Leitsatz (amtlich)
Der Kläger kann die Hauptsache nicht für erledigt erklären, wenn sich ein Verwaltungsakt vor Klageerhebung erledigt hat.
Normenkette
FGO § 138 Abs. 1, § 100 Abs. 1 S. 4
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) hatte anläßlich der Einkommensteuerveranlagung der Kläger für das Jahr 1970 die vierteljährlichen Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer- und Ergänzungsabgabeschuld für die Zeit ab 10. Dezember 1972 neu festgesetzt. Gegen den Bescheid vom 4. September 1972 legte der - durch eine schriftliche Vollmacht ausgewiesene - Bevollmächtigte der Kläger mit Schreiben vom 16. September 1972 hinsichtlich der Festsetzung der Einkommensteuer Einspruch und hinsichtlich der Festsetzung der Vorauszahlungen Beschwerde ein.
Im Rahmen einer weiteren, wegen des voraussichtlichen Betriebsergebnisses des Jahres 1972 gegen die Festsetzung des Meßbetrages für Zwecke der Gewerbesteuervorauszahlungen gerichteten Beschwerde vom 27. Februar 1973 stellte der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 22. März 1973 u. a. auch den Antrag, die Einkommensteuervorauszahlungen ab 1972 auf 0 DM herabzusetzen. Das FA gab diesem Antrag mit Vorauszahlungsbescheid vom 18. April 1973 statt. Der Bescheid enthielt den Hinweis, daß "damit der Antrag vom 27. Februar 1973 erledigt" sei. Er wurde dem Kläger unmittelbar zugesandt, eine von diesem angefertigte Fotokopie des Bescheides ging dem Bevollmächtigten am 5. Mai 1973 zu.
Mit Schreiben vom 6. September 1973 erhoben die Kläger Untätigkeitsklage. Sie waren der Ansicht, daß über die Beschwerde vom 16. September 1972 noch zu entscheiden sei. Der Vorauszahlungsbescheid vom 18. April 1973 beruhe auf dem Antrag vom 27. Februar 1973; er könne sich täglich ändern. Er sei auch nicht ordnungsmäßig zugestellt. Vor allem aber habe er ihrem Begehren nicht vollständig Rechnung getragen. Die Beschwerde habe auch verhindern sollen, daß Säumniszuschläge erhoben werden. Tatsächlich seien die Kläger aber bis zum 15. November 1973 laufend mit Säumniszuschlägen belastet worden, die auf den fälliggestellten Vorauszahlungen beruhten. Mit Schreiben vom 2. November 1973 erklärten die Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt, weil einem von ihnen am 4. Oktober 1973 eingelegten Einspruch stattgegeben und die angefallenen Säumniszuschläge storniert worden seien. Das FA widersprach der Erledigungserklärung und beantragte, die Klage abzuweisen.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab.
Mit der Revision beantragen die Kläger, die Vorentscheidung aufzuheben, die Hauptsache hinsichtlich der Beschwerde vom 16. September 1972 für erledigt zu erklären und die Kosten dem FA aufzuerlegen. Sie beantragen außerdem, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das FG hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen.
I.
Ein wirksamer Erledigungsantrag liegt nicht vor.
1. Die einseitige Erledigungserklärung des Klägers bewirkt, daß der Rechtsstreit auf die Erledigungsfrage beschränkt ist. An die Stelle des durch den ursprünglich gestellten Klageantrag bestimmten Streitgegenstandes tritt der Streit über die Behauptung des Klägers, seinem Klagebegehren sei durch ein die Hauptsache erledigendes Ereignis die Grundlage entzogen worden (vgl. z. B. Urteile des BFH vom 19. Januar 1971 VII R 32/69, BFHE 101, 201, BStBl II 1971, 307, mit weiteren Nachweisen; vom 22. November 1972 I R 135/72, BFHE 108, 7, BStBl II 1973, 189). Diese Grundsätze gelten jedoch nur, wenn die Erledigungserklärung des Klägers als Antrag an das Gericht, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären, wirksam ist. Ein unwirksamer Antrag hat keine prozeßbeendigende Wirkung.
Welche Wirksamkeitsvoraussetzungen im einzelnen vorliegen müssen, wird in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte nicht einheitlich beurteilt. Das gilt insbesondere auch für die Frage, ob ein wirksamer Antrag erfordert, daß die erhobene Klage zulässig ist. Während nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. z. B. Urteil vom 7. November 1968 VII ZR 72/66, NJW 1969, 237, und - für die Voraussetzungen einer Feststellungsklage - Urteil vom 16. Mai 1962 IV ZR 215/61, BGHZ 37, 137 [142]) die Klage entsprechend dem Antrag des Beklagten stets abzuweisen ist, wenn die Klage ursprünglich unzulässig war, gehen das BVerwG (z. B. Urteil vom 27. Februar 1969 VIII C 37 und 38/67, BVerwGE 31, 318, und - bei fehlendem Rechtsschutzinteresse an einer Anfechtungsklage - Urteil vom 14. Januar 1965 I C 68/61, BVerwGE 20, 146) und das BAG (vgl. z. B. Urteil vom 4. August 1961 2 AZR 482/60, BAGE 11, 251) auf die Zulässigkeit und Begründetheit der ursprünglichen Klage nur noch dann ein, wenn der Beklagte ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis an einem klageabweisenden Urteil dartun kann. Die Frage braucht im Streitfall nicht entschieden zu werden. Der Antrag, die Hauptsache für erledigt zu erklären, ist stets unzulässig, wenn das erledigende Ereignis vor Rechtshängigkeit der Streitsache liegt. Ist ein Kläger schon im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht mehr in seinen Rechten beeinträchtigt, fehlt es nicht nur an einer Voraussetzung für die Entscheidung über die ursprüngliche Klage, sondern auch an einer Voraussetzung für die Entscheidung über den Erledigungsantrag. Eine wirksame Erledigungserklärung erfordert auch nach Ansicht des BVerwG und des BAG, daß der Kläger durch ein Ereignis klaglos gestellt wird, das nach Klageerhebung eingetreten ist. Der Eintritt des erledigenden Ereignisses nach Klageerhebung gehört zum Begriff der Erledigung der Hauptsache (herrschende Meinung vgl. z. B. Göppinger, Die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, 1958, S. 69, 116; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. 1974, S. 114, mit weiteren Nachweisen; v. Wallis/List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Anm. 2; Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl. 1972, § 91 Anm. II 1; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 138 FGO Anm. 5). Hat sich ein Verwaltungsakt bereits vor Klageerhebung durch Zurücknahme oder anders erledigt und hat der Kläger keine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieses Verwaltungsaktes (entsprechend § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO; vgl. z. B. BVerwG-Urteil vom 9. Februar 1967 I C 49/64, BVerwGE 26, 161 [165]), sondern eine Anfechtungsklage erhoben, so muß er die Klage zurücknehmen, wenn er ihre Abweisung vermeiden will.
2. Der Verwaltungsakt war im Zeitpunkt der Klageerhebung bereits erledigt.
a) Das FA hat mit seinem Vorauszahlungsbescheid vom 18. April 1973 - in dem es die Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer- und Ergänzungsabgabeschuld auf 0 DM herabsetzte - nicht nur dem zusätzlich gestellten Antrag vom 27. Februar 1973 entsprochen, sondern auch der Beschwerde vom 16. September 1972 abgeholfen (§ 93 Abs. 1 und 2, § 249 Abs. 1 AO). Die Abhilfe bezieht sich auf die geltend gemachte Beschwer (vgl. z. B. Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl. 1968, § 249 AO Anm. 3 Abs. 1). In diesem Fall bedarf es weder einer förmlichen Beschwerdeentscheidung noch einer gesonderten Abhilfeverfügung.
Dem steht - entgegen der Ansicht der Kläger - nicht entgegen, daß die Herabsetzung der Vorauszahlungen auf 0 DM nicht auch die mit der Anforderung von Säumniszuschlägen verbundene Rechtsbeeinträchtigung aufhebt. Vorauszahlungsbescheid und Anforderungsverfügung sind zu unterscheiden. Der Vorauszahlungsbescheid ist dann erledigt, wenn er als Rechtsgrundlage für die Rechstbeziehungen der Beteiligten wegfällt. Das ist stets der Fall, wenn er aufgehoben wird. Die Folgen dieser Aufhebung für bereits angeforderte Säumniszuschläge (vgl. BFH-Beschluß vom 8. Dezember 1975 GrS 1/75, BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262) können nicht mit einer Anfechtungsklage gegen den Vorauszahlungsbescheid geltend gemacht werden. Verfügungen, mit denen Säumniszuschläge angefordert werden, sind selbständig belastende Verwaltungsakte (vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 22. Oktober 1971 II S 8/71, BFHE 103, 312). Die mit ihnen verbundene Rechtsbeeinträchtigung ist deshalb in einem besonderen Verfahren geltend zu machen.
b) Der Vorauszahlungsbescheid vom 18. April 1973 ist den Klägern gegenüber wirksam geworden. Er war zwar dem durch eine schriftliche Vollmacht ausgewiesenen Bevollmächtigten zuzustellen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 VwZG). Die - gemäß § 211 Abs. 3 AO und § 91 Abs. 1 Satz 3 AO erforderliche - Zustellung des Bescheides unmittelbar an die Kläger entspricht deshalb dem Gesetz nicht (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 1. August 1975 III R 58/74, BFHE 116, 467, BStBl II 1975, 894). Dieser Mangel ist jedoch - auch wenn der Bescheid nicht an den Bevollmächtigten adressiert war (vgl. dazu BFH-Urteil vom 8. Februar 1974 III R 27/73, BFHE 111, 453, BStBl II 1974, 367, mit weiteren Nachweisen) - geheilt. Nach § 9 Abs. 1 VwZG gilt auch ein unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangenes Schriftstück als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Damit ist der mit der Zustellung verfolgte Zweck, den Bescheid bekanntzugeben, erreicht und der Verwaltungsakt wirksam geworden (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 9. September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9; Beschluß vom 3. Oktober 1972 VII B 152/70, BFHE 107, 163, BStBl II 1973, 84 mit weiteren Nachweisen; BGH-Urteil vom 6. April 1972 III ZR 141/70, NJW 1972, 1238; Urteil des BSG vom 29. Juni 1972 II RU 62/70, NJW 1972, 2103). Eine Klage nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist nur bis zu diesem Zeitpunkt zulässig (vgl. BFH-Beschluß vom 25. Mai 1973 VI B 95/72, BFHE 109, 303, BStBl II 1973, 665).
Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, daß dem Bevollmächtigten nicht das vom FA zugestellte Schriftstück, sondern eine Fotokopie zuging. Auch in diesem Fall kann der Bescheid wirksam bekanntgegeben sein. Maßgeblich ist, ob der Richter aus den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles die Überzeugung gewinnt, daß die Fotokopie - als besondere Form der Abschrift (vgl. § 39 des Beurkundungsgesetzes vom 28. August 1969, BGBl I, 1513; BGH-Beschluß vom 27. Mai 1974 VII ZB 5/74, NJW 1974, 1383) - das Original nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt. Das ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn der Adressat, an den versehentlich zugestellt wurde, das Schriftstück zurückbehält und eine vollständige Fotokopie zur Information an seinen Zustellungsbevollmächtigten übermittelt (vgl. z. B. Stein-Jonas, a. a. O., § 187 Anm. II, 1). Das Zustellungsrecht stellt die Erreichung des Formzwecks über den Grundsatz der Formenstrenge (§ 9 Abs. 1 VwZG, § 187 ZPO und allgemein zur Zweckerreichung bei Formmängeln Vollkommer, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit, 1973, S. 18 ff., 24 ff., 361 ff.). Die Zustellung ist nur dann und insoweit unwirksam, als durch den Verstoß gegen die Form die Erreichung des Zwecks selbst vereitelt wird, zu dessen Sicherung die Form geschaffen wurde. Das gilt für die Beurkundung des Beginns der in § 9 Abs. 2 VwZG genannten Fristen, nicht aber für den mit der Zustellung verfolgten Zweck der Bekanntgabe des Schriftstücks. Hinsichtlich dieses Zweckes sind das Original und dessen vollständige Fotokopie gleichwertige Schriftstücke (zur Gleichwertigkeit von Fotokopie und Original vgl. auch BVerwG-Urteile vom 7. November 1973 VI C 124/73, HFR 1974, 174 - Klageschrift -; vom 25. November 1970 IV C 119/68, NJW 1971, 1054 - mechanisch vervielfältigte Berufungsschrift -; BSG-Urteil vom 13. Februar 1964 III RK 94/59, BSGE 20, 154 - Einwilligungserklärung zur Sprungberufung -).
II.
Die Klage war entsprechend dem Antrag des FA abzuweisen. Sie war unzulässig. Auch bei einer Klage ohne Vorverfahren nach § 46 FGO muß der Kläger geltend machen, durch einen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein (§ 40 Abs. 2 FGO; BFH-Urteil vom 21. Oktober 1970 I R 81, 82, 92-94/68, BFHE 100, 295, BStBl II 1971, 30). Die Kläger sind im Streitfall offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise durch den angefochtenen Vorauszahlungsbescheid in ihren Rechten beeinträchtigt.
Fundstellen
Haufe-Index 72007 |
BStBl II 1976, 785 |
BFHE 1977, 219 |