Leitsatz (amtlich)
Gegen die mit der Entscheidung über den Einspruch gegen einen vorläufigen Steuerbescheid verbundene Endgültigkeitserklärung ist die Klage zum Finanzgericht gegeben (Abweichung von dem BFH-Beschluß vom 3. November 1972 III B 21/72, BFHE 107, 484, BStBl II 1973, 227).
Normenkette
AO §§ 225, 229 Nr. 1; FGO § 40 Abs. 1, § 44
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte am 28. Mai 1964 gegen den vorläufigen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1960 Einspruch eingelegt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) wies den Rechtsbehelf als unbegründet zurück und erklärte die Veranlagung in der Einspruchsentscheidung vom 16. September 1964 für endgültig. Nach der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung war die Entscheidung im Wege der Berufung anfechtbar. Die Einspruchsentscheidung wurde am 21. September 1964 dem für die Entgegennahme von zustellungsbedürftigen Schriftstücken beauftragten Bediensteten der Landesstrafanstalt ... übergeben, wo der Kläger seinerzeit eine mehrjährige Freiheitsstrafe verbüßte. Die Aushändigung des Schriftstücks an den Kläger scheiterte daran, daß dieser die Annahme verweigerte.
Der am 18. Oktober 1965 von dem Kläger beauftragte Steuerbevollmächtigte R beantragte am 29. November 1965 unter Bezugnahme auf die "Steuerbescheide für die Kalenderjahre 1957-1960" Nachsicht (§§ 86, 87 AO); die im gleichen Schreiben in Aussicht gestellte Begründung dieses Antrages ging am 16. April 1966 beim FA ein; am 30. Juli 1966 erhob der Steuerbevollmächtigte "Einspruch gegen alle Steuerbescheide von 1957 bis 1960". Das FA hielt den die Einkommensteuer für das Jahr 1960 betreffenden Einspruch nicht für statthaft und verwarf ihn mit Entscheidung vom 13. Juni 1969 als unzulässig.
Das FG wies die am 14. Juli 1969 eingelegte Klage aus denselben Gründen als unzulässig ab. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, der beantragt, das Urteil des FG und die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das FG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
1. Soweit die Klage gegen die Endgültigkeitserklärung vom 16. September 1964 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13. Juni 1969 gerichtet war, konnte sie keinen Erfolg haben, da der Einspruch vom 30. Juli 1966 nicht statthaft und damit unzulässig gewesen war.
Es ist in der Rechtsprechung und im Schrifttum umstritten, wie eine mit der Entscheidung über den Einspruch gegen einen vorläufigen Steuerbescheid zusammengefaßte Endgültigkeitserklärung dieses Steuerbescheides anzufechten ist. Nach Auffassung des III. Senats des BFH besteht eine derartige Entscheidung des FA aus zwei Verfügungen; gegen den für endgültig erklärten Steuerbescheid sei der Einspruch, gegen die Einspruchsentscheidung die Klage gegeben (Beschluß vom 3. November 1972 III B 21/72, BFHE 107, 484, BStBl II 1973, 227). Dieser Beschluß ist im Schrifttum auf Kritik gestoßen (Fichtelmann, FR 1973, 446; Gräber, DStR 1974, 131; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Anm. 3 zu § 225 AO). Der IV. Senat des BFH hat in seinem - nicht veröffentlichten - Beschluß vom 6. Dezember 1973 IV B 14-15/73 ebenfalls Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung geäußert. Der erkennende Senat teilt diese Bedenken. Er sieht die Entscheidung des FA als eine einheitliche an, die nur mit dem Rechtsmittel der Klage anfechtbar ist. Der III. Senat hat sich dieser Auffassung angeschlossen, so daß sich eine Anrufung des Großen Senats erübrigt.
Es ist richtig, daß der für endgültig erklärte Steuerbescheid grundsätzlich auch dann mit dem Einspruch (§ 229 Nr. 1 AO) anzufechten ist, wenn bereits ein Rechtsbehelfsverfahren zu dem vorläufigen Steuerbescheid durchgeführt und abgeschlossen worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 19. August 1969 VI R 261/67, BFHE 96, 458, BStBl II 1970, 11). Daraus kann jedoch nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, daß beide Steuerbescheide nebeneinander existieren und angefochten werden könnten. Da beide Bescheide den gleichen materiellen Regelungsinhalt haben, entfällt die Möglichkeit der Durchführung zweier parallel laufender Rechtsbehelfsverfahren (Gräber, a. a. O., 133). Welche prozessualen Auswirkungen die Anfechtung des für endgültig erklärten Bescheides auf das Verfahren über den vorläufigen Bescheid besitzt, insbesondere ob die zur Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO im Beschluß des Großen Senats des BFH vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72 (BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231) entwickelten Grundsätze auf diesen Fall übertragen werden können, braucht im Streitfall nicht entschieden zu werden. Wenn das FA die Endgültigkeitserklärung mit der Einspruchsentscheidung verbindet, so besteht kein Anlaß, diese einheitliche Entscheidung wieder zu zerlegen. Ebenso wie die Einspruchsbehörde berechtigt ist, in der Einspruchsentscheidung die im angefochtenen Bescheid enthaltene Verfügung zum Nachteil des Einspruchsführers abzuändern (§ 248 Abs. 1 Satz 2 AO), muß sie auch befugt sein, in der Einspruchsentscheidung und durch diese einen vorläufigen Bescheid gemäß § 225 AO für endgültig zu erklären. Als unselbständiger Teil der Einspruchsentscheidung ist die Endgültigkeitserklärung nur mit dieser zusammen anfechtbar. Das abgeschlossene Einspruchsverfahren ist damit Vorverfahren i. S. von § 44 Abs. 1 FGO.
2. Die Klage gegen den vorläufigen Steuerbescheid in Form der Einspruchsentscheidung vom 16. September 1964 hat das FG wegen Versäumung der Klagefrist zu Recht als unzulässig abgewiesen (§ 47 Abs. 1 FGO).
a) Aus den Akten ist ersichtlich, daß der Umschlag, in dem diese Einspruchsentscheidung zusammen mit anderen Schriftstücken zugestellt werden sollte, entgegen der Vorschrift des § 3 Abs. 1 Satz 2 des VwZG nicht mit einer Geschäftsnummer versehen war. Die Zustellung war damit unwirksam (BFH-Beschluß vom 10. November 1971 I B 32/71, BFHE 103, 454, BStBl II 1972, 127). Das Revisionsgericht hat diesen Verfahrensverstoß von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl. BFH-Urteil vom 9. September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9).
b) Die Unwirksamkeit der Zustellung nach § 3 VwZG hat nicht zur Folge, daß die Einspruchsentscheidung selbst rechtsunwirksam wäre, Sie führt nur dazu, daß der Lauf der Klagefrist nicht beginnt (BFH-Urteil I R 113/69). Insoweit hat der Kläger jedoch sein Anfechtungsrecht verwirkt (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs vom 7. November 1957 IV 155/56 U, BFHE 66, 118, BStBl III 1958, 46, und vom 14. Juni 1972 II 149/65, BFHE 106, 134; Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 1972 2 BvR 255/67, BVerfGE 32, 305, BStBl II 1972, 306).
Als Zeitpunkt der prozessualen Verwirkung wird in der Rechtsprechung regelmäßig der Ablauf eines Jahres angenommen. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Unstreitig ist die Einspruchsentscheidung dem Kläger im September 1964 zugegangen. Das Anlaufen der Jahresfrist hängt nicht davon ab, ob der Kläger das Schreiben angenommen, geöffnet und gelesen hat. Das Recht zur Einlegung der Berufung konnte daher nur bis September 1965 ausgeübt werden, so daß dahingestellt bleiben kann, ob bereits der Einspruch vom 30. Juli 1966 insoweit als Klage zum FG zu verstehen gewesen wäre. Es sind keine Umstände ersichtlich, die die Untätigkeit über diesen Zeitpunkt hinaus rechtfertigen würden.
Fundstellen
Haufe-Index 71425 |
BStBl II 1975, 592 |
BFHE 1975, 170 |