Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung zur Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung bei neu ergehendem Bescheid im Berufungsverfahren. rechtliches Gehör. faires Verfahren. überlange Verfahrensdauer. soziale Pflegeversicherung
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert, ist eine erneute Anhörung gem. § 153 Abs. 4 S. 2 SGG erforderlich.
2. Die Prozesssituation ändert sich entscheidungserheblich, wenn das Gericht seine gegenüber den Beteiligten in einem entscheidungserheblichen Punkt geäußerte Rechtsauffassung ändert.
3. Die Verletzung des § 153 Abs. 4 SGG führt zur nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts ohne ehrenamtliche Richter und ist daher ein absoluter Revisionsgrund.
4. Mit der Verletzung des § 153 Abs. 4 SGG ist auch der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
5. Aus der Verletzung des § 153 Abs. 4 SGG folgt ein Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren.
6. Jedenfalls bei einer zehnjährigen Verfahrensdauer zwischen Klage und Berufungsurteil mit zwischenzeitlicher dreijähriger Untätigkeit des Berufungsgerichts liegt ein Verstoß vor gegen das Recht zum fairen Verfahren, eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu treffen und tatsächliche oder rechtliche Hindernisse zügig auszuräumen, die einer solchen Entscheidung entgegenstehen.
Leitsatz (amtlich)
Das Landessozialgericht muss die Beteiligten erneut zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss anhören und ggf eine mündliche Verhandlung durchführen, wenn ein im Berufungsverfahren neu ergehender Bescheid Verfahrensgegenstand wird.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 153 Abs. 4 Sätze 1-2, § 96 Abs. 1, § 62; GG Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6; SGB XI
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin werden die Beschlüsse des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. März und 4. Juni 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin des im April 2007 verstorbenen Versicherten J. G. (im Folgenden: G.), der bei der beklagten Pflegekasse gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit pflichtversichert gewesen ist. Streitbefangen waren und sind Leistungen nach der Pflegestufe III.
Mit Urteil vom 19.12.2006 hat das SG einer bereits im Mai 2002 erhobenen Klage des G. teilweise stattgegeben und die Beklagte verurteilt, diesem nicht nur für die bewilligte Zeit ab 4.4.2002 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu gewähren, sondern auch schon für den Zeitraum vom 6.6.2001 bis 3.4.2002; außerdem hat es ihm für die Zeit ab 1.2.2005 Leistungen nach der Pflegestufe II zuerkannt. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe zu keinem Zeitpunkt Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe III bestanden, weil die hierfür erforderlichen gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt seien. Hinsichtlich der erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19.12.2006 geltend gemachten Ansprüche auf Pflegeleistungen für die Zeit vom 1.4.1995 bis 5.6.2001 sei die Klage sogar unzulässig, weil die Beklagte darüber noch gar nicht entschieden habe und es folglich an dem notwendigen Vorverfahren mangele.
Mit Bescheid vom 24.1.2008 und Widerspruchsbescheid vom 17.12.2008 hat es die Beklagte abgelehnt, Pflegeversicherungsleistungen auch schon ab 1.4.1995 zu gewähren, weil für Zeiten vor dem 6.6.2001 keine Pflegebedürftigkeit bei G. feststellbar sei. In der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides ist gemäß § 85 Abs 3 S 4 SGG auf die Anfechtbarkeit vor dem SG hingewiesen worden.
Im Berufungsverfahren hat die Berichterstatterin des LSG die Beteiligten mit Formschreiben vom 11. bzw 12.9.2007 (Bl 322 R LSG-Akte) davon unterrichtet, dass eine Entscheidung gemäß § 153 Abs 4 SGG durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung beabsichtigt sei. Die anwaltlich nicht vertretene Klägerin hat dieser Absicht des LSG widersprochen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt und zudem darauf hingewiesen, dass der im Widerspruchsverfahren bestätigte Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 ebenfalls zum Gegenstand des Verfahrens geworden sei. Mit weiterem Schreiben der Berichterstatterin des LSG vom 4. bzw 7.4.2008 (Bl 362 LSG-Akte) ist den Beteiligten mitgeteilt worden, dass es bei der angekündigten Verfahrensweise - Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - verbleibe; sodann heißt es: "Der Antrag auf Überprüfung des Pflegegeldes für den Zeitraum 1995 bis 2001 wird nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens."
Mit Beschluss des LSG vom 22.3.2012 - in der Zeit vom 3.2.2009 bis zu dieser Beschlussfassung sind keinerlei richterliche oder sonstige Aktivitäten aktenkundig - hat das LSG die Berufung einstimmig als unbegründet zurückgewiesen. Entgegen der zunächst im Berufungsverfahren geäußerten Auffassung sei der Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2008 jedoch gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden, weil G. schon im Jahre 2001 und früher auf in der Vergangenheit gestellte Anträge und entsprechende Falschbescheide der Beklagten hingewiesen habe. Deshalb sei der hier streitige Ausgangsbescheid der Beklagten vom 26.7.2001 - auch - als Ablehnung einer entsprechenden Überprüfung zu werten. Der Klägerin stünden die begehrten Leistungen nach der Pflegestufe III indes weder für die Zeit vom 1.4.1995 bis 5.6.2001 noch für Zeiten danach zu, weil der versicherte G. die dafür maßgeblichen Leistungsvoraussetzungen zu keiner Zeit erfüllt habe.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Verfahrensweise des LSG. Zum einen hätte das Berufungsgericht nicht auf die beantragte Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichten dürfen, weil es den streitigen Sachverhalt entgegen früherer Ankündigung in einem wesentlichen Punkt später anders bewertet habe. Damit sei auch ihr Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, denn sie habe sich zum Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 nicht mehr äußern können. Durch die übermäßig lange Verfahrensdauer sei zudem ihr Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verletzt.
Auf Veranlassung des erkennenden Senats ist der Beschluss vom 22.3.2012 den Beteiligten am 4.6.2012 nochmals - nunmehr mit korrekter Rechtsmittelbelehrung - zugestellt worden.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wegen Verfahrensfehlern und Zurückverweisung an das LSG begründet.
1. Die Klägerin beanstandet mit Recht, dass das LSG über ihre Berufung entschieden hat, ohne sie erneut gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG vor der Beschlussfassung anzuhören.
a) Gemäß § 153 Abs 4 S 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach S 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 S 2 SGG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 11; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN). Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl BSG aaO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 153 RdNr 20). Insoweit gilt Entsprechendes wie für den sog Verbrauch einer Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG (BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8).
b) Die Prozesssituation ändert sich auch dann entscheidungserheblich, wenn das LSG seine gegenüber den Beteiligten in einem entscheidungserheblichen Punkt geäußerte Rechtsauffassung ändert (BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 14). Die Beteiligten müssen dann vor der Beschlussfassung gemäß § 153 Abs 4 S 1 SGG erneut Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Dies ist hier nicht geschehen; nach der von der Berichterstatterin des LSG geäußerten Rechtsauffassung zur Frage der Einbeziehung des streitigen Zeitraums 1995 bis 2001 gemäß § 96 Abs 1 SGG hat das Berufungsgericht diametral entgegengesetzt entschieden und damit einen Verfahrensfehler begangen - ungeachtet der Frage, ob die eine oder die andere Verfahrensweise rechtens gewesen wäre.
c) Bei einer Verletzung des § 153 Abs 4 SGG sind keine näheren Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers erforderlich. Da das LSG nur nach einer erneuten Anhörungsmitteilung im gewählten vereinfachten Beschlussverfahren hätte entscheiden dürfen, bedarf es keiner Prüfung, was die Klägerin auf den gebotenen schriftlichen Hinweis zur geänderten Rechtsmeinung oder in einer mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte. Es handelt sich um einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, denn die Verletzung des § 153 Abs 4 SGG führt zur nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des LSG ohne ehrenamtliche Richter (BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 17; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 10). Mit einer Verletzung des § 153 Abs 4 SGG ist regelmäßig, auch ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, zugleich die Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufsrichtern und damit ein absoluter Revisionsgrund nach § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO gerügt (BSG Beschluss vom 23.5.2012 - B 14 AS 10/12 B -; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13).
2. Damit ist auch der Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt. Grundsätzlich darf nämlich eine Entscheidung nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher gar nicht oder nicht in dieser Weise erörtert worden sind, so dass der Rechtsstreit dadurch eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 62 RdNr 8b, mit zahlreichen weiteren Rspr-Nachweisen). Dies gilt erst Recht, wenn das Gericht - wie hier - eine konkrete Rechtsansicht kundtut, anschließend jedoch wieder davon abrückt, ohne den Beteiligten die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen.
Letztlich folgt daraus ebenfalls ein Verstoß des LSG gegen den Anspruch der Klägerin auf ein faires Verfahren (BVerfGE 57, 250, 275; 78, 123; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, Vor § 60 RdNr 1b): Die damals anwaltlich nicht vertretene Klägerin hatte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gerade mit dem Argument beantragt, der im Widerspruchsverfahren bestätigte Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 sei zum Gegenstand des laufenden Verfahrens geworden. Nach dem anderslautenden Hinweis der Berichterstatterin des LSG vom 4. bzw 7.4.2008 muss es ihr schlechterdings unverständlich erschienen sein, dass das LSG ihrer Argumentation im Beschluss vom 22.3.2012 nunmehr gefolgt ist, ohne ihr indes die Möglichkeit zu einer - weiteren - Stellungnahme einzuräumen.
3. Das LSG durfte schließlich auch deshalb nicht nach § 153 Abs 4 SGG verfahren, weil die Bescheide vom 24.1. und 17.12.2008, die das LSG letztendlich doch gemäß § 96 SGG in das laufende Verfahren einbezogen hat, während des Berufungsverfahrens ergangen sind. Das LSG war insoweit aber nicht als Berufungs-, sondern als erstinstanzliches Gericht zuständig und hätte allein schon wegen der Einbeziehung dieser Bescheide eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, weil die Klägerin einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht zugestimmt hatte (vgl Keller, aaO, § 153 RdNr 15b). Demzufolge hätte das LSG auch im Tenor klarstellen müssen, dass die Klage gegen den Bescheid vom 24.1.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2008 abgewiesen wird.
4. Der zu entscheidende Fall gibt für den erkennenden Senat erneut Veranlassung, auf Folgendes hinzuweisen: Die Klage ist im Mai 2002 erhoben und nach knapp zehn Jahren im März 2012 zweitinstanzlich entschieden worden. Eine solche Verfahrensdauer ist auch unter Berücksichtigung der nicht ganz einfachen Sach- und Rechtslage deutlich zu lang. Dies gilt hier umso mehr, als der Rechtsstreit beim LSG zwischen 2009 und 2012 über drei Jahre lang nicht bearbeitet und damit überhaupt nicht iS von § 106 SGG "gefördert" worden ist. Der Streit um Versicherungsleistungen nach dem SGB XI berührt oft die finanzielle Basis der Pflegebedürftigen und hat für diese deshalb eine besondere Bedeutung. In Anlehnung an den Rechtsgedanken aus Art 6 Europäische Menschenrechtskonvention gehört es auch im öffentlichen Recht zum fairen Verfahren, eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu treffen und tatsächliche oder rechtliche Hindernisse zügig auszuräumen, die einer solchen Entscheidung entgegenstehen. Dieser Verpflichtung ist zumindest das LSG nicht gerecht geworden.
5. Der von der Klägerin unter Beachtung der Darlegungsanforderungen (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) gerügte Verfahrensmangel liegt vor und führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung der beiden Beschlüsse vom 22.3. und 4.6.2012 und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Der Senat hat - trotz gewisser Bedenken - davon Abstand genommen, den Rechtsstreit gemäß § 202 SGG iVm § 563 Abs 1 S 2 ZPO an einen anderen Senat des LSG zurückzuverweisen.
6. Im Rahmen des erneut durchzuführenden Berufungsverfahrens wird das LSG auch über die Kosten dieses Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen