Verfahrensgang
SG Dresden (Entscheidung vom 06.01.2021; Aktenzeichen S 22 R 820/20) |
Sächsisches LSG (Urteil vom 19.01.2022; Aktenzeichen L 10 R 64/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 19. Januar 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die im Mai 1963 geborene Klägerin begehrt nach operativer Entfernung eines Hirntumors im Jahr 2018 eine Rente wegen Erwerbsminderung. Sie war ab 1979 in der ehemaligen DDR beschäftigt. Nach Abschluss eines Studiums der Rechtswissenschaften war sie vom 1.1.2000 bis zum 30.9.2016 als Justiziarin bei einem Genossenschaftsverband angestellt. Im April 2003 wurde sie als Rechtsanwältin zugelassen und auf ihren Antrag von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Ab dem 1.1.2017 übte die Klägerin eine selbstständige Tätigkeit als Rechtsanwältin in eigener Kanzlei aus.
Der beklagte Rentenversicherungsträger lehnte den im Januar 2020 gestellten Antrag auf Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Zwar sei die Klägerin erwerbsgemindert, doch seien die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dieser Rentenart (sog Drei-Fünftel-Belegung) nicht erfüllt (Bescheid vom 14.2.2020; Widerspruchsbescheid vom 1.7.2020). Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid vom 6.1.2021; Urteil des LSG vom 19.1.2022). Das LSG hat ausgeführt, es spreche viel dafür, dass bei der Klägerin "ein Leistungsfall der Erwerbsminderung" im Mai 2018 eingetreten sei, da sie als Rechtsanwältin und auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seitdem nur noch weniger als drei Stunden täglich tätig sein könne. Die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI seien angesichts des letzten im April 2003 entrichteten Pflichtbeitrags jedoch nicht erfüllt. Die genannte Regelung sei nach der Rechtsprechung des BVerfG mit der Verfassung vereinbar. Etwas anderes folge auch nicht daraus, dass die Klägerin einen Teil ihrer Rentenanwartschaften in der DDR erworben habe, zumal die Rentenüberleitung bei ihr nicht kausal für die Nichterfüllung der Drei-Fünftel-Belegung sei. Ebenso wenig lägen die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch vor.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin, die seit Mai 2018 eine Berufsunfähigkeitsrente des Rechtsanwaltsversorgungswerks bezieht, beim BSG Beschwerde eingelegt. Sie beruft sich auf eine grundsätzliche Bedeutung ihrer Rechtssache.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die Klägerin hat eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Revisionszulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG erforderlichen Weise dargelegt. Ihre Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
Eine Rechtssache hat nur dann iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage zu revisiblem Recht (§ 162 SGG) aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung dieses Revisionszulassungsgrundes (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) muss der Beschwerdeführer daher eine Rechtsfrage benennen und zudem deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 4 mwN; BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 RS 10/21 B - juris RdNr 5). Diesen Anforderungen wird die für die Klägerin vorgelegte Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Die Klägerin führt als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung an,
"ob auch Angehörigen der Freien Berufe, für die eine gesetzliche Rentenversicherungspflicht über ein berufsständisches Versorgungswerk besteht, im Falle des Eintritts einer Berufsunfähigkeit die Regelung des § 43 Abs. 1 bzw. Abs. 2 SGB VI entgegengehalten werden kann".
Es kann hier offenbleiben, ob damit eine aus sich heraus verständliche Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten Regelung des revisiblen Rechts (vgl § 162 SGG) bezeichnet ist. Das erscheint zweifelhaft, weil einerseits der Eintritt von Berufsunfähigkeit für die Anwendung des § 43 SGB VI ohne Bedeutung ist (vgl § 240 SGB VI für Versicherte, die vor dem 2.1.1961 geboren sind) und sich andererseits die 1963 geborene Klägerin für den von ihr geltend gemachten Anspruch auf Erwerbsminderungsrente gerade auf die Anspruchsgrundlagen in § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI beruft.
Letztlich lassen die weiteren Ausführungen der Klägerin erkennen, dass sie das Tatbestandsmerkmal der Erfüllung besonderer versicherungsrechtlicher Voraussetzungen in § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2 bzw Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI für Angehörige der Freien Berufe wegen eines Verstoßes gegen Art 12 und Art 14 GG für verfassungswidrig hält. Eine ernsthaft sich stellende und klärungsbedürftige Rechtsfrage hat sie insoweit jedoch nicht hinreichend aufgezeigt.
Leitet eine Beschwerde einen Revisionszulassungsgrund aus einer Verletzung von Normen des GG ab, muss sie unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG und des BSG zu den (konkret) gerügten Verfassungsnormen bzw -prinzipien in substanzieller Argumentation darstellen, welche gesetzlichen Regelungen welche Auswirkungen haben und woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll (stRspr; zB BSG Beschluss vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 S 14; aus jüngerer Zeit zB BSG Beschluss vom 11.2.2020 - B 10 EG 14/19 B - juris RdNr 11 mwN). Das Vorbringen der Klägerin entspricht dem nicht.
Die Klägerin referiert die Begründung des Beschlusses des BVerfG vom 8.4.1987 (1 BvR 564/84 ua - "BVerfGE 50, 87 - 107" - zutreffend: BVerfGE 75, 78 = SozR 2200 § 1246 Nr 142). Das BVerfG habe entschieden, dass die im Haushaltsbegleitgesetz 1984 geschaffenen Bestimmungen in § 23 Abs 2a, § 24 Abs 2a AVG bzw § 1246 Abs 2a, § 1247 Abs 2a RVO (ab dem 1.1.2001 in § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI fortgeführt), wonach Versicherte ihre Anwartschaft auf eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente nur durch Weiterzahlung von Beiträgen aufrechterhalten können, mit Art 14 Abs 1 und Art 3 Abs 1 GG vereinbar seien. Die mit diesen Regelungen getroffene Inhalts- und Schrankenbestimmung sei nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG gerechtfertigt, weil sie zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele geeignet, erforderlich und noch zumutbar seien (vgl BVerfGE 75, 78, 100 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 142 S 463 ff).
Demgegenüber sei der "zu beklagende Verlust der Rentenanwartschaften der Klägerin im Zeitraum von 1979 - 2003 ≪als≫ derart gravierend, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit offenkundig nicht mehr gewahrt ist". Sie habe nach Jahren der Tätigkeit als angestellte Justiziarin den Entschluss gefasst, sich als Rechtsanwältin selbstständig zu machen. Mit dieser Berufswahl sei zwingend die Konsequenz verbunden gewesen, sich über das Rechtsanwaltsversorgungswerk "rententechnisch abzusichern". Die Regelung zur Drei-Fünftel-Belegung verwehre es ihr, auf ihre jahrzehntelang erwirtschafteten Rentenanwartschaften auf Erwerbsminderungsrente zuzugreifen. Der Hinweis des LSG auf die Möglichkeit, "ihre Rentenanwartschaften bei der BFA durch Fortzahlung des Mindestbeitrages von 3/10 des Regelpflichtbeitrages zu erhalten", stelle für sie - die Klägerin - keine Rechtfertigung "für die verlustbringenden gesetzlichen Regelungen" dar. Die "Erhöhung der Anwartschaften bei der BFA durch Fortzahlung des Mindestbeitrages des Regelpflichtbeitrages" sei derart marginal, dass unter Berücksichtigung der regelmäßigen Inflationsraten von einem Wertzuwachs keine Rede sein könne.
Dieser Vortrag lässt nicht erkennen, aus welchen nachvollziehbar bezeichneten Gründen es für die Klägerin unverhältnismäßig oder gar unzumutbar gewesen sein könnte, nach ihrer Zulassung zur Rechtsanwaltschaft im Jahr 2003 die damals bereits erworbene Anwartschaft auf eine Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung durch Entrichtung weiterer Beiträge aufrechtzuerhalten. Mit den Ausführungen des BVerfG im Beschluss vom 8.4.1987 speziell zur Frage der Zumutbarkeit dieser Regelung für Versicherte, die schon eine Anwartschaft erlangt hatten, setzt sie sich nur unzureichend auseinander (vgl BVerfGE 75, 78, 103 f = SozR 2200 § 1246 Nr 142 S 459, 466). Ihrer verfassungsrechtlichen Argumentation legt sie die pauschale Behauptung zugrunde, dass der Wertzuwachs ihrer Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung im Falle einer Fortzahlung des Mindestbeitrags des Regelpflichtbeitrags unter Berücksichtigung der regelmäßigen Inflationsraten evident unzureichend gewesen wäre. Sie unterlässt es jedoch, diese Behauptung anhand der einschlägigen Vorschriften nachvollziehbar zu belegen. So lässt sie beispielsweise die Anpassung der gesetzlichen Renten nach Maßgabe des aktuellen Rentenwerts außer Acht (vgl § 64 Nr 3 iVm § 68 SGB VI). Den Hinweis des LSG auf die Möglichkeit ihres Verbleibens in der gesetzlichen Rentenversicherung als angestellte Justiziarin (dh mit weiterhin voller Beitragszahlung zur gesetzlichen Rentenversicherung und Erwerb weiterer Entgeltpunkte sowohl für die Altersrente als auch für einen dann aufrechterhaltenen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente) bei zusätzlicher Zahlung lediglich des Mindestbeitrags zum Rechtsanwaltsversorgungswerk (vgl LSG-Urteil Umdruck S 23; s dazu zB auch BSG Urteil vom 23.9.2020 - B 5 RE 3/19 R - BSGE 131, 32 = SozR 4-2600 § 231 Nr 8, RdNr 22) berücksichtigt sie nicht. Damit wird aus dem Vortrag der Klägerin nicht ausreichend deutlich, auf welcher tatsächlichen Grundlage in ihrem Fall - bzw allgemein für Angehörige der Freien Berufe - das mit der Drei-Fünftel-Belegung verbundene Erfordernis, eine bereits erworbene Anwartschaft auf eine Erwerbsminderungsrente der gesetzlichen Rentenversicherung mit weiteren Pflichtbeiträgen von hinreichender Dichte aufrechtzuerhalten, unzumutbar sein könnte.
Soweit die Klägerin durch die gesetzliche Regelung zur Drei-Fünftel-Belegung auch die Freiheit der Berufswahl gemäß Art 12 GG "in ungerechtfertigter Weise tangiert" sieht, fehlt es an jeglichen Ausführungen, woraus sich eine Verletzung dieses Grundrechts ergeben könnte.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 iVm § 193 Abs 1 und 4 SGG.
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Fundstellen
Dokument-Index HI15285359 |