Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Ausführungsbescheid. Anfechtbarkeit. Rechtskräftiges Urteil. Bindungswirkung. Zurückverweisung
Leitsatz (redaktionell)
1. Sogenannte Ausführungsbescheide treffen grundsätzlich keine Regelung i.S. des § 31 S. 1 SGB X, soweit die Behörde nur der im Urteil auferlegten Verpflichtung entspricht.
2. Der Ausführungsbescheid hat insoweit dann eine Regelungsfunktion, die ihm die Eigenschaft eines Verwaltungsaktes i.S. von § 31 SGB X verleiht, wenn das Urteil für den Leistungsausspruch zu unbestimmt und es zur Feststellung der Leistungsdauer und -höhe noch eine Konkretisierung durch eine Regelung i.S. eines Verwaltungsaktes erforderlich ist, so auch in Fällen rechtskräftiger Urteile, wenn die MdE noch eigenständig festzustellen ist.
3. Die Bindung eines Urteils erfasst grundsätzlich nur die Urteilsformel, deren Tragweite allerdings auch unter Heranziehung der Urteilsgründe einschließlich der tatsächlichen Feststellungen im Urteilstatbestand zu bestimmen ist.
4. Wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Gerichts, ohne an die gestellten Anträge gebunden zu sein, nach § 160a Abs. 5 SGG zu verfahren.
Normenkette
SGG § 136 Abs. 1 Nrn. 4-6, §§ 141, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5; SGB X § 31
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 25.10.2002) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Oktober 2002 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft den Beginn der dem Kläger auf seinen Überprüfungsantrag hin gewährten Beschädigtenversorgung.
Der 1921 geborene Kläger hatte erstmals mit Antrag vom 2. April 1991 Beschädigtenversorgung wegen einer als Angehöriger der Lettischen Legion an der Ostfront bei Nowgorod am 21. Mai 1943 erlittenen Granatsplitterverletzung geltend gemacht. Durch Bescheid vom 12. Juni 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 1994 war dieser Antrag vom Beklagten bestandskräftig abgelehnt worden. Nachdem sich im Jahre 1996 andere Personen (D. K., R., und Rechtsanwalt Dr. H., S.) für den Kläger an den Beklagten gewandt hatten, stellte dieser im April 1997 persönlich einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), der zunächst ohne Erfolg blieb (Bescheid des Beklagten vom 14. September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 1998). Auf die Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) Stuttgart den Beklagten, den Antrag des Klägers auf Erteilung eines Rücknahmebescheides unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden (Urteil vom 29. September 2000). Im Tatbestand dieser Entscheidung bezeichnete das SG als Datum des Überprüfungsantrags des Klägers den 14. April 1997. Zur Ausführung des Urteils erließ der Beklagte den Bescheid vom 27. März 2001; danach wurde dem Kläger nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab dem 1. Januar 1993 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH gewährt, wobei der Beklagte einen Überprüfungsantrag des Klägers vom 14. April 1997 zu Grunde legte. Mit Widerspruch, Klage und Berufung hat der Kläger erfolglos die Gewährung von Versorgung auch für die Zeit vom 28. März 1991 (Datum des Erstantragsschreibens) bis zum 31. Dezember 1992 geltend gemacht (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 17. August 2001; Urteil des SG vom 4. April 2002; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 25. Oktober 2002). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Mit seiner Klage wende sich der Kläger gegen den Ausführungsbescheid vom 27. März 2001. Ein solcher Verwaltungsakt sei nur beschränkt anfechtbar, nämlich nur insoweit, als er das zu Grunde liegende Urteil nicht korrekt ausgeführt habe. Ein derartiger Mangel liege hier nicht vor. Nach den Gründen des Urteils des SG vom 29. September 2000 sei der 14. April 1997 das maßgebliche Antragsdatum gewesen. Daher sei in Anwendung der Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X der 1. Januar 1993 zutreffend als Leistungsbeginn festgelegt worden.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil macht der Kläger gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Verfahrensmängel geltend.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg.
Wie der Kläger formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und zutreffend gerügt hat, ist das die Berufung des Klägers zurückweisende Urteil des LSG verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Die Vorinstanz hat den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 27. März 2001 unter Verkennung der Rechtskraft des Urteils des SG vom 29. September 2000 zu Unrecht insoweit nicht als anfechtbar angesehen, als er den 14. April 1997 als Datum des Überprüfungsantrags zu Grunde gelegt hat (vgl dazu BSGE 1, 52 = SozR Nr 78 zu § 162 SGG; BSGE 8, 185 = SozR Nr 118 zu § 162 SGG; BSGE 8, 284 = SozR Nr 123 zu § 162 SGG; BSG vom 22. September 1999 - B 13 RJ 71/99 B - mwN). Indem die Klage in diesem Punkt praktisch als unzulässig behandelt worden ist, hat das LSG dem Kläger insoweit rechtsfehlerhaft eine Sachentscheidung verwehrt. Darin liegt ein Verfahrensmangel, der im Rahmen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zu berücksichtigen ist (vgl dazu BSGE 3, 293; BSG vom 25. Juni 2002 - B 11 AL 23/02 R -; BSGE 39, 200, 201 = SozR 1500 § 144 Nr 3; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 16; BSG vom 18. Februar 1988 - 9/9a BV 203/87).
Mit dem LSG ist zunächst davon auszugehen, dass sog Ausführungsbescheide grundsätzlich keine Regelung iS des § 31 Satz 1 SGB X treffen (vgl BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 27 S 189, 192), soweit die Behörde nur der im Urteil auferlegten Verpflichtung entspricht (vgl von Wulffen/Engelmann, SGB X, 4. Aufl, § 31 RdNr 30 mwN). Etwas anderes gilt aber, wenn das Urteil für den Leistungsausspruch zu unbestimmt und zur Feststellung der Leistungsdauer und -höhe noch eine Konkretisierung durch eine Regelung iS eines Verwaltungsaktes erforderlich ist (von Wulffen/Engelmann, aaO, mwN), so auch in Fällen rechtskräftiger Urteile, wenn die MdE noch eigenständig festzustellen ist (von Wulffen/Engelmann, aaO); insoweit hat der Ausführungsbescheid dann eine Regelungsfunktion, die ihm die Eigenschaft eines Verwaltungsaktes iS von § 31 SGB X verleiht (Senatsurteile vom 2. Juli 1997, SozR 3-3200 § 88 Nr 2 S 4, 8; vom 29. Januar 1992 - 9a RV 2/91 -).
Auf dieser rechtlichen Grundlage ist hier auch die Feststellung im Ausführungsbescheid vom 27. März 2001, wonach diesem eine Rückwirkung auf den 1. Januar 1993 beigelegt werde, als Regelung nach Art eines Verwaltungsaktes anzusehen. Hierin liegt eine Willensentscheidung des Beklagten, der den Vierjahreszeitraum nach § 44 Abs 4 SGB X ausgehend von einem am 14. April 1997 gestellten Überprüfungsantrag des Klägers berechnet hat. Nach dieser Vorschrift werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs (zu denen nach § 68 Nr 7 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - ≪SGB I≫ auch das BVG gehört; vgl allg auch §§ 5, 24 SGB I) längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht; erfolgt - wie hier - die Rücknahme auf Antrag, so wird der Zeitpunkt der Rücknahme vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag gestellt wird.
Hinsichtlich des Beginns der im Zugunstenwege gewährten Versorgung ist dem Rücknahmebescheid vom 27. März 2001 eine den Beklagten bindende Gerichtsentscheidung nicht vorausgegangen. Das Urteil des SG vom 29. September 2000 enthält zur Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X keine Aussage, sodass es insoweit auch nicht in Bindung erwachsen konnte. Nach der die Bindung des Urteils abschließend regelnden Vorschrift in § 141 Abs 1 Satz 1 SGG binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (vgl Senatsurteil vom 2. Juli 1997, SozR 3-3200 § 88 Nr 2). Die Bindung erfasst grundsätzlich nur die Urteilsformel (§ 136 Abs 1 Nr 4 SGG), deren Tragweite allerdings auch unter Heranziehung der Urteilsgründe (einschließlich der tatsächlichen Feststellungen im Urteilstatbestand ≪§ 136 Abs 1 Nr 5 und 6 SGG≫; vgl Meyer-Ladewig, SGG, Komm, 7. Aufl, § 141 RdNr 8, 11c mwN) zu bestimmen ist. Hier hat sich das SG darauf beschränkt, dem Beklagten aufzugeben, den Antrag des Klägers auf Erteilung eines Rücknahmebescheides unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden, ohne Festlegungen zum Leistungsbeginn zu treffen. Die bloße Erwähnung eines Antragsdatums im Urteilstatbestand, auf die sich das LSG bezogen hat, reicht für eine Rechtskraftbindung nicht aus, da diesem Datum nach dem Inhalt der Entscheidung des SG keine unmittelbar tragende Bedeutung zukommt.
Die angefochtene Entscheidung des LSG kann auch auf dem danach vorliegenden Verfahrensmangel beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Vorinstanz bei Überprüfung des vom Beklagten angenommenen Antragsdatums zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Dies ergibt sich schon daraus, dass bereits im Jahre 1996 für den Kläger Schriftverkehr mit dem Beklagten stattgefunden hat, der einen wirksamen Überprüfungsantrag enthalten könnte. Ließe sich ein solcher feststellen, wäre nach § 44 Abs 4 SGB X Versorgung bereits ab 1. Januar 1992 zu gewähren.
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG somit vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Gerichts, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren; insoweit ist der Senat nicht an die gestellten Anträge gebunden (Senatsbeschlüsse vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 60/02 B - und 12. Juni 2003 - B 9 SB 62/02 B -). Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen zum Zeitpunkt des Überprüfungsantrages des Klägers geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal auch ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem anderen Ergebnis führen könnte. Sollte das LSG im fortgesetzten Berufungsverfahren unter dem Gesichtspunkt einer fraglichen Vollmacht Zweifel an der rechtlichen Wirksamkeit eines im Jahre 1996 durch einen Dritten für den Kläger gestellten Überprüfungsantrages haben, wird es dem Kläger Gelegenheit geben müssen, den maßgeblichen Antrag zu genehmigen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen