Frage der Zurückweisung entscheiden und gegebenenfalls die von der Klägerin angebotenen Beweise erheben müssen. Außerdem wird zu prüfen sein, ob der Ehemann der Klägerin zum Klageverfahren beizuladen ist (§ 60 Abs. 3 FGO). Hierzu weist der Senat ―ohne Bindungswirkung für das FG― darauf hin, dass nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Beiladung des nicht am Verfahren beteiligten Ehegatten regelmäßig erforderlich ist, wenn über die Frage der Einzel- oder Zusammenveranlagung gestritten wird. Eine Ausnahme von dieser Regel gilt allerdings dann, wenn der betreffende Ehegatte keine nennenswerten Einkünfte erzielt hat und deshalb unter keinem denkbaren Aspekt vom Ausgang des Verfahrens betroffen ist (Brandt in Beermann, a.a.O., § 60 FGO Rz. 140, m.w.N.).
5. Den weitergehenden Anträgen der Klägerin, die angefochtenen Bescheide und Einspruchsentscheidungen aufzuheben oder die Bescheide nach Maßgabe der Steuererklärungen abzuändern, kann nicht entsprochen werden. Der Senat ist an einer Sachentscheidung schon deshalb gehindert, weil zunächst über die Notwendigkeit einer Beiladung des Ehemannes der Klägerin entschieden werden muss: Wäre diese erforderlich, so würde sich ihre Unterlassung als Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens darstellen, die zur Zurückverweisung des Rechtsstreits ohne materiell-rechtliche Prüfung zwingen würde (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 60 Rz. 111, m.w.N.). Dann aber kann es nicht anders sein, wenn die Möglichkeit eines Beiladungserfordernisses ernsthaft im Raum steht, dieses Erfordernis aber seinerseits von dem Ergebnis tatsächlicher Feststellungen des FG abhängt. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob eine Entscheidung in der Sache sich auch deshalb verbietet, weil der Erfolg einer Verfahrensrüge generell zur Zurückverweisung an die Tatsacheninstanz führen muss (vgl. Senatsurteil vom 17. Oktober 1990 I R 118/88, BFHE 162, 534, BStBl II 1991, 242, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 425422 |
BFH/NV 2000, 1042 |
BStBl II 2000, 354 |
BFHE 191, 207 |
BFHE 2001, 207 |
BB 2000, 1284 |
DStR 2000, 1089 |
DStRE 2000, 776 |
HFR 2000, 664 |
StE 2000, 370 |