Dr. Jürgen Blersch, Prof. Dr. Eberhard von Olshausen
Rn 4
In dem in Nr. 1 geregelten Fall wird im Gegensatz zu § 95 die Forderung der Insolvenzmasse (Hauptforderung), gegen die aufgerechnet werden soll, nach Verfahrenseröffnung überhaupt erst begründet. Die dadurch vollständig erst nach Verfahrenseröffnung entstehende Aufrechnungslage ist nicht schutzwürdig, da der aufrechnende Insolvenzgläubiger bis zur Verfahrenseröffnung nur auf seine Quotenerwartung vertrauen durfte und eine nachträgliche Aufwertung seiner Insolvenzforderung in Widerspruch zu dem insolvenzrechtlichen Prinzip der Gläubigergleichbehandlung stünde. Nach Verfahrenseröffnung zugunsten der Insolvenzmasse begründete Forderungen sollen dieser ungeschmälert zugute kommen, damit deren Erträge gleichmäßig an die Insolvenzgläubiger verteilt werden können. Im Übrigen soll verhindert werden, dass gerade Insolvenzgläubiger zielgerichtet Verbindlichkeiten gegenüber der Insolvenzmasse eingehen, um sich anschließend wegen ihrer Insolvenzforderung durch Aufrechnung zu befriedigen. Kontrahiert also ein Insolvenzgläubiger mit dem Insolvenzverwalter im Rahmen der Masseverwertung oder begründet er eine Schadensersatzverpflichtung durch Schädigung eines Massegegenstands, so wird er i. S. d. § 96 Abs. 1 Nr. 1 nach Verfahrenseröffnung etwas zur Insolvenzmasse schuldig. Gleiches gilt wegen der Einbeziehung des Neuerwerbs des Schuldners in die Insolvenzmasse nach § 35 übrigens auch für den Fall, in dem der Insolvenzgläubiger vom Schuldner einen Gegenstand aus dem insolvenzfreien Vermögen kauft. Die aus diesem Kaufvertrag resultierende Kaufpreisforderung des Schuldners fällt als Neuerwerb in die Insolvenzmasse (vgl. dazu noch unten Rn. 14). Nicht aufgerechnet werden kann (auch bei gegebener Gleichartigkeit) gegen den Rückgewähranspruch (§ 143 Abs. 1) bei der Insolvenzanfechtung. Doch sollte dies weniger mit der eher begrifflichen Erwägung begründet werden, der Rückgewähranspruch entstehe erst "nach" oder "mit und deshalb ,nach'" der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Wichtiger ist, dass eine Aufrechnung dem Zweck der Insolvenzanfechtung, den anfechtbaren Erwerb im Interesse der Gläubigergleichbehandlung vollständig rückgängig zu machen, zuwiderliefe.
Rn 5
Einen praktisch bedeutsamen Anwendungsbereich hat § 96 Abs. 1 Nr. 1 durch die 1988 eingeleitete neuere Rechtsprechung des BGH zu dem dem Verwalter nach § 103 zustehenden Wahlrecht bei beiderseits nicht vollständig erfüllten gegenseitigen Verträgen erlangt. Danach sollten mit Verfahrenseröffnung die beiderseitigen Erfüllungsansprüche erlöschen und mit der Erfüllungswahl des Verwalters nach § 103 Abs. 1 neue (wenn auch inhaltsgleiche) Erfüllungsansprüche begründet werden. Folge (und vor allem Ziel) dieser Konstruktion ist: Der andere Vertragsteil kann mit einer Insolvenzforderung nicht gegen den zugunsten der Masse neu entstandenen Erfüllungsanspruch aufrechnen, weil er i.S. des § 96 Abs. 1 Nr. 1 erst "nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens", nämlich mit der Erfüllungswahl des Verwalters, "etwas zur Masse schuldig geworden ist". Anders soll es liegen, die Aufrechnung also zulässig sein, soweit sie sich gegen den Teil der Forderung der Masse richtet, der auf die Gegenleistung für eine vom Insolvenzschuldner schon vor Verfahrenseröffnung erbrachte Teilleistung gerichtet ist. Insoweit werde der Anspruch der Masse durch die Verfahrenseröffnung und die Erfüllungswahl des Verwalters nicht betroffen. Inzwischen hat der BGH die "Erlöschenstheorie" zwar gänzlich aufgegeben, an den mit ihrer Hilfe begründeten massefreundlichen Ergebnissen, also auch an dem Aufrechnungsverbot in dem dargestellten Umfang, aber festgehalten. Sachlicher Grundgedanke aller Entscheidungen ist: Für Leistungen, die mit Mitteln der Masse, also nach Verfahrenseröffnung, erbracht werden – aber auch nur für diese -, soll auch die Gegenleistung der Masse, also der Gesamtheit der Gläubiger, und nicht qua Aufrechnung einem einzelnen Insolvenzgläubiger zugute kommen. Die Rechtsprechung des BGH wird im Schrifttum verschiedentlich kritisiert. Soweit die Kritik als praktische Konsequenz rügt, dem Vertragspartner werde auf diese Weise eine begründete und insolvenzrechtlich durch §§ 94 f. geschützte Aufrechnungsmöglichkeit entzogen, ist dem entgegenzuhalten, dass die Befugnis zur Aufrechnung gegen den Erfüllungsanspruch beim beiderseits nicht (vollständig) erfüllten gegenseitigen Vertrag wegen des Rechts des Verwalters zur Erfüllungsablehnung (§ 103 Abs. 2) durch die InsO gerade nicht gewährleistet wird.
Rn 6
Erhält der Insolvenzgläubiger eine für die Masse bestimmte Leistung, so unterliegt der daraus nach Verfahrenseröffnung entstandene Zahlungsanspruch der Insolvenzmasse ebenfalls dem Aufrechnungsverbot. Diese Fallkonstellation ergibt sich vor allem bei Zahlungen Dritter auf debitorische Bankkonten des Insolvenzschuldners nach Verfahrenseröffnung. Dem Kreditinstitut ist in diesem Fall wegen § 96 Abs. 1 Nr. 1 die Aufrechnung mit seinen Insolvenzforderungen versagt. Bei anfechtbarer Verrech...