Leitsatz (amtlich)
Das Ausbleiben des ordnungsmäßig geladenen Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem FG ist keine Verletzung der Mitwirkungspflicht zur Sachaufklärung, es sei denn, daß das persönliche Erscheinen angeordnet war.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1, § 80 Abs. 1, § 91 Abs. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger wurde vom Beklagten und Revisionsbeklagten (FA) durch Bescheid vom 2. Februar 1968 zur Haftung für Schulden der Fa. L KG (KG) aus der Umsatzsteuer-Vorauszahlungspflicht für Juni bis Dezember 1966 in Höhe von... DM und für Säumniszuschläge in Höhe von ... DM herangezogen. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob der Kläger Anfechtungsklage. Das FG hat diesen Rechtsbehelf auf Grund mündlicher Verhandlung abgewiesen. Zu diesem Termin war der Kläger auf eine durch Niederlegung bei der Postanstalt durchgeführte Zustellung der Ladung nicht erschienen. Zur Begründung der Entscheidung hat das FG ausgeführt:
Die KG sei am 31. Dezember 1966 aufgelöst worden. In dem vom Haftungsbescheid erfaßten Zeitraum habe die KG zunächst keine Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgegeben. Lediglich für Dezember 1966 sei eine Voranmeldung mit einem auf ... DM berechneten Steuerbetrag eingegangen. Für die übrige Zeit habe das FA die entstandene Steuerschuld auf ... DM geschätzt. Die KG habe von diesen Schulden nichts bezahlt.
Der Haftungsbescheid sei nach §§ 108, 109 und 103 AO gerechtfertigt. Der Kläger sei in der in Betracht kommenden Zeit Bevollmächtigter der KG im Sinne der steuerrechtlichen Haftungsbestimmungen gewesen. Er sei nämlich als Bevollmächtigter aufgetreten. Er habe für die KG beim FA vorgesprochen, Rechtsmittel eingelegt und die Voranmeldung für Dezember 1966 mit dem Zusatz "i. V." für die KG unterschrieben. Im Mai 1964 habe er mit demselben Signum für die KG eine Vollmacht an einen Steuerberater ausgestellt. Den ihm aus § 109 in Verbindung mit § 103 AO obliegenden Pflichten, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen abzugeben und die geschuldeten Beträge aus den Mitteln der KG an das FA zu zahlen, sei er nicht nachgekommen. Nach der vom Kläger für die KG mit Schreiben vom 10. November 1966 abgegebenen Erklärung seien im Vorauszahlungszeitraum 300 000 DM eingegangen. Es seien deshalb genügend Mittel zur Zahlung der Steuern vorhanden gewesen. - Unbeachtlich sei das Vorbringen des Klägers, er sei im Strafverfahren des Amtsgerichts N. wegen Verkürzung der der KG obliegenden Lohnsteuerabführung durch Urteil vom 9. Juli 1968 freigesprochen worden. Denn der Begriff der Steuerverkürzung im Sinne des § 109 AO stimme nicht mit dem wortgleichen Begriff in § 392 AO überein. Im übrigen sei das FG nicht an das strafrichterliche Erkenntnis gebunden.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Das FG habe trotz seiner Abwesenheit mündlich verhandelt; er sei nicht ordnungsgemäß geladen gewesen. Dadurch sei ihm das rechtliche Gehör versagt worden. Außerdem habe das FG in mehrfacher Hinsicht die Aufklärungspflicht verletzt und habe seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen. Obwohl die Frage der geleugneten Bevollmächtigteneigenschaft durch die beiden Gesellschafter der KG hätte geklärt werden können, seien diese nicht gehört worden. Das FG habe sich fehlerhafterweise nicht mit den Feststellungen des Amtsgerichts N auseinandergesetzt, obwohl das Urteil in der mündlichen Verhandlung vorgelegen habe. Über die Frage, ob ihm überhaupt zureichende Mittel der KG zur Bezahlung der Steuern zur Verfügung gestanden hätten, sei nicht verhandelt worden. Aus seinem Schreiben an das FA vom 10. November 1966 sei kein Schluß auf die Liquidität möglich gewesen. In Wahrheit habe das FA damals über den größten Teil der Betriebsmittel durch Forderungspfändungen verfügt. Im übrigen habe das FG auch die für die Begründung einer Haftungsschuld tatbestandsmäßigen Merkmale des Bevollmächtigten und der Pflichtverletzung verkannt.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision hat Erfolg. Die formellen und materiellen Rügen des Klägers sind überwiegend begründet.
Es muß zwar davon ausgegangen werden, daß der Kläger ordnungsgemäß geladen war. Diese Feststellung ergibt sich aus der Postzustellungsurkunde vom 6. Oktober 1970 und aus der Tatsache, daß der Kläger trotz Aufforderung durch den erkennenden Senat im Schreiben vom 11. Februar 1971 keine Stellungnahme zum Inhalt der Zustellungsurkunde abgegeben hat.
Zutreffend rügt der Kläger aber, daß sein Fernbleiben in der mündlichen Verhandlung das FG nicht berechtigt habe, von den nach dem Klagevorbringen gebotenen Ermittlungen abzusehen.
Nach herrschender Meinung gilt allerdings insbesondere für den Finanz- und Verwaltungsprozeß (vgl. aber auch § 444 ZPO!) der Grundsatz, daß die Verletzung von Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des Sachverhalts die Gerichte berechtigt, das Verhalten des Verpflichteten (Klägers) zu dessen Nachteil zu würdigen und an die schuldhafte Verletzung der Pflicht eine Tatsachenfeststellung zu knüpfen, die dem durch die Feststellungslast Beschwerten (Behörde) günstig ist. Dies gilt allerdings nur mit der Einschränkung, daß andere Erkenntnismittel, die zur Aufklärung geeignet sind, nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen (Entscheidungen des BVerwG Bd. 10 S. 270; Urteil des BFH II 25/61 vom 20. Mai 1969, BFH 96, 129, 135, BStBl II 1969, 550 mit weiteren Nachweisen). Im vorliegenden Falle kann aber die Anwendung dieses Grundsatzes nicht in Betracht gezogen werden, weil der Kläger dadurch, daß er der Ladung als Beteiligter zur mündlichen Verhandlung nicht nachgekommen ist, keine Mitwirkungspflicht verletzt hat. Denn die FGO stellt es den Beteiligten frei, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen (arg. § 91 Abs. 2 FGO), sofern nicht das Gericht das persönliche Erscheinen ausdrücklich anordnet (§ 80 Abs. 1 FGO). Die bloße Ladung zur mündlichen Verhandlung kann nicht als Heranziehung zur Erforschung des Sachverhalts nach § 76 Abs. 1 FGO beurteilt werden. Das Ausbleiben des Klägers erlaubt deshalb keine Schlußfolgerung im Sinne des oben dargelegten Grundsatzes, auch wenn es - als Verletzung der einem Prozeßführenden zuzumutenden Sorgfalt - andere, hier nicht weiter zu erörternde prozessuale Nachteile hervorrufen kann.
Im angefochtenen Urteil führt das FG aus: Es habe sich "gezwungen" gesehen, nach Aktenlage zu entscheiden, da es ihm mit Rücksicht auf die Säumnis des Klägers "nicht möglich" gewesen sei, mit dem Kläger den Streitfall zu erörtern oder den Kläger als Partei zu vernehmen. Es hätten auch die ehemaligen Gesellschafter der KG, "die den Sachverhalt noch weiter hätten klären können", nach einer Auskunft des Terminvertreters des FA "nicht mehr zur Verfügung" gestanden. Aufgrund dieser Darlegungen hat das FG dann unter Berücksichtigung der aktenkundigen Vertretungshandlungen des Klägers - ohne Rücksicht auf dessen Einwendungen und Hinweise auf das in seiner Strafsache ergangene Urteil - entschieden, daß der Kläger als Bevollmächtigter der KG und als Vertreter des Geschäftsführers "zu behandeln" sei. Außerdem hat es dem oben erwähnten Schreiben vom 10. November 1966 entnommen, daß dem Kläger genügend Mittel zur Zahlung der Steuerschulden zur Verfügung gestanden hätten.
Diese mit der Revision gerügten Rechtserkenntnisse und Feststellungen beruhen aber, wie die wiedergegebenen Darlegungen des FG erkennen lassen, nicht auf der vollen Überzeugung des Spruchkörpers. Denn das FG hat deutlich zum Ausdruck gebracht, daß seine Wahrheits- und Rechtsfindung unter dem Fernbleiben des Klägers wie unter dem Mangel der Anhörung der Gesellschafter leide. Bei dieser Verfahrenslage hätte das FG, soweit es sich um den Kläger handelte, gemäß § 80 FGO das persönliche Erscheinen anordnen müssen. Nur wenn der Kläger schuldhaft auf diese Anordnung hin nicht zum Termin erschienen wäre, hätte das FG unter Umständen nach den oben dargelegten prozeßrechtlichen Grundsätzen aus der Säumnis Schlußfolgerungen zugunsten des FA treffen können. So aber konnte es ebensowenig auf die gebotene Sachverhaltserforschung verzichten, wie wenn es gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden gehabt hätte.
Das FG durfte auch, soweit es die Anhörung der Gesellschafter zur Wahrheitsermittlung für nötig erachtete, keine Feststellungen zuungunsten des Klägers treffen. Denn die sogenannte Feststellungslast trifft im Anfechtungsverfahren gegen einen Steuerbescheid den Beklagten. Kann also ein für die Besteuerung maßgebliches Merkmal deshalb nicht festgestellt werden, weil ein Zeuge unauffindbar ist, so gereicht dieser Umstand dem Beklagten zum Nachteil. Im übrigen rügt der Kläger auch mit Recht, daß sich das FG mit der nichtssagenden Äußerung des Sitzungsvertreters des FA, die Gesellschafter stünden "nicht mehr zur Verfügung", nicht begnügen durfte. Es hätte vielmehr, nachdem die Behauptung des Sitzungsvertreters nicht einmal vermutungsweise durch Anhaltspunkte erhärtet worden war, eigene Nachforschungen nach dem Aufenthalt anstellen müssen.
Auch die weitere Rüge des Klägers ist begründet, das FG habe es fehlerhafterweise unterlassen, sich mit dem Urteil des Amtsgerichts N auseinanderzusetzen, Aus dem angefochtenen Urteil geht der Inhalt des strafgerichtlichen Erkenntnisses nicht hervor. Diese Entscheidung liegt dem erkennenden Senat auch nicht vor. Es ist deshlab nicht ersichtlich, ob das Amtsgericht N den Behauptungen des Klägers entsprechend zu der Entscheidung gelangt ist, der Kläger sei nicht Bevollmächtigter der KG gewesen, und auf welchen tatsächlichen Grundlagen gegebenenfalls diese strafrechtliche Entscheidung beruht. Es bestehen daher für den erkennenden Senat Zweifel, ob das FG seine Feststellung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens getroffen hat (§ 96 Abs. 1 FGO). Dies gilt um so mehr, als das FG die Berufung des Klägers auf die Gründe des Strafurteils mit einem neben der Sache liegenden Hinweis übergangen hat: Das FG hat nämlich geglaubt, dem strafgerichtlichen Urteil deshalb keine Beachtung schenken zu brauchen, weil die Strafbestimmung des § 392 AO dem Begriff der Steuerverkürzung einen anderen Begriffsinhalt gibt als der für das Anfechtungsverfahren maßgebliche § 109 AO. Dem Kläger kam es aber darauf an, mit Hilfe des Strafurteils darzulegen, daß er nicht Bevollmächtigter der KG gewesen sei. Es ist daher möglich, daß das FG die Bedeutung des strafgerichtlichen Urteils als Ausgangspunkt für seine etwaige Nachforschungspflicht verkannt hat. Auch auf diesem Mangel kann das Urteil beruhen.
Schließlich rügt der Kläger auch begründetermaßen, daß das FG nicht allein aus dem Schreiben vom 10. November 1966 zu der Überzeugung gelangen konnte, dem Kläger hätten - unter der Voraussetzung, daß er als Bevollmächtigter der KG zu beurteilen wäre - genügend flüssige Mittel der KG zur Verfügung gestanden. Der Kläger hat dieses Schreiben als "vorläufige Umsatzsteuer-Voranmeldung für Juni bis Oktober 1966" bezeichnet. Er wollte also ersichtlich mit der Angabe "Zahlungseingang von ... DM" lediglich die Berechnungsgrundlage für die Umsatzsteuer-Vorauszahlung angeben. Die Bezeichnung "Zahlungseingang" ließ deshalb keinen Schluß darauf zu, daß die angegebene Summe tatsächlich in die Kasse gelangt sei und für Steuerzahlungen zur Verfügung gestanden habe. Das FG mußte der Möglichkeit Rechnung tragen, daß bei der kurz vor der Auflösung stehenden KG Aufrechnungen und Pfändungen von Gläubigern - insbesondere auch das FA - den tatsächlichen Eingang der Entgelte wesentlich verkürzt haben konnten.
Abgesehen von diesen Verletzungen des Verfahrensrechts, auf denen das angefochtene Urteil beruht, bestehen gegen die Vorentscheidung auch insoweit Bedenken, als sich nicht ausschließen läßt, daß das FG die Bedeutung der einschlägigen Haftungsvorschriften verkannt hat, ... (wird ausgeführt).
Fundstellen
Haufe-Index 413285 |
BStBl II 1972, 952 |
BFHE 1973, 1 |