Entscheidungsstichwort (Thema)
Insolvenzgeld. Versäumung der Antrags- bzw Ausschlussfrist. Europarechtskonformität. sozialgerichtliches Verfahren. grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
Leitsatz (amtlich)
Die EWGRL 987/80 steht der Anwendung der Regelung zur Ausschlussfrist für die Beantragung von Insolvenzgeld nicht entgegen (Anschluss an EuGH vom 18.9.2003 - C-125/01 - Peter Pflücke = SozR 4-4300 § 324 Nr 1).
Orientierungssatz
Die Auffassung, die Einzelregelungen des § 324 Abs 3 SGB 3 seien unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH und insbesondere unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Effektivität europarechtskonform auszulegen, kann nicht zur Annahme grundsätzlicher Bedeutung und zur Zulassung der Revision führen.
Normenkette
SGB 3 § 324 Abs. 3 Sätze 1-2; AFG § 141e Abs. 1; SGB 3 § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; EWGRL 987/80; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Insolvenzgeld (Insg).
Die Klägerin war bis April 2000 in einem Unternehmen ihres damaligen Ehemannes (im Folgenden: Arbeitgeber) als Büroleiterin und Assistentin mit einem Monatsgehalt von 3.000,-- DM brutto beschäftigt. Am 8. Mai 2002 wurde über das Vermögen des Arbeitgebers das Insolvenzverfahren eröffnet. Am 26. Juli 2002 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Insg-Antrag. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 21. November 2002 die Gewährung von Insg mit der Begründung ab, die Klägerin habe das Insg trotz Kenntnis von der Insolvenzeröffnung nicht rechtzeitig beantragt. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2003), ebenso die Klage (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 10. November 2004).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 17. April 2007). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die Klägerin habe die zweimonatige Ausschlussfrist des § 324 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) versäumt. Eine Nachfrist nach § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III sei ihr nicht einzuräumen. Soweit die Klägerin geltend mache, ihre Unkenntnis von der Antragsfrist beruhe auf einer fehlerhaften Auskunft eines Mitarbeiters des Insolvenzverwalters, sei das Gericht nach Würdigung der Aussage dieses als Zeugen vernommenen Mitarbeiters sowie der Angaben der Klägerin während des gesamten Verfahrens nicht davon überzeugt, dass die Klägerin falsch beraten und deswegen ohne Verschulden von einer rechtzeitigen Insg-Antragstellung abgehalten worden sei. Auszugehen sei ferner davon, dass die Vorschrift des § 324 Abs 3 SGB III auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 18. September 2003 - C-125/01 - europarechtskonform sei.
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Klägerin mit der Beschwerde. Sie rügt die Ansicht des LSG, wonach "§ 324 Abs 3 SGB III europarechtskonform" sei. Da "diese Rechtsfrage" bislang noch nicht durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) oder des EuGH geklärt worden sei, sie jedoch in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle entscheidungserheblich sei, besitze sie grundsätzliche Bedeutung.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.
Es kann dahinstehen, ob die Beschwerdebegründung eine hinreichende Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) enthält (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Dies ist deswegen zweifelhaft, weil sich die Beschwerdeführerin nicht näher mit den Ausführungen des EuGH zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung einer Vorschrift (vgl EuGH SozR 4-4300 § 324 Nr 1 RdNr 48, 49) befasst und auch nicht auf seit Bekanntwerden des zitierten Urteils des EuGH ergangene Rechtsprechung und die - teilweise bereits in der Entscheidung des LSG zitierten - Äußerungen im Schrifttum (vgl zB Nachweise bei Peters-Lange info also 2007, 51, 55 ff) eingeht.
Die Beschwerde kann aber jedenfalls deswegen keinen Erfolg haben, weil die behauptete grundsätzliche Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfrage, ob § 324 Abs 3 SGB III europarechtskonform sei, zu verneinen ist. Eine für den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung erforderliche Klärungsbedürftigkeit ist nicht zu erkennen.
Die Antwort auf die aufgeworfene Rechtsfrage, nämlich ob § 324 Abs 3 SGB III von vornherein gegen die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts verstößt, ergibt sich bereits aus der von der Beschwerdeführerin allein angeführten Entscheidung des EuGH (aaO, ua RdNr 33, 34, 35, 46). Danach steht die Richtlinie 80/987/EWG der Anwendung einer Ausschlussfrist nicht entgegen, binnen deren ein Arbeitnehmer nach nationalem Recht den Antrag auf Zahlung von Konkursausfallgeld ≪Kaug≫ (jetzt: Insg) nach Maßgabe dieser Richtlinie stellen muss, wenn die betreffende Frist nicht weniger günstig ist als bei gleichartigen innerstaatlichen Anträgen (Grundsatz der Gleichwertigkeit) und nicht so ausgestaltet ist, dass sie die Ausübung der von der Gemeinschaftsordnung eingeräumten Rechte praktisch unmöglich macht (Grundsatz der Effektivität). Es liegt auf der Hand, dass die Ausschlussfrist in § 324 Abs 3 SGB III, die eine inhaltsgleiche Nachfolgeregelung zu der - der Entscheidung des EuGH zu Grunde liegenden - Vorgängervorschrift des § 141e Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) darstellt (vgl SozR 4-4300 § 324 Nr 1 RdNr 10; früher noch offen gelassen im Senatsbeschluss vom 27. August 2002 - B 11 AL 45/02 B) die vom EuGH genannten Bedingungen erfüllt. Wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist der Grundsatz der Gleichwertigkeit gewahrt, da - was in der Beschwerdebegründung nicht hinreichend berücksichtigt worden ist - die Anforderungen der Gewährung bei vergleichbaren Lohnersatzleistungen, insbesondere beim Arbeitslosengeld (vgl §§ 37b, 140 SGB III) und Kurzarbeitergeld (§ 173 Abs 2, § 325 Abs 3 SGB III) nicht grundsätzlich großzügiger sind (vgl dazu näher Peters-Lange info also 2007, 51, 56; dieselbe in Gagel, SGB III, § 183 RdNr 4a ff). Soweit die Beschwerdebegründung geltend macht, für das Kurzarbeitergeld betrage die Ausschlussfrist gemäß § 325 Abs 3 SGB III - anders als beim Insg - drei Monate, ist dies kein gravierender Unterschied, zumal in § 325 Abs 3 SGB III keine Nachfrist vorgesehen ist (vgl Leitherer in Eicher/Schlegel, SGB III, § 325 RdNr 37 ff). Die in der Beschwerdebegründung sinngemäß behauptete vollständige Unbeachtlichkeit der Bestimmungen des § 324 Abs 3 SGB III zur Ausschlussfrist lässt sich auch nicht ernsthaft mit der Erwägung begründen, die Vorschrift sei so ausgestaltet, dass sie die Ausübung eingeräumter Rechte "praktisch unmöglich" mache (vgl EuGH aaO RdNr 34, 36). Die Ansicht, § 324 Abs 3 SGB III müsse definitiv unangewendet bleiben, wird auch - soweit ersichtlich - in Rechtsprechung und Schrifttum nicht vertreten (vgl ua LSG Berlin-Brandenburg info also 2006, 256; Peters-Lange in Gagel, SGB III mit SGB II, § 183 SGB III RdNr 4b, 4c; dieselbe in info also 2007, 51, 56; Niesel, SGB III, 4. Aufl, § 324 RdNr 18 und Krodel in Niesel, aaO, § 183 RdNr 10).
Soweit allerdings die Auffassung vertreten wird, die Einzelregelungen des § 324 Abs 3 SGB III, speziell die Sätze 2 und 3 der Regelung, seien unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung und insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Effektivität europarechtskonform auszulegen (vgl etwa SG Aachen, Urteil vom 21. November 2003, S 8 AL 64/03, und hierzu Peters-Lange info also 2007, 51, 55), kann dies - selbst wenn man das Vorbringen der Beschwerdebegründung im Sinne dieser Auslegungsfrage interpretieren würde - nicht zur Annahme grundsätzlicher Bedeutung und zur Zulassung der Revision im vorliegenden Fall führen. Denn die Frage, ob einem Antragsteller im Einzelfall eine Nachfrist nach Maßgabe des § 324 Abs 3 SGB III zu gewähren ist und welche Anforderungen unter Beachtung des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Effektivität hierbei zu stellen sind, lässt sich nicht allgemein beantworten, sondern muss der Entscheidung im Einzelfall vorbehalten bleiben (vgl auch EuGH aaO, RdNr 45). In der Beschwerdebegründung wird insoweit im Übrigen auch nicht konkret vorgetragen, das LSG habe trotz vorgenommener Beweiswürdigung unter Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts zu einer anderen Entscheidung kommen müssen. Selbst wenn aber dem Gesamtvorbringen der Beschwerdebegründung zu entnehmen wäre, das LSG habe unrichtig entschieden, würde sich dies lediglich auf das für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren grundsätzlich unerhebliche Ergebnis in der Sache beziehen, und könnte nicht den geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen