Leitsatz (amtlich)
›Zur Einstellung des Verfahrens bei überlanger Verfahrensdauer und Verletzung des Beschleunigungsgebots des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK.‹
Verfahrensgang
Gründe
Wegen Bankrotts in drei Fällen hat das Landgericht den Angeklagten R. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten und den Angeklagten V. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen der Strafkammer haben die Angeklagten als Geschäftsführer oder als faktische Geschäftsführer der Gesellschaften der sogenannten F. -Gruppe, einem bedeutenden Anbieter von Bauherrenmodellen im Düsseldorfer Raum, in der Zeit vom 1. Januar 1982 bis zum Zusammenbruch der Unternehmen Ende März 1993 Privatentnahmen getätigt und wirtschaftlich nicht veranlaßte Darlehen an ihnen gehörende ausländische Gesellschaften gewährt und durch diese Handlungen, soweit sie in den Zeitraum bis 30. September 1982 fallen, vorsätzlich den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaften zum 1. Oktober 1982 gemäß § 283 Abs. 2 in Verbindung mit § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB herbeigeführt und, soweit sie nach dem 1. Oktober 1982 erfolgten, Vermögensbestandteile bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit gemäß § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB beiseite geschafft.
Die Angeklagten erstreben mit ihrer auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision in erster Linie die Einstellung des Verfahrens wegen überlanger Verfahrensdauer und unzureichender Anklage, hilfsweise die Aufhebung der Verurteilung und Zurückverweisung der Sache.
Der Senat hat das Verfahren mit Zustimmung der Angeklagten und des Generalbundesanwalts nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.
Verfahrenshindernisse bestehen nicht. Die Anklage und der Eröffnungsbeschluß enthalten zwar keine Spezifizierung der einzelnen Bankrotthandlungen, doch genügen sie insgesamt noch den Anforderungen der Rechtsprechung an eine wirksame Verfahrensgrundlage in Verfahren, die vor der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 3. Mai 1994 zur fortgesetzten Handlung (BGHSt 40, 138) eröffnet worden sind (vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 9). Ein Verfahrenshindernis ergibt sich auch nicht aus der langen Dauer des Verfahrens und den dabei aufgetretenen Verzögerungen, denen, wie unten näher dargelegt wird, durch die im Strafverfahrensrecht vorgesehene Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO in angemessener Weise Rechnung getragen werden kann (vgl. BGHSt 35, 137, 142).
Die Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO ist gerechtfertigt, weil infolge der überlangen Verfahrensdauer, der Verletzung des Beschleunigungsgebots und der erheblichen Belastung der Angeklagten durch das bisherige Verfahren die Schuld im jetzigen Zeitpunkt als gering im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist und ein öffentliches Interesse an der weiteren Verfolgung nicht mehr besteht.
Der Senat hat hierbei davon auszugehen, daß das Urteil des Landgerichts keinen Bestand hat und die Sache in vollem Umfang aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen werden müßte. Wie der Generalbundesanwalt in seinem Terminsantrag zutreffend im einzelnen ausgeführt hat, sind die Feststellungen der Strafkammer zur Ursächlichkeit der Handlungen der Angeklagten für den Zusammenbruch der Unternehmen, zum Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und insbesondere zur subjektiven Tatseite unzureichend. In einer neuerlichen Hauptverhandlung wären ausreichende Feststellungen hierzu voraussichtlich nur mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens eines Wirtschaftsprüfers möglich. Da ein solches Gutachten bislang von Seiten des Gerichts nicht eingeholt worden ist und seine Erstellung in Anbetracht des außerordentlichen Umfangs des Verfahrens und der Verflechtung der Gesellschaften der F.-Gruppe mit den Auslandsgesellschaften der Angeklagten bei dem lange Zeit zurückliegenden Tatgeschehen erhebliche Zeit in Anspruch nehmen würde, könnte eine neuerliche Hauptverhandlung voraussichtlich nicht vor Ablauf von zwei bis drei Jahren abgeschlossen werden.
Die Tatzeit erstreckte sich bis Ende März 1983. Am 11. April 1983 haben die Angeklagten Selbstanzeige erstattet. Der zuständige Wirtschaftsreferent der Staatsanwaltschaft - der einzige seiner Behörde - hatte zunächst einige Ermittlungen vorgenommen und konnte ab 21. Oktober 1983 das Verfahren wegen Erkrankung und vorrangiger Bearbeitung von Haftsachen nicht weiterbearbeiten. Weder die örtliche Kriminalpolizei noch das Landeskriminalamt konnten infolge Personalmangels einen Sachbearbeiter abstellen. Erst am 20. August 1985, also nach einem Verfahrensstillstand von 22 Monaten, hat das Bundeskriminalamt die Ermittlungen aufgenommen und am 10. März 1988 abgeschlossen. Die Anklage vom 28. Dezember 1989 wurde mit Beschluß vom 11. Dezember 1991 zugelassen. Die Hauptverhandlung hat sich vom 24. Juni 1992 in 150 Sitzungstagen bis zum 28. Juli 1994 erstreckt. Die Angeklagten hatten sich jeweils für mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft befunden. Auch in der Folgezeit wurden die Angeklagten durch die Auflagen und Weisungen der Haftverschonungsbeschlüsse belastet, beim Angeklagten R. dauerten diese Beeinträchtigungen bis zum heutigen Tage fort.
Auch wenn der außergewöhnliche Umfang dieses Verfahrens eine erhebliche Dauer für die Bearbeitung in den einzelnen Verfahrensabschnitten bedingt, muß eine die Rechte der Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzende Verfahrensverzögerung für den Stillstand der Ermittlungen vom 21. Oktober 1983 bis zum 20. August 1985 festgestellt werden.
Hierbei handelt es sich nicht mehr um einen lediglich vorübergehenden Personalengpaß, sondern um einen andauernden Zustand struktureller Art, der organisatorische Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden erfordert hätte (vgl. BGH StV 1992, 452; EGMR NJW 1984, 2749, 2750). Die Gesamtdauer des Verfahrens würde sich unter Berücksichtigung einer weiteren Hauptverhandlung auf voraussichtlich 15 bis 16 Jahre belaufen, ohne daß die Möglichkeit eines weiteren Revisionsverfahrens berücksichtigt ist. Diese Umstände und die erheblichen Belastungen der Angeklagten durch die Strafverfolgungsmaßnahmen, insbesondere die Verbüßung von jeweils mehr als einem Jahr Untersuchungshaft und die Beeinträchtigung durch die nachfolgenden Haftverschonungsbeschlüsse, für die eine Entschädigung nach dem Strafentschädigungsgesetz nicht gewährt wird, und zu der die erheblichen finanziellen Belastungen durch die Pflicht der Angeklagten, ihre notwendigen Auslagen selbst zu tragen, hinzukommt, rechtfertigt es, im jetzigen Zeitpunkt die Schuld der Angeklagten als gering anzusehen und ein öffentliches Interesse an der weiteren Strafverfolgung zu verneinen.
Eine Entschädigung der Angeklagten für die erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen entspricht unter den gegebenen Umständen nicht der Billigkeit, § 3 StrEG. Ebenso ist nach § 467 Abs. 4 StPO davon abzusehen, die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen. Mit dieser Entscheidung zur Entschädigungspflicht und zur Tragung der eigenen Auslagen haben sich die Angeklagten einverstanden erklärt.
Fundstellen
Haufe-Index 2993423 |
BB 1996, 2167 |
NJW 1996, 2739 |
NStZ 1996, 506 |
wistra 1996, 314 |
NJ 1996, 595 |
StV 1996, 526 |