Entscheidungsstichwort (Thema)
Schätzung des mutmaßlichen Ergebnisses der ersten 12 Monate des Geschäftsbetriebes gem. § 10 Abs. 4 GewStG-DDR
Leitsatz (amtlich)
Das "mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate des Gewerbebetriebes" gemäß § 10 Abs. 4 GewStG-DDR kann methodisch durch Addition des Gewerbeertrags 1990 und des anteiligen Gewerbeertrags 1991 oder durch Hochrechnung des Gewerbeertrags 1990 geschätzt werden. Es ist grundsätzlich Sache der Finanzgerichte, die für den jeweiligen Streitfall sachgerechte Schätzmethode zu finden.
Orientierungssatz
§ 2 Abs. 2 Satz 3 der Verordnung über die Erhebung der Gewerbesteuer in vereinfachter Form vom 31.3.1943 ist am 8.5.1947 außer Kraft getreten und damit im Bereich der Neuen Bundesländer im Streitjahr 1990 nicht mehr anwendbar (Ausführungen zu Zweck, Entstehung sowie zur Anwendbarkeit der Verordnung im Bereich der ehemaligen "DDR").
Normenkette
GewStG DDR § 10 Abs. 4; GewStVV § 2 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
FG Mecklenburg-Vorpommern |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine GmbH, die nach der Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften vom 1. März 1990 (Gesetzblatt der DDR --GBl DDR-- 1990, 107) aufgrund Gesellschaftsvertrages vom 16. Juni 1990 entstand.
Bei der Schätzung des "mutmaßlichen Ergebnisses der ersten 12 Monate des Geschäftsbetriebes" (§ 10 Abs. 4 des Gewerbesteuergesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 18. September 1970 --GewStG-DDR--, GBl DDR Sonderdruck 672) addierte die Klägerin zu dem im 2. Halbjahr 1990 erwirtschafteten Gewinn die Hälfte des für 1991 errechneten Gewerbeertrags. Dieser Berechnung folgte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) nicht, sondern verdoppelte den Gewerbeertrag des 2. Halbjahres 1990.
Das Finanzgericht (FG) folgte der Berechnung der Klägerin und gab der Klage statt.
Das FA rügt mit der Revision unrichtige Auslegung des § 10 Abs. 4 GewStG-DDR und die Nichtanwendung des § 2 Abs. 2 Satz 3 der Verordnung über die Erhebung der Gewerbesteuer in vereinfachter Form vom 31. März 1943 --GewStVV-- (RGBl 1943, 237 = RStBl 1943, 329) und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage als unbegründet abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Rechtsgrundlage für die Ermittlung des Gewerbeertrages 1990 ist § 10 Abs. 4 GewStG-DDR, das im Streitjahr 1990 noch anzuwenden war (vgl. Art. 8 i.V.m. Anlage I Kapital IV Sachgebiet B Abschn. II Nr. 14 des Einigungsvertrages). Danach ist das mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate des Gewerbebetriebes als Gewerbeertrag anzusetzen, wenn im Laufe des Erhebungszeitraumes ein Gewerbebetrieb neu gegründet oder --wie im Streitfall-- ein bereits bestehender Gewerbebetrieb infolge Wegfalls der Befreiungsgründe gewerbesteuerpflichtig wird. § 2 Abs. 2 Satz 3 GewStVV, der eine Hochrechnung des im ersten Jahre des Bestehens oder der Steuerpflicht erwirtschafteten Gewerbeerträge auf einen Jahresbetrag vorsah, war im Streitjahr 1990 nicht mehr anzuwenden.
Der Senat ist der Auffassung, daß § 2 Abs. 2 Satz 3 GewStVV am 8. Mai 1947 außer Kraft trat. Nach § 15 GewStVV sollte u.a. § 2 der Verordnung mit Ablauf des zweiten Kalenderjahres nach Beendigung des Krieges außer Kraft treten. Da die Vereinfachungsregelung den Zweck verfolgte, Arbeitskräfte einzusparen und für den Kriegseinsatz freizumachen (vgl. Blümich/Boyens/ Steinbring, Gewerbesteuergesetz, 4. Aufl. 1951, Einleitung IV) ist davon auszugehen, daß als "Beendigung des Krieges" das faktische Ende des Zweiten Weltkrieges zu verstehen ist, denn mit dem Waffenstillstand entfiel das Bedürfnis Arbeitskräfte für den Kriegseinsatz freizusetzen.
Zumindest aus der Neubekanntmachung des GewStG-DDR am 18. September 1970 folgt, daß die GewStVV im Streitjahr nicht mehr anzuwenden war. Die Volkskammer der DDR hatte mit Beschluß vom 16. September 1970 (GBl DDR 1970, 361) den Ministerrat der DDR beauftragt, vor dem 8. Mai 1945 ergangene Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Steuern und Abgaben entsprechend den Grundsätzen der Verfassung der DDR unter Beibehaltung der bisher geltenden Steuerregelungen neu zu fassen und bekanntzumachen. Wenngleich dem Ministerrat damit ausdrücklich keine eigenständige materielle Regelungskompetenz zukommen sollte, so war ihm doch von der gesetzgebenden Versammlung der Auftrag erteilt worden, die geltende Rechtslage in Abgaben- und Steuersachen klärend festzustellen. Wenn der Ministerrat in der Neubekanntmachung in § 10 Abs. 4 GewStG-DDR (vgl. Beschluß vom 18. September 1970, GBl DDR 1970, 362) die wortgleiche Regelung des § 10 Abs. 4 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) 1936 übernahm, so kann dies nur dahin verstanden werden, daß die nur als vorübergehend geltende Vereinfachungsregelung des § 2 Abs. 2 Satz 3 GewStVV spätestens mit der Neubekanntmachung nicht mehr gelten sollte. Dem entspricht, daß die GewStVV trotz Ermächtigung des Ministers der Finanzen in II des Ministerratsbeschlusses in GBl DDR 1970, 362 in der Folgezeit nicht mehr neu gefaßt und bekanntgemacht wurde. Aus diesem Grund können auch die Gewerbesteuer-Richtlinien 1943, die noch die GewStVV berücksichtigten, spätestens ab Neufassung des GewStG-DDR nicht mehr zur Gesetzesauslegung herangezogen werden.
2. Die "ersten 12 Monate des Gewerbebetriebes" i.S. des § 10 Abs. 4 GewStG-DDR laufen im Streitfall vom 1. Juli 1990 bis 30. Juni 1991. Der Gewerbeertrag dieses Zeitraums ist zu mutmaßen, d.h. zu schätzen (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs --RFH-- vom 17. Januar 1940 VI 753/39, RFHE 48, 99, RStBl 1940, 514). Die Aufgabe zu schätzen, obliegt den Finanzbehörden und dem FG. Revisionsrechtlich ist eine Schätzung eine Tatsachenfeststellung i.S. des § 118 Abs. 2 FGO. Sie kann daher vom Bundesfinanzhof (BFH) inhaltlich grundsätzlich nur daraufhin überprüft werden, ob anerkannte Schätzungsgrundsätze, Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze beachtet wurden (ständige Rechtsprechung des BFH; s. Nachweise bei Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 118 Rdnr.24; Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 118 FGO Tz.43). Auch die Wahl der Schätzmethode gehört grundsätzlich zur Tatsachenfeststellung (vgl. BFH-Urteil vom 2. Februar 1982 VIII R 65/80, BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409 m.w.N.).
a) Kein Raum für eine Schätzung liegt im Prinzip vor, wenn das tatsächliche Ergebnis der ersten 12 Monate buchhalterisch festliegt. Dies wäre --bezogen auf den Streitfall-- der Fall, wenn neben den Buchführungsunterlagen für den Zeitraum 1. Juli 1990 bis 31. Dezember 1990 auch eine konkrete Gewerbeertragsermittlung für den Zeitraum 1. Januar 1991 bis 30. Juni 1991 vorläge. In diesem Fall ist das konkret ermittelte Ergebnis dem Gewerbeertrag des Jahres, in dem die Gewerbesteuerpflicht begann, anteilig zugrunde zu legen (vgl. RFH in RFHE 48, 99, RStBl 1940, 514; bestätigt durch RFH-Urteil vom 29. April 1942 VI 72/42, RStBl 1942, 563).
Da im Streitfall eine Gewerbeertragsermittlung für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis 30. Juni 1991 nicht vorliegt, ist der Gewerbeertrag der ersten 12 Monate zu schätzen. Hierfür stehen zwei Schätzmethoden zur Auswahl. Entweder kann der tatsächliche Gewerbeertrag des 2. Halbjahres 1990 auf einen Jahresbetrag hochgeschätzt werden, oder der Gewerbeertrag des 1. Halbjahres 1991 wird aus dem Gewerbeertrag des Gesamtjahres 1991 herausgeschätzt und dem Gewerbeertrag des 2. Halbjahres 1990 hinzugerechnet. Beide Schätzmethoden lassen systematisch auf das mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate (gewerbesteuerpflichtiger) gewerblicher Tätigkeit schließen. Sie sind daher im Prinzip beide revisionsrechtlich anzuerkennen, wenn nicht Besonderheiten des Einzelfalles zu Verzerrungen führen würden.
b) Die Schätzung hat auch nicht insoweit gegen Denkgesetze verstoßen, als sie die strukturelle Änderung des Gewerbebetriebs der Klägerin im Laufe des 1. Halbjahres 1991 unberücksichtigt gelassen hat. § 10 Abs. 4 GewStG-DDR stellt auf das mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate der gewerbesteuerpflichtigen Tätigkeit ab. Da der Gewerbeertrag des konkreten Betriebes in diesen 12 Monaten (hier: 1. Juli 1990 bis 30. Juni 1991) maßgeblich sein soll, können tatsächliche strukturelle Veränderungen in diesem Zeitraum nicht unberücksichtigt bleiben. Ein Verstoß gegen Denkgesetze ergäbe sich nur, wenn das mutmaßliche Betriebsergebnis des Veranlagungszeitraumes (hier: 1990) zu schätzen wäre. Das aber sieht § 10 Abs. 4 GewStG-DDR mit der von ihm festgeschriebenen 12-Monats-Frist ab Beginn der Gewerbesteuerpflicht nicht vor.
Fundstellen
Haufe-Index 65723 |
BFH/NV 1996, 42 |
BFH/NV 1996, 42-43 (LT) |
BStBl II 1996, 74 |
BFHE 179, 140 |
BFHE 1996, 140 |
BB 1996, 150 |
BB 1996, 150 (L) |
DStR 1996, 373-374 (KT) |
DStZ 1996, 250 (KT) |
HFR 1996, 202 (L) |
StE 1996, 30 (K) |