Entscheidungsstichwort (Thema)
Unrichtige Sachbehandlung im Vollstreckungsverfahren; Vollstreckungsmaßnahmen nach Ablehnung eines Antrags auf AdV
Leitsatz (amtlich)
1. Von einer unrichtigen Sachbehandlung nach § 346 Abs. 1 AO 1977 ist dann auszugehen, wenn sich die Vollstreckungsmaßnahme unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls im Zeitpunkt ihrer Vornahme durch die Finanzbehörde dadurch als offensichtlich fehlerhaft erweist, dass die rechtlichen Voraussetzungen für ihre Durchführung nicht vorliegen oder dass die Grenzen des der Finanzbehörde zustehenden Ermessens deutlich überschritten worden sind.
2. Nach Ablehnung des Antrages auf AdV ist die Finanzbehörde grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, dem Vollstreckungsschuldner vor Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen eine bis zu sechs Wochen zu bemessende Frist einzuräumen, um ihm damit Gelegenheit zu geben, beim FG einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellen zu können; denn die Rechtsprechung des BFH, nach der sich die Entscheidung über die AdV in den Fällen der Zurückverweisung der Hauptsache zur weiteren Sachaufklärung auf den Zeitraum bis zu sechs Wochen nach der Zustellung des Revisionsurteils erstrecken kann, ist auf den Fall der Ablehnung eines AdV-Antrages durch die Finanzbehörde nicht übertragbar.
Normenkette
AO 1977 § 346 Abs. 1, § 258; FGO § 69 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war zusammen mit seinem Vater (V) und seiner Ehefrau (F) Gesellschafter einer inzwischen insolvent gewordenen GmbH und zeitweise auch deren Geschäftsführer. Aufgrund der im Rahmen einer Außenprüfung gewonnenen Erkenntnisse erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) gegenüber der GmbH geänderte Steuerbescheide, die zu erheblichen Nachzahlungen führten. Da sich die nachgeforderten Beträge bei der GmbH nicht beitreiben ließen, nahm das FA den Kläger mit Bescheid vom 8. Juli 1999 in Haftung und forderte ihn auf, die Haftungssumme binnen einer Woche nach Bekanntgabe des Haftungsbescheides zu entrichten. Dagegen legte der Kläger am 20. Juli 1999 Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Mit Schreiben vom 7. Dezember 1999 teilte das FA dem Kläger mit, dass über seinen Antrag erst nach einer Entscheidung des Finanzgerichts (FG) über den von der GmbH gestellten AdV-Antrag entschieden werde. Nachdem das FG am 10. April 2000 sowohl die gegen die Steuerbescheide gerichtete Klage der GmbH als auch deren Aussetzungsantrag abgewiesen hatte, lehnte das FA mit Bescheid vom 18. August 2000, der am 23. August 2000 beim Bevollmächtigten des Klägers eingegangen ist, den Antrag des Klägers auf AdV unter Hinweis auf das gegen die GmbH ergangene Urteil ab. Noch vor Ablauf der Einspruchsfrist erließ das FA am 12. September 2000 gegenüber einem anderen FA eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung. Am 18. September 2000 legte der Kläger gegen die Ablehnungsverfügung des FA Einspruch ein.
Am 2. Oktober 2000 stellte V hinsichtlich des gegen ihn erlassenen Haftungsbescheides beim FG einen Antrag nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO), der dem FA am 5. Oktober 2000 zugestellt wurde. Am 4. Oktober 2000 hatte das FA erneut eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung, diesmal gegenüber der B-Bank, in die Konten des Klägers erlassen. Daraufhin stellte auch der Kläger am 13. Oktober 2000 einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO, dem das FA unter vorheriger Aufhebung der bereits durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen mit Aussetzungsverfügung vom 24. November 2000 stattgab. Mit Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 2000 setzte das FA die Haftungssumme lediglich geringfügig herab, worauf der Kläger gegen den Haftungsbescheid Klage erhob, die schließlich zur Aufhebung des Haftungsbescheides durch das FG führte. Zuvor hatte das FA gegenüber dem Kläger einen Bescheid über Vollstreckungskosten wegen der beiden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen in Höhe von 4 252 DM erlassen.
Der Einspruch gegen den Kostenbescheid blieb erfolglos. Auf die daraufhin erhobene Klage hob das FG den Kostenbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung mit der Begründung auf, die festgesetzten Kosten beruhten aufgrund einer Vollstreckung zur Unzeit auf einer Überschreitung des dem FA eingeräumten Ermessens und damit auf einer unrichtigen Sachbehandlung i.S. von § 346 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes und dem daraus abgeleiteten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes folge eine Verpflichtung des FA, dem Vollstreckungsschuldner zur Erwirkung vollstreckungshindernder Maßnahmen eine angemessene Frist einzuräumen. Dies gelte auch für den Zeitraum zwischen der Ablehnung eines beim FA gestellten Aussetzungsantrages und einer Antragstellung beim FG nach § 69 Abs. 3 FGO. Für den Regelfall erscheine die im Streitfall dem Kläger zugestandene Frist von drei Wochen zwischen der Absendung der Ablehnungsverfügung und der Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen unter Berücksichtigung der im Streitfall zusätzlich zu beachtenden Gesichtspunkte als zu kurz bemessen. Denn das FA hätte dem Kläger nach Ablehnung des Aussetzungsantrages ausreichende Gelegenheit zur Beschaffung und Überprüfung des in Bezug genommenen Urteils des FG einräumen müssen, zumal sich auch das FA für die Würdigung der finanzgerichtlichen Entscheidung und die Zurückweisung des AdV-Antrages sechs Wochen Zeit gelassen habe.
Schließlich sei nach dem 13 Monate währenden Ruhen des Aussetzungsverfahrens eine besonders beschleunigte Vollstreckung nicht geboten gewesen. Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände erscheine im Streitfall die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen erst nach Ablauf einer Frist von sechs Wochen ab dem Zugang des Ablehnungsbescheides (§ 122 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) als ermessensgerecht. Insoweit seien die vom Bundesfinanzhof (BFH) in den Entscheidungen vom 19. Juni 1968 I S 4/68 (BFHE 92, 326, BStBl II 1968, 540), vom 16. Dezember 1999 V S 12/99 (BFH/NV 2000, 996) sowie vom 11. August 2000 I S 5/00 (BFH/NV 2001, 314) entwickelten Grundsätze auf den Streitfall übertragbar. In diesen komme ebenfalls der Gedanke zum Tragen, dass es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich sei, dem Steuerpflichtigen nach dem Auslaufen einer Vollstreckungsschutz gewährenden Regelung eine angemessene Zeit zur Stellung eines Antrages auf AdV einzuräumen. Im Übrigen habe V vor Ablauf der sechswöchigen Frist seinerseits einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO gestellt, der auch dem FA bekannt war. Da beide Fälle gleichgelagert gewesen seien, hätte es dem Gebot der Verfahrensökonomie entsprochen, auch in dem Verfahren des Klägers zunächst von Vollstreckungsmaßnahmen abzusehen. Daher sei auch der Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 4. Oktober 2000 als ermessensfehlerhaft anzusehen. Da der Haftungsbescheid im Hauptverfahren aufgehoben worden sei, wären bei sachgerechter Ausübung des dem FA eingeräumten Ermessens keine Vollstreckungskosten entstanden.
Mit der Revision rügt das FA die rechtsfehlerhafte Auslegung und Anwendung von § 346 Abs. 1 AO 1977 durch das FG. Eine unrichtige Sachbehandlung liege deshalb nicht vor, weil das FA bei der Durchführung der Vollstreckung keine evidenten Fehler begangen habe. Insbesondere seien die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nicht zur Unzeit ergangen. Die Voraussetzung für eine Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung nach § 257 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sei nicht gegeben gewesen. Mit der Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen habe das FA nach Ablehnung des Antrages auf AdV drei Wochen zugewartet und sein Ermessen damit nicht überschritten. Im Zeitpunkt der ersten kostenpflichtigen Vollstreckungsmaßnahme habe der Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO noch nicht vorgelegen. Gesetzliche Vorgaben hinsichtlich des Zeitraumes, der dem Vollstreckungsschuldner nach Ablehnung seines Aussetzungsantrages zu gewähren sei, gebe es nicht. Auch die vom FG in Bezug genommenen BFH-Entscheidungen seien auf den Streitfall nicht übertragbar, denn sie seien im Verfahren über die AdV aus Gründen der Prozessökonomie sowie im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes und nicht in einem Verfahren nach Ablehnung der AdV ergangen.
Der Kläger ist der Ansicht, dass das FA nach Ablehnung des Antrages auf AdV und vor der Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen zumindest den Ablauf der Rechtsbehelfsfrist hätte abwarten müssen. Das FA habe erst vier Monate nach dem klagabweisenden Urteil des FG über den Aussetzungsantrag entschieden und dem Kläger, der sich im August in Urlaub befunden habe, nicht ausreichend Zeit gelassen, um sich das Urteil zu beschaffen und es auszuwerten. Im Streitfall sei durch das Vorgehen des FA der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt; auch erweise sich die Vollstreckung als unbillig i.S. von § 258 AO 1977.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist gemäß § 126 Abs. 2 FGO als unbegründet zurückzuweisen. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen beruhen auf einem Ermessensfehlgebrauch des FA. Von einer Erhebung der Vollstreckungskosten ist daher gemäß § 346 Abs. 1 AO 1977 aufgrund unrichtiger Sachbehandlung abzusehen.
1. Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 251 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Verwaltungsakte, mit denen wie im Streitfall aufgrund eines Haftungsbescheides eine Geldleistung gefordert wird, im Verwaltungsweg vollstrecken, soweit nicht die Vollziehung ausgesetzt oder die Vollziehung durch Einlegung eines Rechtsbehelfs gehemmt ist. Dabei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, bei der gemäß § 5 AO 1977 das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten sind. Eine Überprüfung der finanzbehördlichen Entscheidung darf von den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit nur im Rahmen der von § 102 FGO gezogenen Grenzen erfolgen, d.h. dahin gehend, ob das FA die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Dabei darf das Gericht die maßgeblichen Verwaltungserwägungen nicht durch eigene Erwägungen ersetzen (BFH-Entscheidung vom 11. Juni 1997 X R 14/95, BFHE 183, 21, BStBl II 1997, 642).
2. Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabes hat das FG zu Recht erkannt, dass das FA durch die nach Ablehnung des AdV-Antrages in nicht gebotener Eile durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen das ihm im Vollstreckungsverfahren zustehende Entschließungsermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt und damit einen offensichtlichen Fehler begangen hat, der die Annahme einer unrichtigen Sachbehandlung i.S. von § 346 AO 1977 rechtfertigt.
a) Erlässt die Finanzbehörde gegenüber einem Haftungsschuldner einen mit einem Leistungsgebot versehenen Haftungsbescheid, so sind nach Ablehnung des Antrages auf AdV die Voraussetzungen für die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen nach § 251 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 grundsätzlich gegeben. Denn wie § 251 Abs. 1 AO 1977 zu entnehmen ist, hindert erst die AdV eines Verwaltungsaktes dessen Vollstreckung. Wenn nach der Rechtsprechung des Senats eine Vollstreckung nicht allein deswegen zu unterlassen oder einzustellen ist, weil das FA über die vom Vollstreckungsschuldner beantragte AdV des der Vollstreckung zugrunde liegenden Bescheides noch nicht endgültig entschieden hat (Senatsbeschluss vom 25. Juni 1985 VII B 54, 62/84, BFH/NV 1986, 138, m.w.N.), kann erst recht die Ablehnung des Antrages auf AdV und die Möglichkeit gegen den ablehnenden Bescheid Einspruch einzulegen, nicht dazu führen, dass Vollstreckungsmaßnahmen bis zur Bestandskraft des Ablehnungsantrages in jedem Fall unterbleiben müssten. Anderenfalls könnte ein Aufschub der Vollstreckung allein durch die Stellung eines Antrages auf AdV erreicht werden. Dies widerspräche jedoch der gesetzlichen Regelung, nach der die Einlegung von Rechtsbehelfen nicht geeignet ist, die Vollziehung eines Verwaltungsaktes zu hemmen (vgl. Senatsentscheidungen vom 12. Mai 1980 VII B 9/80, BFHE 130, 136, BStBl II 1980, 399, und vom 30. Oktober 1984 VII R 114/83, nicht amtlich veröffentlicht, juris). Auch Nachteile, die sich üblicherweise aus der Vollstreckung von Steuer- oder Haftungsbescheiden ergeben, muss der Vollstreckungsschuldner im Interesse der Allgemeinheit an der alsbaldigen Durchsetzung von Steuer- bzw. Haftungsansprüchen hinnehmen. Diese allgemeinen Grundsätze können jedoch dann keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Vorgehen des FA bei der Anordnung und Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen insgesamt als offensichtlich rechtsfehlerhaft erscheinen lassen, so dass es dem Gebot gerechter Kostenverteilung widersprechen würde, dem Vollstreckungsschuldner die Kosten für diese Maßnahmen aufzuerlegen.
b) Einen Anspruch auf Nichterhebung von Vollstreckungskosten normiert § 346 Abs. 1 AO 1977. Danach sind Vollstreckungskosten nicht zu erheben, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären. Diese Vorschrift geht auf § 11 Abs. 1 des Gesetzes über die Kosten der Zwangsvollstreckung nach der Reichsabgabenordnung (AOVKG) vom 12. April 1961 (BGBl I 1961, 429) zurück. Ausweislich der Gesetzesbegründung entspricht die Regelung § 7 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) bzw. § 11 Abs. 1 des Gesetzes über die Kosten der Gerichtsvollzieher (GvKostG) ―jeweils in der 1961 geltenden Fassung― (BTDrucks VI/2185, S. 11). Die wörtliche Übernahme der in den anderen Kostengesetzen bereits bestehenden Vorschriften in die Reichsabgabenordnung rechtfertigt die Annahme, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Erhebung bzw. Nichterhebung von Vollstreckungskosten eine Bestimmung mit identischem Regelungsinhalt schaffen wollte. Zur Auslegung von § 346 Abs. 1 AO 1977 kann daher auf die zu den Parallelvorschriften des GKG und GvKostG ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Von einer unrichtigen Sachbehandlung i.S. von § 8 Abs. 1 GKG, der für den Streitfall maßgeblichen Nachfolgevorschrift des § 7 Abs. 1 GKG, ist nach der Rechtsprechung dann auszugehen, wenn das Gericht gegen eine eindeutige gesetzliche Norm verstoßen hat und dieser Verstoß offen zutage tritt; zu fordern ist ein offensichtlicher schwerwiegender Verfahrensfehler (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 33. Aufl., § 8 GKG Rdnr. 8 und 10, sowie Oestreich/Winter/ Hellstab, Kommentar zum Gerichtskostengesetz, § 8 Rdnr. 10, m.w.N.).
Überträgt man diese Grundsätze auf den Anwendungsbereich von § 346 Abs. 1 AO 1977, ist von einer unrichtigen Sachbehandlung dann auszugehen, wenn sich die Vollstreckungsmaßnahme unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls im Zeitpunkt ihrer Vornahme durch das FA dadurch als offensichtlich fehlerhaft erweist, dass die rechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen oder dass die Grenzen des Ermessens nicht beachtet worden sind (Hohrmann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 346 AO 1977, Rdnr. 6 Fn. 3, und Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 346 AO 1977 Rdnr. 3, m.w.N.). Nicht ausreichend ist die bloße Unzweckmäßigkeit einer Vollstreckungsmaßnahme oder die Aufhebung der Vollstreckungsmaßnahme in einem durch den Vollstreckungsschuldner angestrengten Rechtsbehelfsverfahren. Vielmehr müssen besondere Umstände hinzutreten, die im Einzelfall die Offensichtlichkeit des Normverstoßes indizieren. Ein solch evidenter Ermessensverstoß ist anzunehmen, wenn die Vollstreckungsbehörde einem AdV-Antrag nicht stattgibt, obwohl dies im Einzelfall geboten gewesen wäre, und sodann Vollstreckungsmaßnahmen einleitet, ohne den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens wegen der Ablehnung der AdV abzuwarten (vgl. Wolf in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 346 Rdnr. 4, sowie Hohrmann, a.a.O., § 346 AO 1977 Rdnr. 12, m.w.N.).
c) In diese Richtung weist auch die BFH-Rechtsprechung zu § 258 AO 1977. Obwohl sich die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Absehen von der Kostenerhebung aufgrund unrichtiger Sachbehandlung nach § 346 Abs. 1 AO 1977 und für eine Billigkeitsmaßnahme nach § 258 AO 1977 mit der Möglichkeit der vorübergehenden Einstellung, Einschränkung oder Aufhebung der Vollstreckung nicht decken, kann in einer die Unbilligkeit der Vollstreckungshandlung begründenden Fehlentscheidung des FA zugleich auch die Ursache für eine unrichtige Sachbehandlung i.S. von § 346 Abs. 1 AO 1977 liegen. Entscheidend für die Verpflichtung zum Kostenverzicht ist die Intensität und die Erkennbarkeit des dem FA unterlaufenen Fehlers.
Nach der Rechtsprechung des BFH kann sich eine Vollstreckung als unbillig erweisen, wenn sich der Steuerschuldner auf die Rechtswidrigkeit des der Vollstreckung zugrunde liegenden Verwaltungsaktes beruft und rechtzeitig einen Antrag auf AdV gestellt hat und dieser zwar noch nicht beschieden ist, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass er Erfolg haben wird (Senatsbeschluss vom 12. Juni 1991 VII B 66/91, BFH/NV 1992, 156). Gleiches muss gelten, wenn dem Antrag auf AdV allein deshalb der Erfolg versagt bleibt, weil das FA rechtsfehlerhaft die Aussetzung nicht gewährt hat, obwohl eine solche an sich möglich und offensichtlich geboten gewesen wäre (vgl. BFH-Entscheidung vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, hinsichtlich der Unbilligkeit der Erhebung von Säumniszuschlägen bei rechtsfehlerhafter Ablehnung eines Aussetzungsantrages). Die Rechtsprechung zu § 258 AO 1977 unterstützt somit das zur Auslegung von § 346 Abs. 1 AO 1977 gefundene Ergebnis.
d) Bei der rechtlichen Würdigung der im Streitfall vorliegenden Umstände kann daher nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Ablehnung des Antrages auf AdV zu Unrecht erfolgt ist. Da das FG im Hauptsacheverfahren die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Haftungsbescheides festgestellt hat, hätten sich auch dem FA bei der Überprüfung des Rechtsschutzbegehrens des Klägers Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides aufdrängen müssen. Von einer eindeutigen Rechtslage war demnach nicht auszugehen, so dass es einer sachgerechten Behandlung entsprochen hätte, dem Aussetzungsantrag stattzugeben oder zumindest den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens wegen der Ablehnung des Antrages auf AdV abzuwarten. Stattdessen hat das FA, nachdem es zunächst über 13 Monate keine Maßnahmen zur Durchsetzung des Haftungsbescheides ergriffen hatte, drei Wochen nach Bekanntgabe des ablehnenden Bescheides mit der eigentlichen Vollstreckung begonnen, ohne den Ablauf der Rechtsbehelfsfrist und die Entscheidung über das vom Kläger eingelegte Rechtsmittel abzuwarten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das FA seine ablehnende Entscheidung im Wesentlichen vom Inhalt des gegen die GmbH ergangenen Urteils abhängig gemacht hat. Auf diesen Umstand hatte das FA den Kläger zuvor auch schriftlich hingewiesen. So lag es auf der Hand, dass sich der Kläger zur Wahrnehmung seiner Rechte diese Entscheidung beschaffen und auswerten würde. Ausreichend Zeit hat ihm das FA dafür jedoch nicht belassen, obwohl es für sich selbst einen Zeitraum von sechs Wochen zur Überprüfung des Urteils und Abfassung der Ablehnungsverfügung in Anspruch genommen hatte. Stattdessen hat das FA die vom Kläger beanstandeten Vollstreckungsmaßnahmen ohne Rücksichtnahme auf den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens durchgeführt. Auch den vom Vater des Klägers gestellten Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO, der auf die AdV eines auf einem nahezu identischen Sachverhalt beruhenden Haftungsbescheides abzielte, hat das FA im Rahmen seiner Ermessensentscheidung unberücksichtigt gelassen.
In Würdigung dieser Gesamtumstände vermag sich der erkennende Senat der Einschätzung des FG anzuschließen, dass in dieser Vorgehensweise und in der Fehleinschätzung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides ein offensichtlicher Fehler des FA zutage getreten ist, so dass von einer richtigen Sachbehandlung im Zeitpunkt der Vornahme der beiden Vollstreckungshandlungen nicht mehr ausgegangen werden kann. Diese Erwägungen werden durch den Umstand gestützt, dass nach den Feststellungen des FG besondere Umstände, wie z.B. drohende Verschwendung des Vermögens, Vermögensverschiebung ins Ausland oder Fluchtgefahr, die aufgrund einer drohenden Gefahr der Vollstreckungsvereitelung ein sofortiges Tätigwerden des FA erforderlich gemacht hätten, im Streitfall nicht vorgelegen haben. Auch unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Vollstreckung im Streitfall als ermessensfehlerhaft (vgl. Hohrmann, a.a.O., § 346 AO 1977 Rdnr. 12).
3. Nach Auffassung des erkennenden Senats kann die Rechtsprechung des BFH zur Bemessung der Aussetzungsfrist bei Stattgabe des Aussetzungsantrages und Zurückverweisung der Hauptsache an das FG (vgl. BFH-Entscheidungen in BFHE 92, 326, BStBl II 1968, 540; in BFH/NV 2000, 996, und in BFH/NV 2001, 314) auf den Streitfall nicht übertragen werden. Denn im Gegensatz zu diesen Entscheidungen handelt es sich im Streitfall um ein Verfahrensstadium nach Ablehnung der AdV durch das FA, in dem eine gerichtliche Überprüfung des Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers noch nicht stattgefunden hat. Auch besteht die Möglichkeit, dass der Vollstreckungsschuldner von der Stellung eines Antrages nach § 69 Abs. 3 FGO absieht. In diesem Fall sind keine Gründe der Prozessökonomie ersichtlich, die ein Absehen von der Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen geboten erscheinen ließen. Aus diesen Gründen geht dem Senat die Auffassung des FG zu weit, dass das FA dem Vollstreckungsschuldner in jedem Fall nach Ablehnung des AdV-Antrages einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen belassen müsste, um einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO vorbereiten und stellen zu können. Die dem Gericht in § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO eingeräumte Befugnis, die Aufhebung der Vollziehung eines gegen den Schuldner bereits erlassenen Vollstreckungsaktes anzuordnen, deutet vielmehr darauf hin, dass nach der Intention des Gesetzgebers dem FA die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen nicht grundsätzlich verwehrt sein soll. Dem widerspricht die Auffassung des FG, die darauf hinauslaufen würde, dass der Vollstreckungsschuldner einen ―wenn auch zeitlich begrenzten― Vollstreckungsaufschub allein durch die Ankündigung, einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellen zu wollen, erreichen könnte.
Fundstellen
Haufe-Index 1301175 |
BFH/NV 2005, 401 |
BStBl II 2005, 198 |
BFHE 2005, 18 |
BFHE 208, 18 |
BB 2005, 314 |
DStRE 2005, 228 |
DStZ 2005, 96 |
HFR 2005, 296 |