Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe bei Entscheidung mit Mehrfachbegründung
Orientierungssatz
1. Beruht eine Entscheidung des Berufungsgerichts auf mehreren selbstständig tragenden Begründungen, so kann die Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zur Zulassung der Revision führen, wenn für jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund erfolgreich geltend gemacht wird (vgl BSG vom 24.9.1980 - 11 BLw 4/80 = SozR 1500 § 160a Nr 38, vom 22.4.2010 - B 1 KR 145/09 B, vom 5.12.2007 - B 11a AL 112/07 B, vom 25.6.2007 - B 3 KR 28/06 B und vom 27.7.2006 - B 7a AL 52/06 B).
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 1. Kammer vom 15.9.2016 - 1 BvR 1731/16).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Sätze 1, 3, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 23. Juli 2015 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Im Streit sind höhere Leistungen für die Unterkunft nach dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit vom 1.1. bis 31.3.2009.
Der 1928 geborene Kläger, der Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) bezieht, bewohnt eine 65 qm große Wohnung in einem Haus, das im Eigentum seines Sohnes steht. Nach dem zwischen ihm und seinem Sohn bestehenden Mietvertrag hat er dafür monatlich 273 Euro Grundmiete, 65 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 66,30 Euro für Heizkosten und Warmwasser zu leisten. Ab Januar 2009 berücksichtigte die Beklagte als Bedarf für die Unterkunft nur noch die Grundmiete, weil der Kläger eine den Vorgaben des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entsprechende Nebenkostenabrechnung nicht vorgelegt habe (Bescheid vom 22.1.2009; Widerspruchsbescheid vom 7.4.2009). Die Klage, gerichtet auf die Übernahme höherer Kosten der Unterkunft (auch der Nebenkosten), blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 18.9.2012; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Sachsen-Anhalt ohne mündliche Verhandlung vom 23.7.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Kläger habe tatsächlich keine Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erbracht. Sein Vorbringen sei insoweit widersprüchlich. Ob er zivilrechtlich überhaupt zur Zahlung verpflichtet sei, sei zweifelhaft. Er sei aber ohnedies keinem durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung von Nebenkosten ausgesetzt, denn der Vermieter habe für 2007 bzw 2009 keine wirksame Nebenkostenabrechnung erteilt, die den Vorgaben des BGB entspräche. Insbesondere sei eine Abrechnung für das Jahr 2007 nicht bis zum 31.12.2008 vorgelegt worden. Weil zivilrechtlich deshalb ohnedies keine Pflicht zur Vorauszahlung der Nebenkosten bestehe, könne er sich gegenüber dem Vermieter auf ein Zurückbehaltungsrecht berufen, so dass auch kein Anspruch gegenüber der Beklagten bestehe.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, eine Divergenz sowie Verfahrensfehler geltend. Zur grundsätzlichen Bedeutung führt er aus, das LSG habe eine eigenständige Rechtsprechung zur Übernahme von Nebenkosten entwickelt, die der Überprüfung bedürfe. Dem Sozialhilfeträger werde letztlich zugebilligt, sich auf das Zurückbehaltungsrecht des Mieters zu berufen, wenn er der Auffassung sei, die Nebenkostenabrechnung sei fehlerhaft. Damit bürde er dem Leistungsberechtigten das Risiko eines Zivilrechtsstreits auf. Es sei vielmehr in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende davon auszugehen, dass auch bei Mietverträgen unter Verwandten Nebenkosten jedenfalls bis zur Grenze der Angemessenheit zu tragen seien, wenn eine wirksame zivilrechtliche Verpflichtung bestehe, unabhängig davon, ob sie einem Fremdvergleich standhalte. Es bestehe auch eine Divergenz der Entscheidung des LSG zu Entscheidungen des BSG (Urteil vom 24.11.2011 - B 14 AS 15/11 R unter Hinweis auf BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 8/09 R). Das LSG, das sich ausdrücklich auf eine Entscheidung des BSG vom 3.3.2009 (B 4 AS 37/08 R) stütze, in der eine Übernahmepflicht bei Angemessenheit unter Verwandten bejaht worden sei, stelle sich mit seinem entscheidungserheblichen Rechtssatz gegen die Rechtsprechung des BSG. Zudem liege als Verfahrensfehler eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) vor. Das LSG habe seine Entscheidung auf Aspekte gestützt, zu denen er, der Kläger, keine Gelegenheit gehabt habe, Stellung zu nehmen (Schreiben an den Oberbürgermeister; Nichtwirksamkeit des Mietvertrags; Zeitpunkt der Übermittlung der Nebenkostenabrechnung). Nur aufgrund irreleitender Hinweise des Gerichts, wonach die Sachlage geklärt sei, habe er auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung "verzichtet". Es sei auf diese Weise zudem gegen das Gebot des fairen Verfahrens verstoßen worden.
II. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.
Beruht eine Entscheidung des Berufungsgerichts auf mehreren selbständig tragenden Begründungen, die jede für sich den Urteilsspruch - hier: Abweisung der Klage - tragen, so kann die Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zur Zulassung der Revision führen, wenn für jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund erfolgreich geltend gemacht wird (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 38; BSG, Beschluss vom 22.4.2010 - B 1 KR 145/09 B; Beschluss vom 5.12.2007 - B 11a AL 112/07 B; Beschluss vom 25.6.2007 - B 3 KR 28/06 B; Beschluss vom 27.7.2006 - B 7a AL 52/06 B). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Das LSG hat die Zurückweisung der Berufung nicht allein darauf gestützt, dass dem Kläger keine wirksame Nebenkostenabrechnung für 2007 und 2009 erteilt worden sei, so dass er sich auf ein Zurückbehaltungsrecht berufen könne; vielmehr hat es auch den Schluss gezogen, dass er, der Kläger, tatsächlich keinem durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung von Betriebs- und Heizkostenvorauszahlungen ausgesetzt sei. Insoweit hat der Kläger zwar gerügt, diese Schlussfolgerung habe das LSG unter Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens gezogen. Ob der gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) tatsächlich vorliegt - wofür nach Aktenlage einiges spricht -, kann aber dahinstehen. Der vom Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) der Rechtsfrage, ob sich der Hilfeempfänger uneingeschränkt entgegenhalten lassen muss, es bestehe ein Zurückbehaltungsrecht gegenüber dem Vermieter, liegt nämlich nicht vor, so dass es jedenfalls an einer erfolgreichen Rüge zu dieser Begründung des LSG fehlt.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die vom Kläger aufge-worfene Rechtsfrage ist aber nicht mehr klärungsbedürftig. Der für Fragen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch - SGB II) zuständige 4. Senat des BSG hat im Zusammenhang mit einer Staffelmietvereinbarung bereits entschieden, dass ein Grundsicherungsträger, der eine Vereinbarung über Unterkunftskosten für unwirksam hält, ein Kostensenkungsverfahren zu betreiben hat, will er sich auf die Unwirksamkeit bestimmter Klauseln des Mietvertrages berufen und deshalb gegenüber tatsächlich geleisteten Zahlungen Abzüge vornehmen. Weiter hat der Senat ausgeführt, dass sich in diesen Fällen die Kostensenkungsaufforderung ausnahmsweise nicht darauf beschränken dürfe, dem Hilfebedürftigen lediglich den nach Auffassung des Grundsicherungsträgers angemessenen Mietzins und die Folgen mangelnder Kostensenkung vor Augen zu führen. Vielmehr müsse dem Hilfebedürftigen der Rechtsstandpunkt des Grundsicherungsträgers und das von diesem befürwortete Vorgehen gegenüber dem Vermieter in einer Weise verdeutlicht werden, die ihn zur Durchsetzung seiner Rechte gegenüber dem Vermieter in die Lage versetzt. Bis zu den erforderlichen Erläuterungen durch ein derartiges Informationsschreiben seien Maßnahmen der Kostensenkung für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen regelmäßig subjektiv unmöglich, es sei denn, nach den Umständen des konkreten Einzelfalls ist aufgrund des Kenntnisstandes des Hilfebedürftigen eine derartige Information entbehrlich (vgl BSGE 104, 179 ff = SozR 4-4200 § 22 Nr 24). Dem hat sich der ebenfalls für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständige 14. Senat hinsichtlich der Kosten einer Auszugsrenovierung angeschlossen (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 53). Insoweit gilt im Rahmen des § 35 SGB XII (bzw § 29 SGB XII in der bis 31.12.2010 maßgeblichen Gesetzesfassung) nichts anderes; der rechtlichen Beurteilung der Angemessenheit der Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG hat sich der erkennende Senat wegen der gleichen Rechtslage im SGB XII bereits angeschlossen (vgl ausführlich BSG SozR 4-3500 § 29 Nr 1; SozR 4-3500 § 29 Nr 2).
Soweit der Kläger insoweit auch rügt, das LSG habe sich zwar auf die genannten Entscheidungen berufen, daraus aber andere rechtliche Schlüsse gezogen, genügt sein Vorbringen nicht den Anforderungen an eine zulässige Divergenzrüge (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG), denn er formuliert schon keinen tragenden abstrakten Rechtssatz des LSG in Abweichung von einem tragenden abstrakten Rechtssatz des BSG, sondern macht lediglich die Unrichtigkeit der Entscheidung des LSG in der Sache geltend, die die Zulassung der Revision jedoch ebenfalls nicht zu begründen vermag.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen