Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassung der Revision. Verfahrensfehler. Zulassung der Berufung. neuer Verwaltungsakt. Anwendbarkeit des § 171 Abs 2 SGG
Orientierungssatz
1. Zum Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG iVm § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG, soweit das LSG irrtümlich eine Verringerung der Dauer einer Sperrzeit nach § 144 SGB 3 durch Teilanerkenntnis mit der Folge der Unterschreitung des Beschwerdewertes angenommen hat.
2. § 171 Abs 2 SGG gilt in entsprechender Anwendung auch für einen während des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens erlassenen neuen Verwaltungsakt (vgl BSG vom 23.6.1981 - 1 RA 3/80 = SozR 1500 § 171 Nr 2), betrifft allerdings - wie vom BSG bereits entschieden (vgl BSG vom 21.1.1959 - 11/9 RV 1234/56 = BSGE 9, 78) - nicht den Fall, dass eine Sache, die beim Erlass des neuen Verwaltungsakts nicht mehr beim LSG, sondern schon beim BSG rechtshängig gewesen ist, infolge der Zurückverweisung der Sache durch das BSG wieder beim LSG rechtshängig wird. In diesem Fall ist der neue Verwaltungsakt nicht anders zu behandeln, als wenn er während des Berufungsverfahrens erlassen worden wäre; es ist dann nach §§ 96, 153 SGG zu verfahren.
Normenkette
SGG §§ 96, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 153 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 171 Abs. 2; SGB III § 144
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger, der sein früheres Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag vom 6. Juni 2001 bei sofortiger Freistellung zum 31. Januar 2002 beendet und im Februar 2003 eine neue Beschäftigung aufgenommen hat, wendet sich gegen einen im Widerspruchsverfahren bestätigten Bescheid vom 5. März 2002, mit dem die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit von zwölf Wochen für die Zeit vom 1. Februar bis 25. April 2002 und eine Minderung der Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (Alg) um 90 Tage festgestellt hat.
Im Klageverfahren hat die Beklagte durch schriftliches Teilanerkenntnis den Lauf der Sperrzeit in Abänderung des Bescheides vom 5. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2002 auf den Zeitraum vom 7. Juni bis 29. August 2001 festgesetzt und ua ausgeführt, dem Kläger sei Alg für die Zeit vom 1. Februar bis 25. April 2002 nachzuzahlen.
Das Sozialgericht (SG) hat die auf Aufhebung des Bescheids vom 5. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids bzw des Teilanerkenntnisses gerichtete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 15. Mai 2003). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen (Urteil vom 9. Juni 2004). Der Kläger sei durch den Gerichtsbescheid nicht in dem von § 144 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorausgesetzten Maße beschwert. Die Beklagte habe an den Kläger, der nach § 127 Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) einen Anspruch auf Alg für 360 Tage gehabt habe, zunächst Alg für 270 Tage und dann in Ausführung des Teilanerkenntnisses für nochmals 84 Tage, insgesamt also für 354 Tage, gezahlt. Die ursprünglich ausgesprochene Minderung um 90 Tage sei zwar nicht ausdrücklich zurückgenommen worden; die Beklagte habe jedoch mit der Anerkennung des weiteren Anspruchs die Kürzung tatsächlich auf sechs Tage verringert. Der Kläger sei also nur noch für sechs Tage zu je 35,46 €, insgesamt also mit nur 212,76 €, beschwert. Unerheblich sei, ob rechtliche oder wirtschaftliche mittelbare Kostenfolgen der Sperrzeitverhängung eintreten könnten; denn bei Zahlungsansprüchen sei zur Ermittlung der Berufungssumme allein auf den Geldbetrag abzustellen, um welchen unmittelbar gestritten werde. In der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung liege keine Zulassung der Berufung.
Mit der Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision und macht Verfahrensmängel geltend. Die vom LSG herangezogene Bestimmung des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG sei für den gestellten Antrag, den Sperrzeitbescheid in der Fassung des Widerspruchsbescheids und des Teilanerkenntnisses aufzuheben, nicht einschlägig. Fehlerhaft sei auch, dass das LSG bei der Bewertung der Höhe der Beschwer nur den unmittelbaren Verlust an Alg für 6 Tage berücksichtigt habe, nicht aber die von der Bundesagentur (BA) zu zahlenden Sozialversicherungsbeiträge und ebenso nicht die weiter mit dem Sperrzeitbescheid verbundenen Wirkungen. Auch sei die Anspruchsminderung um 90 Tage durch den Bescheid vom 3. Dezember 2002 nicht beseitigt worden. Der Kläger habe die in diesem Bescheid angekündigte Nachzahlung nicht erhalten. Das LSG habe auch die Beschwer nicht berücksichtigt, die darin liege, dass mit der Sperrzeitfestsetzung der Ersttatbestand des § 147 SGB III erfüllt sei, der dem Kläger im Fall einer weiteren Sperrzeit den Verlust des gesamten Anspruchs einbringen könne. Mit der verfahrensfehlerhaften Verwerfung der Berufung habe das LSG außerdem gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. Auf den Verfahrensfehlern beruhe auch die Entscheidung des LSG. Wäre zur Sache entschieden worden, hätte die Berufung Erfolg gehabt; denn es gehe - was näher ausgeführt wird - um die Problematik des Zuzugs zum Lebenspartner (Hinweis auf Urteil des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 17. Oktober 2002, B 7 AL 96/00 R, BSGE 90, 90 = SozR 3-4100 § 119 Nr 26) bzw die Frage, ob eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen habe hingenommen werden müssen, weshalb eine Sperrzeit nicht eingetreten sei.
Während des Beschwerdeverfahrens hat die Beklagte mit Bescheid vom 31. März 2005 gegen den Kläger einen Anspruch auf Rückerstattung von Alg in Höhe von 2.975,28 € für die Zeit vom 29. Oktober 2002 bis 20. Januar 2003 geltend gemacht und insoweit gegen einen Anspruch des Klägers auf Zahlung von Alg in Höhe von 3.000,48 € aufgerechnet; der Unterschiedsbetrag von 25,20 € sei ausgezahlt worden.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig. Ihre Begründung genügt - jedenfalls, soweit als Verfahrensmangel die Verletzung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG geltend gemacht wird - den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
In der Beschwerdebegründung wird schlüssig vorgetragen, das LSG habe unter Verkennung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG die Berufung als unzulässig verworfen, worin ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zu sehen sei. Insbesondere macht der Beschwerdeführer deutlich, dass er unter Berücksichtigung der getroffenen tatsächlichen Feststellungen die Auffassung des Berufungsgerichts, der für eine zulassungsfreie Berufung erforderliche Wert des Beschwerdegegenstandes sei nicht erreicht, beanstandet. Dargelegt wird auch, dass die angefochtene Entscheidung auf dem behaupteten Verfahrensmangel - nämlich der fehlenden Sachentscheidung - beruhen kann.
Die Beschwerde ist auch begründet. Der von der Beschwerde gerügte Verfahrensmangel liegt tatsächlich vor und die angefochtene Entscheidung kann auf ihm beruhen.
Gegenstand des erstinstanzlichen Gerichtsbescheids ist der vom Kläger angefochtene und vom SG als rechtmäßig bestätigte Bescheid der BA vom 5. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids bzw des Teilanerkenntnisses, mit dem im Ergebnis eine Sperrzeit von zwölf Wochen für die Zeit vom 7. Juni 2001 bis 29. August 2001 - verbunden mit einem Ruhen des Alg-Anspruchs in diesem Zeitraum und einer Minderung der Anspruchsdauer um 90 Tage - festgesetzt worden ist. Mit der Berufung hat der Kläger das Klagebegehren weiter verfolgt. Dieses bezieht sich entgegen der Auffassung des LSG nicht nur auf Zahlung von Alg für restliche sechs Tage zu je 35,46 €. Denn die Beklagte hat mit dem während des Klageverfahrens abgegebenen Teilanerkenntnis ihren ursprünglichen Bescheid lediglich dahin geändert, dass der Lauf der Sperrzeit am 7. Juni 2001 beginnt und am 29. August 2001 endet; die Beklagte hat nicht die Beschwer des Klägers auf sechs Tage vermindert, sondern an ihrer Entscheidung über ein Ruhen des Anspruchs für zwölf Wochen und eine Minderung der Anspruchsdauer um 90 Tage festgehalten. Dem steht nicht die dem Teilanerkenntnis zu entnehmende Formulierung entgegen, dem Kläger sei Alg für die Zeit vom 1. Februar 2002 bis 25. April 2002 nachzuzahlen; denn die Ausführungen der Beklagten im Teilanerkenntnis lassen offen, in genau welcher Höhe eine Nachzahlung erfolgen soll und welche Folgerungen aus der weiterhin vertretenen Auffassung, eine zwölfwöchige Sperrzeit sei eingetreten, gezogen werden sollen. Dass die Beklagte mit dem Teilanerkenntnis die Beschwer des Klägers keinesfalls entsprechend der Annahme des LSG vermindern wollte, wird bestätigt durch den nachträglich erlassenen Bescheid vom 31. März 2005. Die Beschwerde rügt somit zu Recht eine Verletzung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG.
Auf dem gerügten Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil beruhen, da bei einer zulässigen Berufung das LSG in der Sache entscheiden muss. Ggf wird dann auch, wie der Beschwerdeführer erläutert hat, die Frage zu prüfen sein, ob eine Sperrzeit eingetreten ist oder nicht. Dabei wird das LSG nach den §§ 96, 153 Abs 1 SGG nunmehr auch über den Bescheid der Beklagten vom 31. März 2005 zu entscheiden haben. Zwar gilt nach § 171 Abs 2 SGG der während des Revisionsverfahrens erlassene neue Verwaltungsakt als mit der Klage beim SG angefochten. Diese Regelung, die in entsprechender Anwendung auch für einen während des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens erlassenen neuen Verwaltungsakt gilt (BSG SozR 1500 § 171 Nr 2), betrifft allerdings - wie vom BSG bereits entschieden (BSGE 9, 78 f) - nicht den Fall, dass eine Sache, die beim Erlass des neuen Verwaltungsakts nicht mehr beim LSG, sondern schon beim BSG rechtshängig gewesen ist, infolge der Zurückverweisung der Sache durch das BSG wieder beim LSG rechtshängig wird. In diesem Fall ist der neue Verwaltungsakt nicht anders zu behandeln, als wenn er während des Berufungsverfahrens erlassen worden wäre; es ist also nicht mehr - wie die Beklagte angenommen hat - § 171 Abs 2 SGG entsprechend anzuwenden, sondern nach §§ 96, 153 SGG zu verfahren.
Der neue Verwaltungsakt vom 31. März 2005 ist also von dem Zeitpunkt an, in dem das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen ist, Gegenstand des wieder rechtshängigen Berufungsverfahrens (vgl BSG aaO). Das LSG hat damit die Möglichkeit, über den neuen Bescheid vom 31. März 2005 im selben Verfahren zu entscheiden. Das LSG wird dabei als Tatsacheninstanz den Sachverhalt auch insoweit aufzuklären haben, als dies für die Beurteilung des neuen Verwaltungsakts erforderlich ist. Insbesondere könnte sich die Frage stellen, ob die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch bei Erlass des Bescheids vom 31. März 2005 schon abgelaufen war (vgl BSG Urteile vom 11. September 1991 - 5 RJ 25/90 - veröffentlicht in juris und vom 27. Juli 2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr 42 - jeweils mwN).
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen