Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. keine entsprechende Anwendung der Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme. Ausnahmecharakter. Wegfall des Rechtsschutzinteresses. Betreibensaufforderung. Unterschriftserfordernis
Leitsatz (amtlich)
Für die Fiktion einer Berufungsrücknahme, wenn der Kläger das Verfahren nicht betreibt, gibt es im sozialgerichtlichen Verfahren keine Rechtsgrundlage.
Orientierungssatz
Soll eine Betreibensaufforderung iS des § 102 Abs 2 SGG Wirkung für die Beteiligten erzeugen, muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden, sondern auch die gem § 63 Abs 1 S 1 SGG zuzustellende Ausfertigung / beglaubigte Abschrift muss durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters erkennen lassen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.
Normenkette
SGG § 63 Abs. 1 S. 1, § 102 Abs. 2 S. 1, § 153 Abs. 1, § 156; VwGO § 92 Abs. 2 S. 1, § 125 Abs. 1, § 126 Abs. 2 S. 1; AsylVfG § 81 S. 1; AsylVfG 1992 § 81 S. 1; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.
Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.
Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.
Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.
Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.
Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.
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Der Kläger beantragt, |
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das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken; hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. |
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Die Beklagte beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).
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1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet: "Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen." Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 ≪§ 102≫; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen. |
2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.
Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG (BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.
Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).
a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.
Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden (vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.
Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG (aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).
b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.
Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.
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In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 ≪§ 102≫): |
"Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …" |
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Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20): |
"… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz." |
Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist (bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats ≪BR-Drucks 820/07 S 8 f = BT-Drucks 16/7716 S 29 f≫; Gegenäußerung der Bundesregierung ≪BT-Drucks 16/7716 S 37 f≫; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ≪BT-Drucks 16/8217 S 2, 4, 6 ff≫). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.
c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.
Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 ≪§ 92 VwGO≫). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.
Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt" (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 ≪§ 126 VwGO≫). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.
Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.
Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).
Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein (vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).
Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 ≪§ 157a≫): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".
d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).
Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht (Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).
Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 ≪§ 102≫), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte (s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4) zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.
Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.
Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.
e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.
Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.
Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.
Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG ≪Vorprüfungsausschuss≫ Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG ≪Vorprüfungsausschuss≫ Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).
Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG (Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 ≪§ 102≫).
Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.
3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.
a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).
Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).
b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).
Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 ≪§ 102≫; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3) diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.
4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
BSGE 2011, 254 |
NJW 2010, 12 |
NJW 2011, 1992 |
AnwBl 2011, 116 |
NZS 2011, 513 |
SGb 2010, 712 |
Breith. 2011, 391 |