Entscheidungsstichwort (Thema)
Versäumung der Frist für die Nichtzulassungsbeschwerde. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. absoluter Revisionsgrund. Beschlussverfahren wegen unzulässiger Berufung. Anhörungsfehler. Verletzung rechtlichen Gehörs
Orientierungssatz
1. Bevor eine Berufung nach § 158 S 2 SGG durch Beschluss als unzulässig verworfen wird, hat das LSG die Beteiligten zu hören. Anderenfalls verletzt es seine Pflicht aus § 62 SGG (vgl BSG vom 24.4.2008 - B 9 SB 78/07 B = SozR 4-1500 § 158 Nr 3) und darf nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
2. Geht vor Eintritt der Wirksamkeit des Beschlusses (durch Zustellung) ein weiteres Schreiben des Klägers ein und hat das LSG in der Anhörungsverfügung keine angemessene Frist von regelmäßig 2 Wochen zur Stellungnahme gesetzt, so hätte es auf Grund seiner prozessualen Fürsorgepflicht die Vorbereitung der Zustellung des Beschlusses abbrechen, die Sache wieder an sich ziehen und das Vorbringen der Kläger noch mit einbeziehen müssen (vgl BSG vom 29.11.2006 - B 6 KA 23/06 B = SozR 4-1500 § 153 Nr 3 und vom 31.3.2004 - B 4 RA 203/03 B = SozR 4-1500 § 153 Nr 6). In diesem Fall muss eine deutlich längere Zeit von regelmäßig 4 Wochen abgewartet werden, bevor ein Vortrag als verspätet betrachtet werden kann.
3. Die Verletzung des § 158 S 2 SGG führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufsrichter und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gem § 202 SGG iVm 547 Nr 1 ZPO (vgl BSG vom 24.4.2008 aaO).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 5, §§ 67, 62, 133, 142 Abs. 1, § 158 S. 2, § 202; ZPO § 547 Nr. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.01.2008; Aktenzeichen L 8 AS 4528/07) |
SG Ulm (Entscheidung vom 08.08.2007; Aktenzeichen S 6 AS 2201/06) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) streitig.
Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht (SG) Ulm (mit dem Az S 6 AS 2201/06) haben die Kläger zuletzt beantragt, ihnen unter Änderung der Bescheide vom 6. April 2006 und 11. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2006 und des Bescheides vom 4. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. September 2006 sowie der Bescheide vom 26. April 2007 und vom 21. Mai 2007 für die Zeit vom 1. März 2006 bis 30. September 2006 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts insbesondere unter Berücksichtigung eines höheren Zuschlages nach § 24 SGB II und Anrechnung der Kfz-Versicherung für März 2006 zu gewähren. Das SG hat mit Urteil vom 8. August 2007 die genannten Bescheide geändert und die Beklagte zur Zahlung weiterer 137,04 Euro für März 2006 verurteilt; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es sei über den Zeitraum vom 1. März 2006 bis zum 30. September 2006 zu entscheiden gewesen. Für April bis September 2006 stünden den Klägern höhere Leistungen nicht zu. Die Berufung gegen dieses Urteil sei zulässig.
Am 15. September 2007 haben die Kläger, die im Berufungsverfahren durch den Kläger zu 1 vertreten waren, gegen dieses Urteil "Beschwerde" eingelegt. Sie haben geltend gemacht, im ersten Jahr des Zusammenlebens des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 habe keine eheähnliche Gemeinschaft bestanden. Deshalb seien ab dem 9. Juni 2006 (Beginn ihres Zusammenlebens) eine höhere Regelleistung und ein Alleinerziehungszuschlag für den Kläger zu 1 wegen der Erziehung der Klägerin zu 3 und für die Klägerin zu 2 ein höherer Zuschlag für Schwangere zu gewähren. Monatlich würden ihnen daher weitere 115 Euro ab dem 9. Juni 2006 zustehen. Das Landessozialgericht (LSG) teilte mit Schreiben vom 22. Oktober 2007 mit, das zulässige Rechtsmittel sei die Berufung und nicht die Beschwerde und bat um Mitteilung, ob die Beschwerde als Berufung behandelt werden solle. Dies bejahte der Kläger zu 1 mit Schreiben vom 27. Oktober 2007. In einem Erörterungstermin am 29. November 2007 wies der Berichterstatter nach weiterer Klärung des Klagebegehrens und Protokollierung des klägerischen Antrages auf Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung hin. Mit Schreiben vom 20. Dezember 2007, abgesandt am 21. Dezember 2007, teilte das LSG mit, es sei beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen. Die erforderliche Berufungssumme dürfte nicht erreicht sein. Mit Beschluss vom 8. Januar 2008 verwarf das LSG die Berufung als unzulässig. Die Berufungssumme sei mit 422,90 Euro nicht erreicht. Eine Rechtsmittelbelehrung enthielt der Beschluss nicht. Der Beschluss wurde am 14. Januar 2008 von der Geschäftsstelle des Gerichts abgesandt und den Klägern am 15. Januar 2008 zugestellt.
Mit Schreiben vom 11. Januar 2008, das am 14. Januar 2008 beim LSG eingegangen ist, nahm der Kläger zu 1 Stellung zur beabsichtigten Verwerfung der Berufung als unzulässig und wies (wie bereits im Erörterungstermin vom 29. November 2007) auf die Zulassungsgründe des § 144 Abs 2 SGG hin. Zudem sei die Berufungssumme erreicht. Im Urteil des SG sei die Zahlung eines höheren Zuschlages abgelehnt worden. Die zusätzlich beantragte Summe habe 160 Euro pro Monat betragen. Allein daraus ergebe sich ein Berufungsstreitwert von 597,33 Euro, sodass die Berufung nicht als unzulässig verworfen werden dürfe.
Am 14. Februar 2008 wandte sich der Kläger an das LSG und legte zugleich im Namen der Klägerinnen zu 2 und 3 Beschwerde gegen den Beschluss des LSG ein. Er wies auf § 144 Abs 2 SGG hin und beantragte abschließend "die Berufung vor einem anderen Senat des LSG Baden-Württemberg entgegen Ihrem Beschluss doch noch zuzulassen". Am 19. April 2008 teilte der Kläger auf Rückfrage dem LSG mit, das Schreiben vom 14. Februar 2008 solle als Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG angesehen werden. Im Juli 2008 beantragten die Kläger beim BSG die Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. Mit Beschluss vom 23. April 2009 hat der Senat den Klägern Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren bewilligt. Die Kläger haben Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Frist für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde beantragt und die Nichtzulassungsbeschwerde begründet. In der Sache rügen sie die Verletzung von Verfahrensrecht. Das LSG habe gegen seine Aufklärungs- und Hinweispflicht gemäß § 106 Abs 1 SGG verstoßen sowie das rechtliche Gehör der Kläger (§ 62 SGG) verletzt. Der ursprünglich vor dem SG geltend gemachte Anspruch auf höhere Leistungen habe die Berufungssumme erreicht. Zwar hätten die Kläger im Berufungsverfahren eine bestimmte rechtliche Würdigung des Sachverhalts in den Vordergrund ihres Überprüfungsbegehrens gestellt. Eine Begrenzung des Streitgegenstandes sei damit aber nicht vorgenommen worden. In dem Erörterungstermin habe der Berichterstatter davon abgesehen, den Kläger zu 1 vor Protokollierung des Antrages auf die Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit hinzuweisen. Das Gericht sei aber verpflichtet gewesen, auf eine sachdienliche Antragstellung hinzuweisen, der die Überprüfung des gesamten, vor dem SG anhängig gewesenen Anspruchs im Berufungswege erfasst hätte. Zudem sei die nach § 62 SGG vorgeschriebene Anhörung vor Beschlussfassung nicht ausreichend gewesen. Der Kläger zu 1 habe nicht damit rechnen müssen, dass sein Vorbringen vom 11. Januar 2008 bereits nicht mehr berücksichtigt werden würde.
Entscheidungsgründe
Den Klägern ist gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Frist für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde zu gewähren, weil sie ohne Verschulden gehindert waren, die Frist einzuhalten.
Auf die zulässige Beschwerde der Kläger war gemäß § 160a Abs 5 SGG der angefochtene Beschluss des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Die Kläger haben zutreffend einen Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens gerügt, auf dem der Beschluss beruhen kann.
Die Kläger rügen zu Recht, dass das LSG seine Pflicht aus § 62 SGG verletzt hat, wonach die Beteiligten zu hören sind, bevor eine Berufung nach § 158 Satz 2 SGG durch Beschluss als unzulässig verworfen wird (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 3). Das LSG hätte nach dem von den Klägern in der Begründung der Beschwerde zutreffend dargestellten Sachstand nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden dürfen, weil es die Kläger nicht ordnungsgemäß angehört hat.
Als das Schreiben des Klägers zu 1 vom 11. Januar 2008 beim LSG einging, lag noch kein wirksamer Beschluss vor. Gemäß § 142 Abs 1 SGG iVm § 133 SGG werden Beschlüsse, die ohne mündliche Verhandlung ergehen, erst mit der Zustellung wirksam. Bei Eingang des weiteren Vorbringens war der Beschluss noch nicht wirksam geworden. Er befand sich an diesem Tag noch im Bereich des LSG. Das LSG hätte auf Grund seiner prozessualen Fürsorgepflicht die Vorbereitung der Zustellung des Beschlusses abbrechen, die Sache wieder an sich ziehen und das Vorbringen der Kläger noch mit einbeziehen müssen (BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 9 und SozR 4-1500 § 153 Nr 6 RdNr 8).
Da das LSG mit der Anhörungsverfügung den Beteiligten keine Frist zur Stellungnahme gesetzt hatte und das Anhörungsschreiben, das am 21. Dezember 2007 (Freitag vor den Weihnachtsfeiertagen) zur Post gegeben worden war, bei einer unterstellten Postlaufzeit von drei Werktagen den Klägern erst nach den Weihnachtsfeiertagen zugegangen ist, hatte der Kläger zu 1 mit seiner Stellungnahme auch nicht unverhältnismäßig lange zugewartet. Vielmehr muss das LSG, wenn es keine angemessene Frist von regelmäßig zwei Wochen setzt, eine deutlich längere Zeit von regelmäßig vier Wochen abwarten, bevor es den Vortrag als verspätet erachten darf (BSG, jeweils aaO, RdNr 9 bzw RdNr 8).
Nicht anders als bei § 153 Abs 4 Satz 1 SGG führt die Verletzung des § 158 Satz 2 SGG zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 Zivilprozessordnung (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 3 RdNr 10 mwN).
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen