Entscheidungsstichwort (Thema)
Honorarberichtigung. Rückforderung. Leistung. Vergütung. Pauschalvergütung. Notfall. Notfallbehandlung. Nichtkassenarzt. Erste-Hilfe-Stelle
Leitsatz (amtlich)
Ein Nichtkassenarzt, der von einem Versicherten wegen einer Notfallbehandlung aufgesucht wird, erhält für die zur Klärung des Krankheitsbildes erforderliche Untersuchung auch dann eine Vergütung, wenn sich herausstellt, daß objektiv kein Notfall vorgelegen hat.
Normenkette
SGB V § 76 Abs. 1 S. 2; SGB X § 50 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Dezember 1993 und des Sozialgerichts Berlin vom 21. April 1993 sowie der Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 1992 aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin deren Aufwendungen für das Berufungs- und das Revisionsverfahren zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung von Vergütungen, die ihr für ambulante Behandlungen von Versicherten der beigeladenen Krankenkasse in der „Erste-Hilfe-Stelle” des Universitätsklinikums Steglitz gezahlt worden sind und deren Erstattung die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) mit der Begründung begehrt, die Voraussetzungen einer Notfallbehandlung hätten nicht vorgelegen.
Zu den im Revisionsverfahren noch streitigen Behandlungsfällen enthalten die Krankenblätter der Klinik folgende Angaben hinsichtlich Zeitpunkt, Anlaß und Art der Behandlung: „1. Patientin N.: Mittwoch, 14.6.1989, 23.45 Uhr, Vorsprache wegen Verordnung eines Kontrazeptivums nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr, Untersuchung, Verschreibung von „Tetragynon” auf Privatrezept; 2. Patient B.: Mittwoch, 22.3.1989, 09.40 Uhr, Verschlechterung des Hörvermögens bemerkt, Untersuchungsergebnis: normales Hörvermögen, keine Behandlung; 3. Patientin K.: Mittwoch, 10.5.1989, 19.15 Uhr, Die Lippen ziehen sich seit einem Jahr zusammen, Untersuchung, kein pathologischer Befund”. Auf Antrag der Beigeladenen berichtigte die Beklagte die Abrechnungen über Erste-Hilfe-Leistungen im ersten und zweiten Quartal 1989 dahingehend, daß die Vergütung für die genannten Behandlungsfälle gestrichen und das Honorarkonto der Klägerin in Höhe der gezahlten Beträge von je 70,– DM belastet wurde (Bescheid vom 9. Dezember 1991; Widerspruchsbescheid vom 17. August 1992). Bei den betroffenen Patienten habe es sich nicht um Notfälle gehandelt mit der Folge, daß eine Behandlung zu Lasten der Krankenkasse nicht zulässig gewesen sei.
Die Klage gegen den Berichtigungsbescheid ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ Berlin vom 21. April 1993 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Berlin vom 8. Dezember 1993). Das LSG hat ausgeführt, die nicht an der kassenärztlichen/vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Erste-Hilfe-Abteilungen der Klägerin seien zur ambulanten Behandlung von Kassenpatienten nur in Notfällen befugt. Ein Vergütungsanspruch gegen die KÄV bestehe deshalb nur, wenn im Behandlungszeitpunkt objektiv eine Notfallsituation bestanden habe oder der behandelnde Arzt aufgrund der gesamten Umstände berechtigterweise von einer solchen habe ausgehen können. Für beides sei in den noch streitigen Fällen aus den Behandlungsscheinen nichts ersichtlich.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts sowie Verstöße gegen verwaltungsverfahrensrechtliche Grundsätze. Ob im Einzelfall die Voraussetzungen für eine Notfallbehandlung gegeben seien, könne der behandelnde Arzt erst nach einer Befragung und ggf Untersuchung des Patienten entscheiden. Bereits diese Tätigkeiten lösten aber einen Vergütungsanspruch in Höhe der mit der Beklagten für Erste-Hilfe-Leistungen vereinbarten Fallpauschale aus, so daß die geleisteten Zahlungen zu Recht erfolgt seien. Der Geltendmachung eines etwaigen Rückzahlungsanspruchs stehe im übrigen die Ausschlußfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) entgegen, denn die Beklagte habe über den im Februar 1990 gestellten Berichtigungsantrag erst im Dezember 1991 entschieden. Erst zu diesem Zeitpunkt habe sie, die Klägerin, überhaupt vom dem Vorgang Kenntnis erhalten.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Dezember 1993 und des Sozialgerichts Berlin vom 21. April 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 1992 aufzuheben,
hilfsweise,
die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Die Rechtmäßigkeit der umstrittenen Honorarrückforderungen beurteilt sich nach § 50 SGB X. Unter den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen nicht nur Sozialleistungen im engeren Sinne, sondern alle im Rahmen öffentlich-rechtlicher Verwaltungstätigkeit nach dem Sozialgesetzbuch bewirkten Geld-, Sach- und Dienstleistungen und damit grundsätzlich auch die für die kassenärztliche Tätigkeit gezahlten Vergütungen (ebenso: Schneider-Danwitz in GesamtKomm-SGB X, Stand 1986, § 50 Anm 7 und 23; zum Leistungsbegriff des § 50 SGB X unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der Vorschrift vgl auch Barnewitz, VSSR 1981, 33, 103). Da nach den Feststellungen des LSG über die Abrechnung der Erste-Hilfe-Leistungen der Klägerin kein Verwaltungsakt erteilt worden ist, kommt § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X zur Anwendung; danach sind Leistungen, die ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, vom Empfänger zu erstatten.
An weitere Voraussetzungen ist die Erstattungspflicht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht gebunden. Zwar verweist § 50 Abs. 2 Satz 2 auf § 45 SGB X und unterwirft damit die Rückforderung einer ohne Verwaltungsakt erbrachten Leistung denselben zeitlichen und inhaltlichen Beschränkungen, die gemäß § 45 Abs. 4 für die Rücknahme eines rechtswidrigen Leistungsbescheides gelten. Jedoch ist § 45 SGB X nach der Rechtsprechung des Senats auf Honorarberichtigungsbescheide nicht anwendbar, weil in den auf bundesgesetzlicher Ermächtigung beruhenden vertraglichen Vorschriften über das Verfahren der rechnerischen und sachlichen Prüfung und Richtigstellung der kassenärztlichen Honorarabrechnungen (§ 34 Abs. 1 und 2 Bundesmantelvertrag-Ärzte ≪BMV-Ä≫ in der hier noch maßgebenden Fassung vom 28. Oktober 1978; § 12 Abs. 4 des Gesamtvertrags zwischen der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin und der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin vom 9. Dezember 1976) eine eigene, abschließende Regelung der Rücknahmevoraussetzungen zu sehen ist, die gemäß § 37 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) den allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Bestimmungen über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte vorgeht und deren Anwendung ausschließt (vgl zuletzt Urteil vom 24. August 1994 – 6 RKa 20/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Damit ist auch für eine entsprechende Anwendung des § 45 SGB X im Rahmen des § 50 Abs. 2 SGB X kein Raum.
Die gesamtvertraglichen Regelungen räumen den Krankenkassen und den KÄVen das Recht ein, fehlerhafte Honorarabrechnungen auch nachträglich, dh nach erfolgter Honorarauszahlung, noch zu beanstanden und einer Überprüfung und Richtigstellung zuzuführen. Sie bringen damit zum Ausdruck, daß die an die Kassenärzte geleisteten Zahlungen zunächst nur vorläufigen Charakter haben und unrichtige Festsetzungen innerhalb der für die Einleitung und Durchführung von Prüfverfahren vorgesehenen Fristen korrigiert werden können. Der Kassenarzt muß bis zum Ablauf dieser Fristen mit der Möglichkeit einer nachträglichen Prüfung und Richtigstellung rechnen und kann auf den Bestand eines vorab erteilten Honorarbescheides bzw die Rechtsbeständigkeit einer vorab erfolgten Honorarauszahlung nicht vertrauen. Es liegt auf der Hand, daß dies auch und erst recht gilt, wenn die Auszahlung der beanspruchten Vergütung ohne förmlichen Bescheid im Wege schlichten Verwaltungshandelns erfolgt ist. Allerdings gelten die genannten vertraglichen Bestimmungen für die außerhalb der kassenärztlichen Versorgung stehenden Erste-Hilfe-Abteilungen der Klägerin nicht unmittelbar. Soweit Nichtkassenärzte in Notfällen Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen behandeln, werden sie jedoch im Bereich der kassenärztlichen Versorgung tätig und sind den insoweit geltenden Rechtsvorschriften unterworfen (ständige Rechtsprechung, vgl BSGE 71, 117, 118 f = SozR 3-2500 § 120 Nr. 2 S 12 f mwN).
Ob in dem zwischen der Beklagten und der Beigeladenen geschlossenen Gesamtvertrag Fristen für die Einleitung und Durchführung eines Honorarberichtigungsverfahrens vereinbart und ob diese Fristen im vorliegenden Fall eingehalten worden sind, ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Diese Frage kann jedoch ebenso auf sich beruhen wie die weitere Frage, welche rechtlichen Folgerungen ggf aus der unterbliebenen Unterrichtung der Klägerin von dem bereits im Februar 1990 gestellten Berichtigungsantrag zu ziehen wären (dazu BSGE 72, 271, 275 f = SozR 3-2500 § 106 Nr. 19 S 110). Denn für einen Erstattungsanspruch der Beklagten besteht im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanzen schon deshalb keine Grundlage, weil der Klägerin die umstrittenen Vergütungen zugestanden haben und es demzufolge am Merkmal der unrechtmäßigen Leistungserbringung iS des § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X fehlt.
Dabei ist der rechtliche Ausgangspunkt des LSG nicht zu beanstanden. Aus § 76 Abs. 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), der ab 1. Januar 1989 an die Stelle des früheren, inhaltsgleichen § 368d Abs. 1 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) getreten ist, folgt, daß in den Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin, die nicht zur Teilnahme an der kassenärztlichen/vertragsärztlichen Versorgung zugelassen oder ermächtigt sind, Versicherte der Beigeladenen nur in Notfällen ambulant behandelt werden dürfen. Ein Notfall im Sinne dieser Bestimmung liegt nur vor, wenn aus medizinischen Gründen eine umgehende Behandlung des Patienten notwendig ist und ein Kassenarzt/Vertragsarzt nicht in der gebotenen Eile herbeigerufen oder aufgesucht werden kann (BSGE 19, 270, 272; 34, 172, 174; BSG USK 82249, S 1149). Ergibt die Untersuchung, daß die genannten Kriterien nicht erfüllt sind, besteht für eine dennoch durchgeführte Behandlung grundsätzlich kein Vergütungsanspruch gegen die Beklagte. Darüber herrscht indessen zwischen den Beteiligten kein Streit. Die Klägerin beruft sich vielmehr darauf, daß regelmäßig erst nach Erhebung der Anamnese und des Aufnahmestatus festgestellt werden kann, ob im Einzelfall eine Notfallsituation gegeben ist und dementsprechend eine Behandlung des Patienten zu Lasten der Krankenkasse erfolgen kann. Hierin sieht sie zu Recht eine im Rahmen des § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V vergütungspflichtige ärztliche Leistung.
Sucht ein Versicherter die Ambulanz des Klinikums auf, weil er subjektiv eine Notfallsituation annimmt, so muß zur Klärung, ob eine sofortige Untersuchung und Behandlung notwendig ist, ein Arzt hinzugezogen werden, der sich zumindest über die Beschwerden des Patienten und dessen Zustand unterrichten muß, ehe er eine Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen kann. Bereits diese orientierende Befragung und Untersuchung ist eine ärztliche Tätigkeit im Rahmen der Krankenbehandlung, die nach allgemeinen Grundsätzen einen Vergütungsanspruch nach sich zieht. Das LSG erkennt ausdrücklich an, daß zur Krankenhilfe nicht nur die Behandlung, sondern auch das Erkennen der Krankheit gehört (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V) und dem Arzt für die erforderlichen Untersuchungen auch dann eine Vergütung zusteht, wenn sich später herausstellt, daß kein Krankheitsbefund vorgelegen hat. Damit ist es nicht vereinbar, wenn es den Vergütungsanspruch bei Erste-Hilfe-Leistungen vom Ergebnis der Eingangsuntersuchung abhängig machen und auf Fälle beschränken will, in denen der diensthabende Arzt nach Erhebung des Aufnahmestatus aufgrund des Zustandes des Patienten und dessen Schilderung berechtigterweise von einem Notfall ausgehen konnte.
Eine dahingehende Einschränkung ist weder dem Gesetz noch der hier nach den Feststellungen der Tatsachengerichte maßgebenden Vergütungsvereinbarung zwischen der Beklagten und der Berliner Krankenhausgesellschaft eV vom 18. Dezember 1984 zu entnehmen. Letztere modifiziert die für die kassenärztliche Tätigkeit geltenden Vergütungsgrundsätze lediglich insofern, als für die in Krankenhäusern im Lande Berlin erbrachten Erste-Hilfe-Leistungen anstelle einer Einzelleistungsvergütung eine Abgeltung in Form einer Fallpauschale vorgesehen ist. Sie geht mithin von einem bestehenden Vergütungsanspruch aus, ohne dessen Voraussetzungen selbst abweichend zu regeln. Damit verbleibt es dabei, daß bereits die zur Feststellung bzw zum Ausschluß eines Notfalles erforderliche ärztliche Tätigkeit einen Vergütungsanspruch in der vereinbarten Höhe begründet.
Der abweichende Standpunkt des Berufungsgerichts läßt sich auch nicht mit dem Bestreben rechtfertigen, einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme der Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin und einer unzulässigen Verlagerung der ambulanten Behandlung von Kassenpatienten in die Krankenhäuser entgegenzuwirken. Der in der Klinikambulanz tätige Arzt hat dann, wenn sich – ggf schon bei der Anamneseerhebung – herausstellt, daß kein Notfall vorliegt, von weiteren Maßnahmen Abstand zu nehmen und den Patienten an einen Kassenarzt zu verweisen. Weiterführende Untersuchungen oder gar eine spätere Weiterbehandlung sind von der Befugnis und dem Auftrag gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht gedeckt und von den Krankenkassen nicht zu vergüten. Bei einer Einzelleistungsvergütung auf der Grundlage der kassenärztlichen Gebührenordnung können deshalb in Fällen der hier in Rede stehenden Art regelmäßig nur geringe Gebühren für eine Beratung und ggf eine symptombezogene klinische Untersuchung anfallen, so daß kein Anreiz für eine darüber hinausgehende Behandlung besteht. Auch bei Vereinbarung einer Pauschalvergütung kann der Gefahr von Mißbräuchen durch eine zweckentsprechende Gestaltung der Vergütungsregelung, etwa eine Staffelung der Gebührenpauschalen oder auch einen völligen vertraglichen Ausschluß der Vergütung in Bagatellfällen, begegnet werden. Daß dies hier nicht geschehen ist, kann nicht dazu führen, daß der Klägerin für die streitigen Behandlungsfälle ohne Rechtsgrundlage ein Vergütungsanspruch versagt wird.
Da die Honorarberichtigungen nach alledem zu Unrecht erfolgt sind, waren die angefochtenen Bescheide und die sie bestätigenden Urteile der Vorinstanzen aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz, wobei dessen Absatz 4 Satz 2 für das vor dem 1. Januar 1993 anhängig gewordene Klageverfahren noch nicht anzuwenden war (BSGE 72, 148, 156 f = SozR 3-2500 § 15 Nr. 1).
Fundstellen