Entscheidungsstichwort (Thema)
Beiladung. Beiladungsbeschluss. Rechtsstellung. Urteilsergänzung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Rechtsstellung eines Beteiligten am Verfahren erhält ein Beizuladender erst mit dem Beiladungsbeschluss.
2. Derjenige, der nicht beigeladen worden ist, aber beizuladen gewesen wäre, ist nicht Verfahrensbeteiligter und kann daher keine Rechtsmittel einlegen.
3. Die Beiladung ihrerseits setzt ein anhängiges Verfahren voraus.
4. Das erstinstanzliche Gericht kann eine zunächst unterlassene Beiladung zwar noch nach Erlass des Urteils, jedoch nur noch bis zur Einlegung eines Rechtsmittels oder bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils nachholen.
5. Materiell rechtskräftig wird ein Urteil nur im Verhältnis derjenigen, die am Verfahren beteiligt waren, also nicht gegenüber dem übergangenen Beteiligten.
Normenkette
SGG § 75 Abs. 1-2, §§ 140, 160 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beschwerdeführer W. … und E. … gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. November 2001 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) forderte mit Bescheid vom 12. Dezember 1997 vom Westdeutschen Rundfunk (Kläger) rund 9,5 Mio DM Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die Zeit von Januar 1993 bis Juni 1997. Bei einer Betriebsprüfung habe sich ergeben, dass beim Kläger vom 1. Januar 1993 bis 30. Juni 1997 „Rundfunkgebührenbeauftragte” versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, für diese jedoch keine Beiträge gezahlt worden seien. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück. Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Bundesanstalt für Arbeit (Beigeladene zu 1), die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (Beigeladene zu 2), die AOK Rheinland (Beigeladene zu 3), die Barmer Ersatzkasse (Beigeladene zu 4) und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (Beigeladene zu 5) zum Rechtsstreit beigeladenen. Die Rundfunkgebührenbeauftragten W. … … und E. … haben beantragt, sie zum Rechtsstreit „als Zeugen beizuladen”. Das SG hat hierüber nicht entschieden. Mit Urteil vom 27. März 2001 hat es den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Das Urteil ist dem Kläger, der Beklagten und den Beigeladenen zu 1) bis 5) zwischen dem 20. und 25. April 2001 zugestellt worden. Keiner dieser Beteiligten hat Berufung eingelegt.
Mit den am 23. und 25. Mai 2001 beim SG eingegangenen Schreiben vom 21. Mai 2001 haben die Rundfunkgebührenbeauftragten W. … und E. … Beschwerde und Berufung gegen das genannte Urteil eingelegt, weil ihr Antrag auf Beiladung seitens des SG ohne jegliche Antwort geblieben sei. Das SG hat ihnen mitgeteilt, dass nur Beteiligte des Verfahrens Berufung einlegen könnten, sie jedoch keine Beteiligte seien. Nach Weiterleitung des Begehrens an das Landessozialgericht (LSG) haben die beiden Rundfunkgebührenbeauftragten das als „Allgemeine Rechtsangelegenheit” geführte Verfahren in einem Erörterungstermin am 30. Juli 2001 für erledigt erklärt. Am 24. August 2001 hat das SG die Beiladung der Rundfunkgebührenbeauftragten W. … und E. … sowie eine „Ergänzung bzw Berichtigung” des Rubrums seines Urteils vom 27. März 2001 beschlossen. Der Beiladungsbeschluss ist diesen beiden Beigeladenen am 28. bzw 29. August 2001 zugestellt worden. Sie haben am 18. September 2001 Berufungen gegen das Urteil des SG vom 27. März 2001 eingelegt. Das LSG hat ihre Berufungen mit Beschluss vom 19. November 2001 als unzulässig verworfen. Die Berufungsführer könnten keine Rechtsmittel einlegen. Rechtsmittelbefugt seien nur die Beteiligten der Vorinstanz. Die Berufungsführer hätten zwar zum Rechtsstreit notwendig beigeladen werden müssen. Sie hätten jedoch weder im ersten Rechtszug noch durch den Beiladungsbeschluss des SG vom 24. August 2001 die Stellung von Verfahrensbeteiligten erlangt. Werde der konstitutive Beiladungsbeschluss wie vorliegend erst nach Rechtskraft eines Urteils zugestellt, sei er unwirksam und die Beiladung gegenstandslos. Zwar sei im Verfahren vor dem SG der Anspruch der Berufungsführer auf rechtliches Gehör verletzt worden. Ihre Rechtsposition werde aber dadurch gewahrt, dass das Urteil des SG ihnen gegenüber keine materielle Rechtskraft erlange. Ein unter Verstoß gegen § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu Stande gekommenes Urteil sei gegenüber den nicht beigeladenen Dritten wirkungslos.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen haben die beiden Berufungsführer Beschwerde eingelegt, mit der sie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Verfahrensfehler geltend machen.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie genügt nicht den Begründungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.
1. Die Revision ist nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 und 39), dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65) und klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revision entscheidungserheblich wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54). Hieran fehlt es.
a) Die Beschwerdeführer führen aus, das Urteil des LSG sei fehlerhaft; es berücksichtige nicht, dass die Rechtsmittelfrist gegen das Urteil vom 27. März 2001 erst mit der Zustellung der Ergänzungsentscheidung vom 24. August 2001 in Lauf gesetzt worden sei. Damit hat die Beschwerde keine konkrete Rechtsfrage gestellt. Entnimmt man ihr gleichwohl die Frage, ob erst mit der Zustellung eines Urteilsergänzungsbeschlusses die Berufungsfrist in Lauf gesetzt wird, wäre den Darlegungserfordernissen nicht genügt. Die Beschwerde hat nicht aufgezeigt, dass es hierauf ankommen kann. Das LSG hat bereits die Befugnis der Beschwerdeführer zur Einlegung der Berufung verneint: Sie seien durch den erst nach Rechtskraft des SG-Urteils ergangenen Beiladungsbeschluss nicht mehr Beteiligte des erstinstanzlichen Verfahrens und daher nicht nachträglich rechtsmittelbefugt geworden. Die Beschwerde hat nicht aufgezeigt, dass und in welcher Weise eine Urteilsergänzung nicht nur für die bei Verkündung des Urteils und bei Eintritt seiner Rechtskraft Verfahrensbeteiligten eine neue Rechtsmittelfrist in Lauf setzt, sondern darüber hinaus die Rechtsmittelbefugnis der Beschwerdeführer erst begründen konnte. Insoweit wäre es erforderlich gewesen aufzuzeigen, dass im Wege der Urteilsergänzung gemäß § 140 SGG auch noch nach Eintritt der Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils eine Beiladung übergangener Dritter wirksam nachgeholt werden kann und sich dabei mit der vom LSG herangezogenen Rechtsprechung zu den Voraussetzungen und Grenzen einer nachträglichen Beiladung auseinander zu setzen.
b) Wenn man der Beschwerde weiter sinngemäß die Rechtsfrage entnimmt, ob eine Beiladung noch nach Eintritt der Rechtskraft wirksam vorgenommen werden kann, ist die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ebenfalls nicht dargelegt. Eine Rechtssache hat nämlich nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn die Rechtsfrage nicht bereits geklärt oder erneut klärungsbedürftig geworden ist. Auch das muss näher dargelegt werden.
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass ein Rechtsmittel nur demjenigen zusteht, der Beteiligter der Vorinstanz war (BSG Beschluss vom 14. Dezember 1978 – 2 BU 183/78, HVGBG Rundschr VB 22/79 unter Hinweis auf BVerwGE 38, 290, 296 und VGH Baden-Württemberg, DÖV 1975, 646; BVerwG, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr 52; BFHE 113, 350; BFH vom 12. November 1996 – II K 1/93, BFH/NV 1997, 193 zu einem Wiederaufnahmeverfahren; VGH Mannheim, NVwZ 1986, 141). Die Rechtsstellung eines Beteiligten am Verfahren erhält ein Beizuladender erst mit dem Beiladungsbeschluss. Derjenige, der nicht beigeladen worden ist, aber beizuladen gewesen wäre, ist nicht Verfahrensbeteiligter und kann daher keine Rechtsmittel einlegen (BSG Beschluss vom 14. Dezember 1978 – 2 BU 183/78, HVGBG Rundschr VB 22/79; BVerwG, Buchholz 310 § 65 VwGO Nr 45 S 10; BVerwG, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr 52; BFHE 113, 350; BFH vom 22. November 1995 – II B 170/93, nicht veröffentlicht; BFH vom 12. November 1996 – II K 2/93, nicht veröffentlicht; BFH vom 12. November 1996 – II K 1/93, BFH/NV S 193, 194; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 75 RdNr 13f; derselbe in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb § 124 RdNr 38, Stand Mai 1997; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl 2000, § 65 RdNr 43; Ulmer in Hennig SGG § 75 RdNr 34, Stand April 2002).
Die Beiladung ihrerseits setzt ein anhängiges Verfahren voraus. Das erstinstanzliche Gericht kann eine zunächst unterlassene Beiladung zwar noch nach Erlass des Urteils, jedoch nur noch bis zur Einlegung eines Rechtsmittels oder bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils nachholen (vgl BVerwG 6.11.1953, BVG II C 35/53, BVerwGE 1, 27 = NJW 1954, 444 zu § 41 MRVO 165; BSG Beschluss vom 14. Dezember 1978 – 2 BU 183/78, HVGBG Rundschr VB 22/79; Bier in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 65 RdNr 30; Stand März 1999; ähnlich Hommel in Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl § 75 Anm 2; Bley, SGB-SozVers-GesamtKomm, § 75 SGG Anm 2b; Stand März 1994; Ulmer, aaO RdNr 18, Stand April 2002; weiter einschränkend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1989, Bd I/2, S 234 w III: Beiladung durch erstinstanzliches Gericht nicht mehr nach Erlass des Urteils). Ist ein notwendig Beizuladender im ersten Rechtszug nicht beigeladenen worden und kann die Beiladung wegen Eintritts der formellen Rechtskraft des Urteils nicht mehr nachgeholt werden, erwächst das Urteil in formelle Rechtskraft. Materiell rechtskräftig wird es nur im Verhältnis derjenigen, die am Verfahren beteiligt waren, also nicht gegenüber dem übergangenen Beteiligten (BSG Beschluss vom 14. Dezember 1978 – 2 BU 183/78, HVGBG Rundschr VB 22/79; vgl BSGE 51, 89, 91 = SozR 2200 § 381 Nr 44; aA Zeihe, SGG, § 75 RdNr 13c: das Urteil werde materiell rechtskräftig und sei über §§ 181, 182 SGG zu beseitigen; ähnlich Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 75 RdNr 13f).
Die Beschwerdeführer haben sich mit dieser Rechtsprechung nicht auseinander gesetzt. Sie haben nur vorgetragen, eine Verfahrensordnung könne schwerlich sehenden Auges einen Verstoß gegen Art 103 des Grundgesetzes (GG) bestätigen, um den Bürger an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu verweisen; die Rechtsprechung zur Unmöglichkeit einer Beiladung nach Rechtskraft des Urteils sei jedenfalls dann unrichtig und zu korrigieren, wenn der Beteiligte seine Beiladung rechtzeitig beantragt habe und diese nur durch einen Verfassungsverstoß unterblieben sei. Sie könne ohne weiteres dahin entschieden werden, dass die Beiladung nach Rechtskraft eines Urteils für möglich erklärt werde. Dieses Vorbringen kann die Auseinandersetzung mit der bisherigen und vom LSG teilweise herangezogenen Rechtsprechung nicht ersetzen.
Die Beschwerdeführer haben auch nicht aufgezeigt, dass die von ihnen verlangte nachträgliche Einschaltung in das Verfahren mit den Rechten der übrigen Beteiligten und der Rechtssicherheit zu vereinbaren ist und dass nur sie einen effektiven Rechtsschutz gewährleistet. Das LSG hat bereits darauf hingewiesen, dass ein Unterbleiben der notwendigen Beiladung in einem Prozess zur Folge hat, dass sich die Rechtskraft des Urteils nicht auf den Beizuladenden erstreckt. Die Beschwerdeführer sind daher an die ergangene Entscheidung nicht gebunden. Sie können eigenständig ihre Versicherungspflicht durch die Einzugsstelle klären lassen (§ 28h Abs 2 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung ≪SGB IV≫) und sind daran rechtlich zu keiner Zeit gehindert gewesen. Zur Vermeidung oder Auflösung etwaiger widersprüchlicher Entscheidungen enthält das Gesetz Regelungen in §§ 181, 182 SGG. Offen bleiben kann, ob die Beschwerdeführer, nachdem sie von dem Bescheid der Beklagten gegenüber dem Kläger erfahren hatten, ihrerseits gegen diesen Bescheid hätten Widerspruch einlegen können oder ob sie vor dem Urteil des SG bei dessen Untätigkeit in der Beiladungsfrage das LSG hätten anrufen können. – Unter diesen Umständen wären Darlegungen dazu erforderlich gewesen, inwiefern die nachträgliche Einschaltung in den rechtskräftig abgeschlossenen Prozess der einzige Weg zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist. Hierzu wäre erforderlich gewesen aufzuzeigen, welche Rechtsnachteile die Beschwerdeführer erleiden würden, wenn sie den von der Rechtsprechung aufgezeigten Weg der Einleitung eines neuen Verfahrens gehen müssen.
2. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision außerdem zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der geltend gemachte Verfahrensmangel muss sich auf das Verfahren vor dem LSG beziehen (BSG SozR Nr 95 und 196 zu § 162 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 160 RdNr 16a). Ein Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens kann in der Revisionsinstanz nur geltend gemacht werden, wenn er in der Berufungsinstanz fortgewirkt hat und auch das Verfahren vor dem LSG mangelhaft gemacht hat (BSG Beschluss vom 11. April 1995 – 12 BK 97/94, nicht veröffentlicht; BVerwG Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 216; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 196).
Einen derartigen Verfahrensfehler haben die Beschwerdeführer nicht dargelegt. Soweit sie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügen, bezieht sich der beanstandete Verfahrensverstoß allein auf das Verfahren vor dem SG. Selbst wenn man der Beschwerde sinngemäß entnehmen wollte, das LSG habe der nachträglichen Beiladung der Beschwerdeführer zu Unrecht keine Wirkung für das weitere Verfahren beigemessen und daher anstatt eines Sachurteils ein Prozessurteil erlassen, ist ein Verfahrensfehler nicht dargelegt. Auch zur Begründung eines solchen Verfahrensfehlers hätte sich die Beschwerde mit der einschlägigen Rechtsprechung zu den Vorschriften über die Voraussetzungen und Wirkungen einer Urteilsergänzung sowie eines nach Eintritt der Rechtskraft erlassenen Beiladungsbeschlusses auseinander setzen müssen. Hieran fehlt es (vgl II.1).
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen