Rn 21
Die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 begründet das gesetzliche Leitbild einer dynamischen vorläufigen Insolvenzverwaltung. Der Gesetzgeber verfolgte damit das Ziel, eine einseitige Ausrichtung auf die Liquidation und Zerschlagung des Schuldnerunternehmens zu beseitigen, und stattdessen die Erhaltung des Unternehmens sowie der darin verkörperten Vermögenswerte und der damit verbundenen Arbeitsplätze zu fördern. Hierzu ist es zwingend erforderlich, dem vorläufigen Verwalter Spielräume für aktives Handeln zu eröffnen und ihn auch entsprechend zu verpflichten. Folglich ist als Regelfall festgelegt, dass der vorläufige Verwalter das Schuldnerunternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens grundsätzlich fortzuführen hat. Durch die Verwendung des Worts "hat" in Abs. 1 Satz 2 entfällt also nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut ein Ermessensspielraum für den eingesetzten vorläufigen Verwalter. Aber auch ein derart eindeutig formuliertes gesetzgeberisches Gebot hilft nicht über die bei insolventen Unternehmen oft anzutreffenden negativen wirtschaftlichen Gegebenheiten hinweg. Selbstverständlich darf der vorläufige Verwalter das Unternehmen nicht blind fortführen, wenn dies dem Gebot der Vermögenserhaltung widerspricht. Welche Überprüfungen der Verwalter vor der Entscheidung über die Fortführung im Einzelnen anstellen muss, ist eine Frage des Einzelfalls, die verallgemeinernden Rechtssätzen nicht zugänglich ist.
Rn 22
Das Gesetz unterscheidet zwischen den Begriffen Unternehmen und Betrieb. Es ist kein Zufall, das in § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 das Unternehmen und in § 160 der Betrieb angesprochen werden. Ein Unternehmen ist eine rechtlich zusammengefasste Sach- und Rechtsgesamtheit, die einem wirtschaftlichen Zweck gewidmet ist. Der Betrieb ist eine technisch-organisatorische Einheit, innerhalb derer unter Einsatz personeller und sächlicher und immaterieller Mittel arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt werden, so dass ein Unternehmen auch aus mehreren Betrieben bestehen kann. In der Literatur wird häufig nicht zwischen den beiden Begriffen unterschieden.
Rn 23
Die Fortführungspflicht stellt auch erhebliche Anforderungen an das Insolvenzgericht. Dieses hat die Tätigkeit des vorläufigen Insolvenzverwalters gemäß §§ 58, 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 zu beaufsichtigen (vgl. die Kommentierung zu § 21 Rdn. 31). Dies bedeutet aber nicht, dass das Gericht von Amts wegen zu ermitteln hat, ob überhaupt eine Unternehmensfortführung in Frage kommt. Nach der Systematik des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ist grundsätzlich von einer Fortführungsmöglichkeit auszugehen. Die Prüfung der Notwendigkeit einer Stilllegung ist dem vorläufigen Verwalter zugewiesen, der ggf. einen entsprechenden Antrag bei Gericht stellen muss. Insoweit sind die Prüfungsrechte des Gerichts im Wesentlichen nachlaufend ausgestaltet. Unabhängig davon sollte sich das Gericht vor der Anordnung der starken vorläufigen Insolvenzverwaltung mit dem in Aussicht genommenen vorläufigen Verwalter über das weitere Vorgehen zweckmäßigerweise abstimmen.
2.2.1 Maßnahmen der Unternehmensfortführung
Rn 24
Eine zur Unternehmensfortführung meist unverzichtbare Fortsetzung der Belieferung mit den notwendigen Vorprodukten ist auch bei Bestellung eines vorläufigen Verwalters mit Fortführungspflicht nur möglich, wenn ausreichende Liquidität vorhanden ist oder unter Berücksichtigung der Zahlungsziele und der Vorschrift des § 55 Abs. 2 zumindest für ein später zu eröffnendes Verfahren dargestellt werden kann bzw. ausreichend gesichert ist. Selbst wenn offene Kreditlinien bestehen, werden die Kreditgeber zumeist von ihrem Kündigungsrecht wegen Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Kreditnehmers Gebrauch machen (s. u. Rdn. 85). Hier bleibt dem vorläufigen Verwalter häufig nichts anderes übrig, als mit den beteiligten Banken unverzüglich über die Gewährung eines Massedarlehens zu verhandeln oder die Lieferanten zu überzeugen, dass auch ohne zusätzliche, meist nicht verfügbare Sicherheiten die spätere Begleichung der im Rahmen der Betriebsfortführung neu entstandenen Verbindlichkeiten gesichert ist.
Daneben kommt die Vorfinanzierung des den Arbeitnehmern als Lohnersatzleistung zustehenden Insolvenzgeldes in Betracht (s. u. Rdn. 78). Während allerdings nach § 55 Abs. 3 die auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangenen Ansprüche der Arbeitnehmer und die von der Insolvenzgeldsicherung abgedeckten Sozialversicherungsbeiträge im Insolvenzverfahren als Ausnahme zu dem Grundsatz in § 55 Abs. 2 nur als Insolvenzforderungen geltend gemacht werden können, gilt dies nicht für sonstige V...