Leitsatz (amtlich)
1. Zwangsläufigkeit aus rechtlichen Gründen i.S. von § 33 Abs.2 EStG ist bei Aufwendungen des Erben zur Erfüllung von Nachlaßverbindlichkeiten regelmäßig nicht anzuerkennen, weil der Erbe die Möglichkeit hat, den Verbindlichkeiten durch Ausschlagung der Erbschaft auszuweichen.
2. Aus sittlichen Gründen erwachsen Aufwendungen zwangsläufig, wenn das Unterlassen der Aufwendungen Sanktionen im sittlich-moralischen Bereich oder auf gesellschaftlicher Ebene zur Folge hätte. Bei der Entscheidung ist auf alle Umstände des Einzelfalles, insbesondere die persönlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten, ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie die konkrete Lebenssituation, bei der Übernahme einer Schuld auch auf den Inhalt des Schuldverhältnisses abzustellen.
3. Zwangsläufigkeit im vorstehenden Sinn kann vorliegen, wenn der Sohn der Erblasserin als Alleinerbe Nachlaßverbindlichkeiten erfüllt, die auf existenziellen Bedürfnissen seiner in Armut verstorbenen Mutter unmittelbar vor oder im Zusammenhang mit deren Tod beruhen.
Normenkette
EStG 1975 § 33 Abs. 2
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind zusammenveranlagte Eheleute, die im Streitjahr 1976 beide als Lehrer Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielten. Als Alleinerbe seiner ohne Vermögen verstorbenen Mutter tilgte der Kläger im Streitjahr Nachlaßverbindlichkeiten im Betrag von insgesamt 5 187 DM. Dieser Betrag setzt sich im wesentlichen zusammen aus Beerdigungskosten, Mietzins, Aufwendungen für die Reinigung und Desinfizierung der Wohnung, Rückzahlung von überzahlter Pension und Rente sowie Zahlungsrückständen für Strom, Gas, Telefon in Höhe von insgesamt 6 887 DM abzüglich Sterbegeld und Beihilfen von 1 700 DM.
Im Verfahren wegen Lohnsteuer-Jahresausgleich für das Streitjahr 1976 anerkannte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) lediglich die Aufwendungen für die Beerdigung (3 088,20 DM) abzüglich des dem Kläger gewährten Sterbegeldes und der Beihilfen von insgesamt 1 700 DM als außergewöhnliche Belastung. Nach Anrechnung der zumutbaren Belastung ergab sich im Ergebnis keine Steuerermäßigung. Wegen der übrigen Aufwendungen lehnte das FA --auch im Einspruchsverfahren-- die Anerkennung mit der Begründung ab, der Kläger sei weder rechtlich noch sittlich zur Annahme der Erbschaft und damit zur Übernahme der Schulden seiner verstorbenen Mutter verpflichtet gewesen.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit der Begründung statt, angesichts seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung habe der Kläger sich aus sittlichen Gründen der Annahme der Erbschaft und damit der Übernahme der Nachlaßverbindlichkeiten nicht entziehen können.
Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt das FA einen Verstoß der Vorentscheidung gegen § 33 Abs.2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
1. Der Abzug von Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung erfordert u.a. die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen (§ 33 Abs.1 i.V.m. Abs.2 Satz 1 EStG). Zwangsläufig erwachsen einem Steuerpflichtigen Aufwendungen, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die vorstehend aufgezählten Gründe der Zwangsläufigkeit von außen auf die Entscheidung des Steuerpflichtigen in einer Weise einwirken, daß er ihnen nicht ausweichen kann (vgl. zuletzt Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18.Juli 1986 III R 178/80, BFHE 147, 171, BStBl II 1986, 745).
2. a) Ob Aufwendungen in Erfüllung von Nachlaßverbindlichkeiten aus rechtlichen Gründen zwangsläufig erwachsen, wird in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beantwortet. Der BFH hat die Zwangsläufigkeit solcher Aufwendungen für den Regelfall mit der Begründung verneint, der Erbe sei zur Annahme der Erbschaft nicht gezwungen, die Schuldübernahme beruhe letztlich auf dem freien Willen des Erben (Urteil vom 27.März 1958 VI 290/57 U, BFHE 67, 44, BStBl III 1958, 290). Dieser Rechtsauffassung folgen im Schrifttum Blümich/Falk (Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 33 Anm.6, Stichwort "Schuldentilgung"); Schmidt/Drenseck (Einkommensteuergesetz, 6.Aufl., § 33 Anm.8, Stichwort "Beerdigung") mit der Maßgabe, daß Zwangsläufigkeit in der Person des Erben ausnahmsweise aus sittlichen Gründen gegeben sein kann (a.a.O., Stichwort "Nachlaßverbindlichkeiten", unter Hinweis auf das Urteil des Niedersächsischen FG vom 14.Oktober 1981 IX 123/79, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1982, 349); Sunder-Plassmann (in Littmann/Bitz/Meincke, Das Einkommensteuerrecht, 14.Aufl., § 33 EStG Anm.104). Die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen in Erfüllung von Nachlaßverbindlichkeiten aus rechtlichen Gründen wird dagegen bejaht von Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach (§ 33 EStG Anm.300, Stichwort "Nachlaßverbindlichkeiten"); vgl. auch Giloy im Betriebs- Berater 1979, 624, 626.
b) Der erkennende Senat folgt im Grundsatz der Auffassung des VI.Senats im Urteil in BFHE 67, 44, BStBl III 1958, 290 und der herrschenden Meinung im Schrifttum. Zwar haftet der Erbe gemäß § 1967 Abs.1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) für die Nachlaßverbindlichkeiten. Gegen die Annahme der Zwangsläufigkeit aus rechtlichen Gründen spricht jedoch, daß der Erbe regelmäßig die Möglichkeit hat, den Nachlaßverbindlichkeiten durch Ausschlagung der Erbschaft auszuweichen. Erst mit der Annahme der Erbschaft setzt der Erbe --ähnlich wie ein Schuldner bei der Begründung eigener Rechtspflichten aufgrund rechtsgeschäftlicher Vereinbarungen-- regelmäßig selbst den Grund für seine Rechtspflicht zur Erfüllung der Schulden des Erblassers (vgl. das Urteil des Senats in BFHE 147, 171, BStBl II 1986, 745). Deshalb scheidet bei den Aufwendungen zur Erfüllung von Nachlaßverbindlichkeiten die Annahme der Zwangsläufigkeit aus, wenn und soweit nicht zu der infolge Verzichts auf Ausschlagung der Erbschaft selbst begründeten Rechtspflicht eine weitere, sich z.B. unmittelbar aus dem Gesetz ergebende rechtliche oder eine sittliche Verpflichtung zur Leistung der Aufwendungen hinzutritt (Senatsentscheidung in BFHE 147, 171, BStBl II 1986, 745).
TEXT3. a) Eine sittliche Verpflichtung zu Aufwendungen ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH anzunehmen, wenn nach dem Urteil der Mehrzahl billig und gerecht denkender Mitbürger ein Steuerpflichtiger sich zu solchen Leistungen für verpflichtet halten kann (BFH-Urteil vom 7.Dezember 1962 VI 115/62 U, BFHE 76, 367, BStBl III 1963, 135, unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 7.August 1959 VI 141/59 S in BFHE 69, 330, BStBl III 1959, 385). Der Senat versteht diese Rechtsprechung dahin, daß darauf abzustellen ist, ob das billigenswerte Durchschnittsempfinden der jeweils in Betracht kommenden Kreise die Aufwendungen fordern würde, ob also die sittliche Pflicht vergleichbar einer rechtlichen Verpflichtung die Aufwendungen verlangt. Dementsprechend setzt nach der Rechtsprechung die Zwangsläufigkeit aus sittlichen Gründen voraus, daß die Sittenordnung das Handeln "erfordert" (BFH-Urteil vom 26.Mai 1971 VI R 271/68, BFHE 102, 389, BStBl II 1971, 628). Infolgedessen ist eine Zwangsläufigkeit nicht schon gegeben, wenn sich der Steuerpflichtige subjektiv verpflichtet fühlt; auch ist nicht jede aus sittlichen Gründen verständliche Unterstützung Dritter zwangsläufig. Vorausgesetzt wird vielmehr, daß der Steuerpflichtige keine Möglichkeit hatte, den Aufwendungen auszuweichen, sich ihnen zu entziehen (BFH-Urteil vom 18.November 1977 VI R 142/75, BFHE 124, 39, BStBl II 1978, 147). In Übereinstimmung hiermit wird im Schrifttum weitgehend die Auffassung vertreten, daß nicht jeder Tatbestand, der zu Aufwendungen für andere aus sittlichen Gründen führt, den von § 33 Abs.2 EStG vorausgesetzten zwingenden Charakter hat. Die sittliche Verpflichtung müsse vielmehr so unabdingbar auftreten, daß sie einer rechtlichen Verpflichtung gleichkommt oder zumindest ähnlich ist. Das sittliche Gebot dürfe nicht nur als innerer Zwang des Gewissens an den Betreffenden herantreten, sondern müsse ähnlich dem Rechtszwang von außen her als eine Forderung oder zumindest Erwartung der Gesellschaft in Erscheinung treten. Dabei müsse die sittliche Verpflichtung des einzelnen von seiner Umgebung als so schwerwiegend betrachtet werden, daß sie ihre Erfüllung als eine selbstverständliche Handlung erwartet und die Mißachtung dieser Erwartung den Ruf des Betreffenden empfindlich beeinträchtigen würde, so daß er dadurch eine Einbuße in seiner gesellschaftlichen Stellung zu befürchten hätte (so Leingärtner, Steuer und Wirtschaft 1956, Sp.815, 819 f., 824). Hieran anknüpfend stellen Schmidt/Drenseck (a.a.O., Anm.5 d) darauf ab, ob die Unterlassung der zu beurteilenden Handlung Nachteile im Sinne von Sanktionen im sittlich-moralischen Bereich oder auf gesellschaftlicher Ebene zur Folge haben kann, ob das Unterlassen also als moralisch anstößig empfunden wird (Schmidt/Drenseck, a.a.O., Anm.5 d; ähnlich auch Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 33 EStG Anm.190). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Bei der Entscheidung, ob das Unterlassen der Aufwendungen Sanktionen im sittlich-moralischen Bereich oder auf gesellschaftlicher Ebene zur Folge hat, ist auf alle Umstände des Einzelfalles abzustellen. Dabei werden vor allem die persönlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten von Bedeutung sein. Diesem Erfordernis trägt auch die Rechtsprechung des BFH Rechnung, wenn sie in der Regel eine sittliche Pflicht des Steuerpflichtigen zur Leistung von Unterhalt gegenüber Angehörigen i.S. des § 15 der Abgabenordnung (AO 1977), die keinen gesetzlichen Unterhaltsanspruch besitzen, bejaht (Urteil vom 25.März 1983 m.w.N.). Daß auch Vermögen und Lebensstellung der Beteiligten zu berücksichtigen sind, folgt für den Senat aus der insoweit gebotenen Gleichbehandlung rechtlicher und sittlicher Unterhaltspflichten. Wenn der gesetzliche Unterhaltsanspruch gegenüber Verwandten nach Grund und Höhe von der Bedürftigkeit und der Lebensstellung des Empfängers (§§ 1602 Abs.1, 1610 Abs.1 BGB) einerseits, andererseits von der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten (§ 1603 Abs.1 BGB) abhängt, so kann für den Unterhaltsanspruch aufgrund sittlicher Verpflichtung grundsätzlich nichts anderes gelten. Bei der Entscheidung, ob eine sittliche Verpflichtung zur Übernahme von Schulden besteht, darf insbesondere auch der Gegenstand des Schuldverhältnisses nicht außer Betracht bleiben. Dies folgt aus den Tatbestandsmerkmalen der Notwendigkeit und Angemessenheit der Aufwendungen (§ 33 Abs.2 EStG).
b) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist die Zwangsläufigkeit aus sittlichen Gründen zu bejahen. Der erkennende Senat folgt der Auffassung der Vorinstanz, daß sich die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen nicht allein aus der Erwägung ablehnen läßt, der Kläger sei als Erbe zur Annahme der Erbschaft nicht gezwungen gewesen. Auf die Rechte und Pflichten des Klägers aus seiner Stellung als Erbe kommt es insoweit nicht maßgebend an. Andererseits kann --entgegen der Ansicht des FG-- für die Annahme der Zwangsläufigkeit auch nicht allein darauf abgestellt werden, ob die Höhe der Nachlaßverbindlichkeiten zur wirtschaftlichen Belastbarkeit des Erben nicht außer Verhältnis steht. Entscheidend ist nach Auffassung des erkennenden Senats die enge persönliche Beziehung zwischen der Erblasserin und dem Kläger als deren einzigen Sohn, der seiner Mutter gegenüber bis zu deren Tode gemäß § 1601 BGB i.V.m. § 1615 Abs.1 BGB unterhaltspflichtig war. Angesichts der guten Einkommensverhältnisse erwuchs nach dem Tode der Mutter des Klägers für diesen die sittliche Verpflichtung, jedenfalls für solche Schulden aufzukommen, die die existenziellen Bedürfnisse seiner Mutter unmittelbar vor oder im Zusammenhang mit deren Tode betrafen.
Dem steht nicht entgegen, daß wegen der in § 33a Abs.1 Satz 1 EStG bezeichneten Aufwendungen eine Steuerermäßigung gemäß § 33 EStG weder anstelle noch über den Rahmen des § 33a Abs.1 EStG hinaus in Anspruch genommen werden kann (§ 33a Abs.5 EStG). Bei der Begleichung der hier streitbefangenen Verbindlichkeiten durch den Kläger handelt es sich --auch soweit diese wie z.B. die Mietzinsen auf die Zeit vor dem Tode der Mutter des Klägers entfallen sein sollten-- nicht (mehr) um eine typische von § 33a Abs.1 EStG erfaßte Unterhaltsgewährung, sondern um die Erfüllung von Schulden seiner Mutter, die infolge deren Todes auf den Kläger übergegangen und --auch insoweit anders als typische Unterhaltsleistungen-- geballt angefallen sind. Deshalb spielen die Höchstbetragsgrenzen, die der Gesetzgeber in die typisierende Vereinfachungsregelung des § 33a Abs.1 EStG aufgenommen hat, bei der Entscheidung des Streitfalles, für den sich eine Beschränkung der Steuerermäßigung durch die Regelungen über die zumutbare Belastung (vgl. § 33 Abs.3 EStG) ergeben kann, keine Rolle (zum Verhältnis von § 33a Abs.1 EStG zu § 33 EStG vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19.Februar 1965 VI 306/64 U, BFHE 82, 102, BStBl III 1965, 285). Es kann daher auch dahinstehen, ob und ggf. in welchem Umfang der Kläger Unterhaltsleistungen i.S. von § 33a Abs.1 EStG zu Lebzeiten seiner Mutter an diese erbracht hat.
4. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, da sie auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruht. Da die Sache nicht spruchreif ist, ist sie an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Dieses wird nunmehr festzustellen haben, in welcher Höhe die geltend gemachten Aufwendungen des Klägers der Begleichung von Schulden dienten, die die existenziellen Bedürfnisse seiner Mutter unmittelbar vor oder im Zusammenhang mit deren Tod betrafen. Hierzu zählen u.a. die Erfüllung der Verbindlichkeiten aus Mietzins, Strom, Gas und Telefon, die Aufwendungen für die Reinigung und Desinfizierung der Wohnung, nicht hingegen die Rückzahlung von Rente und Pension.
Fundstellen
Haufe-Index 61816 |
BStBl II 1987, 715 |
BFHE 150, 351 |
BFHE 1987, 351 |
BB 1987, 2006 |
BB 1987, 2006-2006 (S) |
DB 1987, 2549-2551 (ST) |
DStR 1987, 657-658 (ST) |
HFR 1987, 569-570 (ST) |