Leitsatz (amtlich)
Für einen auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren ungelernten Versicherten ist die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten nur erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung festgestellt ist (Ergänzung zu BSG 1982-11-30 4 RJ 1/82 = SozR 2200 § 1246 Nr 104).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs 2 S 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 17.09.1982; Aktenzeichen L 6 J 54/81) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 22.01.1981; Aktenzeichen S 1 J 326/80) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente.
Die 1933 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war zuletzt bei einer Behörde von 1966 bis 1978 als Raumpflegerin beschäftigt. Den im Juli 1979 gestellten Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Klägerin sei weder erwerbs- noch berufsunfähig (Bescheid vom 6. November 1979, Widerspruchsbescheid vom 16. September 1980).
Die Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Koblenz vom 22. Januar 1981). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. August 1979 zu zahlen. Es hat im Urteil vom 17. September 1982 festgestellt, bei der Klägerin bestünden im wesentlichen eine Seitenverbiegung der Lendenwirbelsäule mit Verdrehung der Wirbelkörper, Verschleißerscheinungen im Sinn eines Bandscheibenschadens im untersten Lendenwirbelsäulenabschnitt sowie Wirbelgleiten zwischen letztem Lendenwirbelkörper und erstem Kreuzbeinwirbel, ferner eine labile Hypertonie, eine chronische Pyelonephritis sowie Taubheit rechts und geringgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit links. Das LSG hat ausgeführt, die Klägerin könne nur noch körperlich leichte Tätigkeiten vollschichtig in geschlossenen, ausreichend temperierten Räumen (möglichst) in wechselnder Körperhaltung ohne häufiges Bücken, Zeitdruck und Schichtdienst sowie ohne daß besondere Anforderungen an das Hörvermögen gestellt werden, verrichten. Wegen der wesentlichen Einschränkungen müsse eine konkrete Verweisungstätigkeit benannt werden; eine solche dem Leistungsvermögen der Klägerin entsprechende Tätigkeit sei nicht ersichtlich. Die Klägerin sei für die Tätigkeit einer Sortiererin sowie einer Etikettiererin oder Verpackerin ungeeignet, weil diese bei überwiegend einseitiger Körperhaltung oder unter besonderem Zeitdruck mit entsprechender Konzentration verrichtet werden müsse, wie sich aus der in der Berufungssache L 2 J 173/80 des LSG Rheinland-Pfalz vom Gericht eingeholten Auskunft des Landesarbeitsamtes Rheinland-Pfalz-Saarland vom 2. Dezember 1981 ergebe; diese Auskunft sei auch schon Gegenstand des Rechtsstreits L 6 J 13/82 unter Beteiligung der Beklagten gewesen. Im übrigen lasse sich nicht annehmen, daß die Klägerin überhaupt imstande sei, sich noch in einen für sie neuen Arbeitsplatz unter den üblichen Wettbewerbsbedingungen einzugewöhnen und einzuarbeiten. Bei diesem Sachverhalt sei Erwerbsunfähigkeit zu bejahen, ohne daß es der von der Beklagten beantragten Beweiserhebung bedurft habe.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht die Beklagte die Verletzung der §§ 1246, 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend, weil das LSG zu Unrecht die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit für erforderlich gehalten habe. Außerdem rügt sie Verfahrensmängel. Insbesondere verstoße das Berufungsgericht insofern gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, als seine Feststellung, die Tätigkeit einer Sortiererin sei in überwiegend einseitiger Körperhaltung oder unter besonderem Zeitdruck zu verrichten, auf einer ihr - der Beklagten - nicht zur Kenntnis gebrachten Auskunft beruhe. Ferner enthalte das Urteil keine Ausführungen, worauf das LSG seine Annahme stütze, die Klägerin sei unfähig, sich auf einem neuen Arbeitsplatz einzuarbeiten.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. September 1982 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 22. Januar 1981 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Wegen erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen der Klägerin sei auch die Bezeichnung einer konkreten Tätigkeit geboten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen, soweit sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind, zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Ein Versicherter ist nicht berufsunfähig - und erst recht nicht erwerbsunfähig -, wenn er zwar seinen bisherigen Beruf nicht mehr verrichten, aber auf Tätigkeiten verwiesen werden kann, die einerseits seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm andererseits unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO; die Änderung des Abs 1 dieser Vorschrift sowie die Einfügung eines Abs 2a durch das Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe - Haushaltsbegleitgesetz 1984 - vom 22. Dezember 1983, BGBl I 1532, berühren diese Voraussetzungen der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nicht). Demjenigen Versicherten, der - wie die Klägerin - weder einen Ausbildungsberuf erlernt noch eine qualifizierte Berufstätigkeit ausgeübt hat, ist jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsfeldes zumutbar, sofern diese nur seinen gesundheitlichen Kräften entspricht (vgl zB Urteil des Senats vom 30. November 1982 - 4 RJ 1/82 = SozR 2200 § 1246 Nr 104).
Von der Revision unangefochten und somit gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für den Senat bindend, hat das Berufungsgericht festgestellt, daß die Klägerin (nur) noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten in geschlossenen Räumen - ohne Zeitdruck, Schichtdienst, häufiges Bücken sowie besondere Anforderungen an das Hörvermögen - in (möglichst) wechselnder Körperhaltung verrichten kann. Das LSG hat die Klägerin für erwerbsunfähig gehalten, weil eine ihrem verbliebenen Leistungsvermögen entsprechende (Verweisungs-)Tätigkeit nicht ersichtlich sei. Unabhängig davon aber, ob es überhaupt der Benennung einer Tätigkeit bedarf, kann aufgrund der getroffenen Feststellungen Erwerbsunfähigkeit nicht bejaht werden.
Im Grundsatz bedarf es bei auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren Versicherten nicht der konkreten Benennung (zumindest) einer Verweisungstätigkeit (vgl das erwähnte Urteil des Senats vom 30. November 1982 sowie - mit hierzu ausführlicher Begründung - Urteile des 1. Senats vom 23. Juni 1981 - 1 RJ 72/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 81 und vom 27. April 1982 - 1 RJ 132/80 = aa0 Nr 90). Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn der Versicherte selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und/oder erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen ausführen kann (BSG aa0 Nrn 75/90). Das Berufungsgericht steckt den Rahmen dieser Ausnahmefälle zu weit ab, wenn es - umgekehrt - folgert, nur bei denjenigen auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren Versicherten, die noch mittelschwere oder leichte Arbeiten ohne besondere sonstige Einschränkungen zu verrichten vermögen, brauche keine konkrete Verweisungstätigkeit bezeichnet zu werden. Indessen lag bereits dem Urteil des 1. Senats vom 27. April 1982 (BSG aa0 Nr 90) ein Sachverhalt zugrunde, bei dem das Leistungsvermögen nicht nur auf leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten begrenzt war, sondern außerdem Tätigkeiten ausschieden, die überwiegendes Stehen oder ständiges Sitzen erforderten, in Nässe oder Kälte zu leisten oder mit häufigerem Bücken, der Notwendigkeit einer besonderen Fingerfertigkeit oder mit besonderen Unfallgefahren verbunden waren; gleichwohl hat der 1. Senat entgegen der Vorinstanz die Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht für erforderlich gehalten, er ist vielmehr davon ausgegangen, daß es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die gesundheitlich möglichen Vollzeittätigkeiten eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen gebe. Ähnliche und ihrem Ausmaß nach vergleichbare Einschränkungen des Leistungsvermögens kennzeichnen den vorliegenden Sachverhalt. Ob damit schon das Kriterium der "vielfältigen und/oder erheblichen Einschränkungen" verneint und infolgedessen Berufsunfähigkeit ausgeschlossen werden könnte, darf aus einem anderen Grund offenbleiben. Der Senat hat nämlich im Urteil vom 30. November 1982 (SozR aa0 Nr 104) in Fortführung seiner früheren Rechtsprechung entschieden, daß für einen nur noch eingeschränkt, aber vollschichtig einzusetzenden und auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren Versicherten die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten nur dann erforderlich ist, wenn die Einschränkungen so erheblich sind, daß von vornherein ernste Zweifel daran aufkommen müssen, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen auch in einem Betrieb einsetzbar ist. Dies bedeutet: Nur eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung zwingt zur konkreten Benennung. Dagegen ist dies nicht schon dann der Fall, wenn beispielsweise der Sachverständige die Einsatzmöglichkeit des Versicherten im Akkord, Schichtdienst und an laufenden Maschinen verneint. Gleiches gilt für den Ausschluß von Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an das Seh-, Hör- oder Konzentrationsvermögen stellen, und schließlich kann bei ohnehin nur noch bestehender Fähigkeit zu leichter körperlicher Arbeit etwa das Erfordernis, häufiges Bücken zu meiden, im Ergebnis kaum als zusätzliche Einschränkung in diesem Zusammenhang gewertet werden.
Daß im vorliegenden Fall derartig außergewöhnliche Einschränkungen evident wären, läßt sich den Feststellungen des LSG jedenfalls, soweit diese auf Aussagen Sachverständiger beruhen, nicht entnehmen. Allerdings hat der Senat (aaO Nr 104) in seinen Beispielen für erhebliche Einschränkungen ua besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz genannt. Auf einen derartigen Sachverhalt weist das Berufungsgericht hin, indem es ausführt, es lasse sich nicht annehmen, daß die nervöse, mit ständigen Kopfschmerzen behaftete im fünfzigsten Lebensjahr stehende Klägerin überhaupt imstande sei, sich noch in einem für sie neuen Arbeitsplatz und Aufgabenbereich als Arbeitnehmerin unter den üblichen Wettbewerbsbedingungen auf dem allgemeinen Arbeitsfeld einzugewöhnen und einzuarbeiten. Indessen rügt die Beklagte hierzu, das angefochtene Urteil enthalte keine Ausführungen darüber, worauf das LSG seine Annahme stütze. Diese Rüge ist begründet. Denn einen allgemeinen Erfahrungssatz, der die Annahme des LSG rechtfertigen könnte, gibt es nicht. Insofern sind die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten (Verstoß gegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG, vgl BSG, Urteil vom 30. April 1975 - 12 RJ 340/74 = SozR 1500 § 128 Nr 4). Hat das LSG - was näherliegt - sich auf einen speziellen Erfahrungssatz berufen oder aus eigener Sachkunde eine Schlußfolgerung auf einem ihm normalerweise fremden Gebiet ziehen wollen, so wäre es, um dem Revisionsgericht eine Überprüfung zu ermöglichen, erforderlich gewesen, die Quellen für die spezielle Erfahrung oder Sachkunde anzugeben (BSG, Urteile vom 7. August 1975 - 10 RV 313/74 = SozR 1500 § 162 Nr 7 mwN und vom 2. Juni 1956 - 2 RU 20/56 = SozR Nr 33 zu § 103 SGG). Das hat das LSG nicht getan. Insofern ist § 128 Abs 2 Satz 2 SGG verletzt.
Das Berufungsgericht hat nunmehr noch Feststellungen zu treffen, die notwendig sind, um seine "Annahme" zu objektivieren. Sofern es nicht ausnahmsweise selbst die erforderliche Sachkunde besitzt (was zu belegen wäre), wird es einen Sachverständigen zuziehen müssen.
Stellt sich nach der Prüfung heraus, daß eine konkrete Bezeichnungspflicht entfällt, so wäre im Hinblick auf das vorhandene Leistungsvermögen der Klägerin damit deren Erwerbsunfähigkeit und zugleich Berufsunfähigkeit zu verneinen. Ergibt die Prüfung dagegen, daß konkrete Tätigkeiten zu benennen sind, so könnte damit aber gleichwohl nicht, wie im angefochtenen Urteil geschehen, aufgrund des bisherigen Sachstandes gefolgert werden, es seien keine Verweisungstätigkeiten für die Klägerin vorhanden. Denn die Beklagte, die im Termin vor dem Berufungsgericht den Hilfsantrag gestellt hatte, ein berufskundliches Gutachten zur Frage der beruflichen Anforderung und Belastung einer Sortiererin einzuholen, rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs 2 SGG): Das LSG habe sich auf die Auskunft des Landesarbeitsamtes Rheinland-Pfalz-Saarland vom 2. Dezember 1981 nicht berufen dürfen, weil diese nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden sei; das Berufungsgericht habe bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung nicht erkennen lassen, daß es seine Entscheidung auf die Auskunft stützen werde. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Weder Sitzungsprotokoll noch Urteil lassen erkennen, daß die Auskunft Gegenstand der Verhandlung war und die Beklagte sich zu ihr äußern konnte. Der Mangel wird auch nicht, wie anscheinend das LSG geglaubt hat, dadurch ausgeschlossen, daß die Beklagte den Ausführungen des Urteils zufolge bereits an einem Rechtsstreit beteiligt war, dessen Gegenstand die erwähnte Auskunft gewesen ist (zum Äußerungsrecht vgl BSG, Urteil vom 22. Juli 1977 - 5 RJ 96/76 = BSGE 44, 288, 289 f). Das angefochtene Urteil kann auch auf dem Verfahrensmangel beruhen; es ist zumindest nicht auszuschließen, daß bei einem ordnungsgemäßen Verfahren das Gericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn die Beklagte die Auskunft mit dem Leistungsvermögen der Klägerin hätte vergleichen können und sich dann möglicherweise auch das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, noch einen berufskundigen Sachverständigen zu hören.
Nach alledem war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, ohne daß geprüft zu werden brauchte, ob noch weitere Verfahrensmängel vorliegen.
Über die Kosten ist im Schlußurteil zu entscheiden.
Fundstellen