Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung
Orientierungssatz
Um darzulegen, dass eine Rechtsfrage, die bereits entschieden ist, noch grundsätzliche Bedeutung habe, hat ein Beschwerdeführer aufzuzeigen, in welchem Umfang, von welcher Seite und mit welcher Begründung der Rechtsprechung widersprochen bzw die Beantwortung der Rechtsfrage umstritten sei (vgl BSG vom 21.11.1983 - 9a BVi 7/83 = SozR 1500 § 160 Nr 51), oder dass neue erhebliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der grundsätzlich bereits entschiedenen Rechtsfrage führen könnten und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschlössen (vgl BSG vom 30.9.1992 - 11 BAr 47/92 = SozR 3-4100 § 111 Nr 1). Allein der Hinweis auf ein vor dem BVerfG noch anhängiges Verfahren zur vergleichbaren Problematik der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten genügt hierfür nicht.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1; SGB 6 § 43; SGB 6 § 63; SGB 6 § 77 Abs. 2 Sätze 2-3; GG
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 17.06.2009; Aktenzeichen L 8 R 76/08) |
SG Berlin (Entscheidung vom 16.10.2007; Aktenzeichen S 6 R 2824/07) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 17. Juni 2009 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Das Landessozialgericht hat es mit Beschluss vom 17.6.2009 abgelehnt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung mit dem ungeminderten Zugangsfaktor 1,0 zu gewähren. Zur Begründung hat es sich dabei auf das Urteil des erkennenden Senats vom 14.8.2008 in dem Verfahren B 5 R 32/07 R berufen.
Über die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat sich der Kläger bei dem erkennenden Gericht beschwert und geltend gemacht, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung erfüllt die gesetzlichen Anforderungen nicht, weil es der Kläger versäumt hat, die Grundsatzrüge ordnungsgemäß darzulegen (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Grundsätzlich bedeutsam iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine derartige Klärung erwarten lässt (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65). Um seine Darlegungspflicht zu erfüllen, muss der Beschwerdeführer eine konkrete Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) aufzeigen (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 f mwN).
Der Kläger misst sinngemäß der Frage grundsätzliche Bedeutung zu, ob die Anzahl der persönlichen Entgeltpunkte der Rente wegen Erwerbsminderung nach § 77 Abs 2 Satz 3, Abs 2 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), die vor Vollendung des 60. Lebensjahres gewährt wird, ausgehend von dem Zugangsfaktor 1,0 nach § 63 Abs 1 bis 3, 5 SGB VI wegen "vorzeitiger" Inanspruchnahme um 0,003 je Kalendermonat vor dem 63. Lebensjahr gekürzt werden darf, höchstens um den Faktor 0,108 (§ 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI) oder ob diese Gesetzesanwendung Bundesrecht nach §§ 170 Abs 2, 162 SGG oder das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland verletzt und damit auf Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht anwendbar ist.
Er hat es allerdings versäumt aufzuzeigen, dass diese Frage klärungsbedürftig ist.
Eine Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, wenn sie höchstrichterlich bereits entschieden ist. Dasselbe gilt, wenn das Revisionsgericht oder das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Rechtsfrage zwar noch nicht ausdrücklich beantwortet haben, eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen aber bereits ausreichende Anhaltspunkte enthalten, um die Rechtsfrage zu beurteilen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8; s hierzu auch Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117 mwN).
Der Kläger weist in seiner Beschwerdebegründung selbst sinngemäß darauf hin, dass der erkennende Senat in seinen Urteilen vom 14.8.2008 (B 5 R 32/07 R und B 5 R 140/07 R) entschieden habe, dass die streitige Bestimmung des § 77 Abs 2 SGB VI mit der Verfassung in Einklang stehe (vgl darüber hinaus auch Senatsurteile vom selben Tage B 5 R 88/07 R sowie B 5 R 98/07 R zu Hinterbliebenenrenten). Zuvor hatte der 13. Senat des BSG am 26.6.2008 beschlossen (B 13 R 9/08 S), nicht an der gegenteiligen Rechtsauffassung des 4. Senats (Urteil vom 16.5.2006, B 4 RA 22/05 R - BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3) festzuhalten. Damit haben der 5. und 13. Senat des BSG, die nunmehr für Angelegenheiten der gesetzlichen Rentenversicherung ausschließlich zuständig sind, die vorzitierte Rechtsprechung des 4. Senats aufgegeben. Folglich ist die Rechtsfrage nach der Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Bestimmung bereits entschieden und nach den aufgezeigten Maßstäben nicht (mehr) klärungsbedürftig. Dass trotz dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung noch oder wieder Klärungsbedarf bestehe, hat der Kläger nicht ausreichend vorgetragen. Um darzulegen, dass eine Rechtsfrage, die bereits entschieden ist, noch grundsätzliche Bedeutung habe, hat ein Beschwerdeführer aufzuzeigen, in welchem Umfang, von welcher Seite und mit welcher Begründung der Rechtsprechung widersprochen bzw die Beantwortung der Rechtsfrage umstritten sei (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51), oder dass neue erhebliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der grundsätzlich bereits entschiedenen Rechtsfrage führen könnten und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschlössen (vgl hierzu BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 mwN; s auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 160 RdNr 8b). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Der Kläger beruft sich im Wesentlichen sinngemäß darauf, dass die Senatsurteile vom 14.8.2008 in den Verfahren B 5 R 32/07 R und B 5 R 140/07 R rechtsfehlerhaft ("völlig falsch") seien und demgegenüber die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 16.5.2006 richtig sei, nach der eine Kürzung des Zugangsfaktors vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus § 77 Abs 2 SGB VI unter Berücksichtigung von Art 14 Abs 1 und Art 3 Abs 1 GG nicht abgeleitet werden könne. Mit diesem Vorbringen setzt der Kläger jedoch lediglich seine eigene Überzeugung von der Rechts- und Verfassungswidrigkeit gegen die Rechtsauffassung des erkennenden Senats. Im Übrigen übersieht er, dass die in bestimmten Fallgestaltungen angeblich ungenügende Kompensation des Rentenabschlags durch eine verlängerte Zurechnungszeit gerade auf seinen Fall nicht zutrifft, weil seine Zurechnungszeit ziemlich genau bewertet wurde wie bei einem durchschnittlich verdienenden Versicherten.
Hinweise auf maßgebende Stimmen aus Rechtsprechung und Literatur, die der Rechtsauffassung des erkennenden Senats widersprochen hätten, gibt die Beschwerdebegründung nicht wieder. Auch der Umstand, dass gegen das Senatsurteil vom 14.8.2008 - B 5 R 140/07 R - Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingelegt worden sei (1 BvR 3588/08), reicht nicht aus, um den erneuten Klärungsbedarf der Rechtsfrage darzulegen. Aus dem Vorbringen in der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, mit welcher Begründung im Einzelnen die Verfassungsbeschwerde eingelegt worden ist, insbesondere ob in dieser neue erhebliche Gesichtspunkte aufgeführt worden sind, die die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen. Dem Beschwerdevorbringen kann danach lediglich entnommen werden, dass auch ein anderer Betroffener mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des § 77 Abs 2 SGB VI nicht einverstanden ist. Dies genügt nicht, um den erneuten Klärungsbedarf darzulegen.
Soweit der Kläger meint, die Gesetzesanwendung, die der Senat für richtig hält, verletze §§ 170 Abs 2, 162 SGG, bleibt unklar, worin diese "Verletzung" liegen soll.
Die nicht formgerecht begründete Beschwerde ist gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen