Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit – MdE-Bewertung – allgemeiner Erfahrungssatz – Richtwert – Rechtscharakter – bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule – sozialgerichtliches Verfahren – Verstoß gegen richterliche Beweiswürdigung – Anwendung eines vermeintlichen allgemeinen Erfahrungssatzes
Leitsatz (amtlich)
Zur Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei einem an der Berufskrankheit Nr 2108 und/oder der Berufskrankheit Nr 2110 erkrankten Versicherten.
Stand: 9. Juli 2001
Normenkette
BKVO Anlage 1 Nrn. 2108, 2110; BKV Anlage 1 Nrn. 2108, 2110; RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2; SGG § 128 Abs. 1 S. 1
Beteiligte
Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft |
Bau-Berufsgenossenschaft Bayern und Sachsen |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 30. März 2000 aufgehoben, soweit darin die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 9. Juli 1998 zurückgewiesen worden ist.
In diesem Umfang wird die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist im Revisionsverfahren noch streitig, in welcher Höhe die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch ein als Berufskrankheit (BK) rechtskräftig festgestelltes Wirbelsäulenleiden gemindert ist.
Der im Jahre 1950 geborene Kläger war seit September 1970 bei der Motorradwerk Z. GmbH, vormals V. Motorradwerk Z., als Transportarbeiter sowie als Elektrokarrenfahrer und dort – nach einem zwischenzeitlichen beruflichen Einsatz als Straßen- und Tiefbauarbeiter beim VEB B. Z. in den Jahren 1988/1989 – weiterhin bis Juni 1991 als Gabelstaplerfahrer beschäftigt. Dabei bestand seine Tätigkeit im Heben und Tragen palettierter Motorradteile, im Be- und Entladen der Elektrokarren sowie im Fahren auf holprigen Werkstraßen. Nach einer anschließenden, etwa einjährigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme war der Kläger bei anderen Arbeitgebern als Schweißer, Bauhelfer, zahntechnische Hilfskraft und zuletzt vom 1. August 1993 bis 18. Januar 1994 als Estrichleger-Helfer beschäftigt. Danach war er – unterbrochen von einer eineinhalbmonatigen medizinischen Rehabilitationsmaßnahme im Jahre 1995 – arbeitslos.
Bereits seit etwa dem Jahre 1984 leidet der Kläger an wechselnd starken Rückenbeschwerden vor allem im Bereich der Lendenwirbelsäule, die ab dem Jahre 1993 in die Beine auszustrahlen begannen. In der Zeit vom 24. Februar bis zum 3. April 1992 war eine Krankschreibung wegen „Lumbago” notwendig geworden; seit dem 8. Dezember 1993 war er durchgehend wegen „Radikulitis, Lendenwirbelsäule-Syndrom” arbeitsunfähig krank geschrieben. Mittlerweile besteht zusätzlich eine arterielle Durchblutungsstörung beider Beine, wegen der er seit dem Jahre 1996 in Behandlung ist. Seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bestehen zusätzlich Nackenbeschwerden, Hüftschmerzen und Kniegelenksbeschwerden sowie Schmerzen im oberen rechten Sprunggelenk.
Nach Einholung von Krankheitsberichten, Stellungnahmen des Technischen Aufsichtsdienstes und der Gewerbeärztin Dr. G. sowie eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Medizinalrat W. lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Juni 1996 und Widerspruchsbescheid vom 18. September 1996 die Anerkennung und Entschädigung des beim Kläger bestehenden Wirbelsäulenleidens als BK ab. Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) stellte der zum Sachverständigen bestellte Facharzt für Orthopädie Prof. Dr. D. in seinem Gutachten vom 16. Mai 1997 sowie in einer ergänzenden Stellungnahme vom 1. Oktober 1997 eine in allen Ebenen bewegungseingeschränkte Lendenwirbelsäule bei röntgenologisch relativ geringen Verschleißerscheinungen fest. Es finde sich allerdings in einem computertomografischen Befund eine deutliche Protrusion (Vorwölbung) der Bandscheibe präsacral (oberhalb des Kreuzbeines) mit rechtsseitiger Betonung sowie eine mäßige Protrusion auch im Segment zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbel (L 4/5), wiederum mit rechtsseitiger Betonung. Diese Bandscheibenprotrusionen seien Ausdruck der Minderung der materiellen Qualität der Bandscheiben. Dadurch werde eine Instabilität in den Bewegungssegmenten hervorgerufen, welche die pseudoradikuläre lumbale vertebragene Schmerzsymptomatik zwanglos erkläre. Zusätzlich sei auch bei L 3/4 eine Spondylosis deformans nachweisbar. Darüber hinaus bestünden beim Kläger deutliche Verschleißerscheinungen im Bereich der Halswirbelsäule (C 5/6 und C 6/7) sowie – leichte – degenerative Veränderungen an beiden Hüft- und Kniegelenken, wobei als Ursache für die Coxarthrose beidseits eine Dysplasie-Anlage anzusehen sei. Dies stehe jedoch der Anerkennung einer beruflichen Verursachung der Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule nicht entgegen, nachdem die klinische Wertigkeit des Cervicalsyndroms deutlich geringer sei als die des lumbalen vertebragenen Schmerzsyndroms, und die an Halswirbelsäule, Hüften und Knien vorgefundenen Abnutzungserscheinungen nicht auf eine ausgesprochene Disposition zur Ausbildung degenerativer Veränderungen schließen ließen. Für die Pathogenese (Krankheitsentwicklung) sei es relativ unbedeutend, ob noch in den Jahren 1992 bis 1993 eine haftungsbegründende Exposition für eine Wirbelsäulenerkrankung bestanden habe. Denn die im Jahre 1994 eingetretene Arbeitsunfähigkeit sei letztlich nur als Kulminationspunkt eines vor 15 Jahren begonnenen Krankheitsprozesses anzusehen. Der Kläger habe seine Tätigkeit als Fußbodenbauer aufgrund der lumbalen vertebragenen Schmerzsymptomatik glaubhaft nicht mehr realisieren können. Seit deren Aufgabe betrage die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 20 vH.
Nachdem die Beklagte dem Sachverständigen widersprochen hatte, daß den degenerativen Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule bei der Beurteilung keine Bedeutung zukomme, hat das SG den Facharzt für Chirurgie und Arbeitsmedizin Dr. O. als weiteren Sachverständigen befragt. Die von diesem vorgenommene klinische Untersuchung ergab wiederum den Befund eines „weitgehend diffusen vertebragenen Schmerzsyndroms mit leichter Pseudoradikulärsymptomatik im rechten Bein”. Bei Dominanz oder auch Gleichwertigkeit einschlägiger Symptome in nicht exponiert gewesenen Wirbelsäulenbereichen könne ein Kausalzusammenhang zwischen Belastung und Erkrankung nicht wahrscheinlich gemacht werden. Beim Kläger spreche vor allem die röntgenologische Befundkonstellation gegen eine BK.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Juli 1998). Das Leiden des Klägers könne nicht als BK Nr 2108 und Nr 2110 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) anerkannt werden, da bei ihm ein für eine solche BK typisches Krankheitsbild nicht vorliege. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Beiladung der Bau-Berufsgenossenschaft Bayern und Sachsen auf die Berufung des Klägers festgestellt, daß die bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule Folge einer BK sei und die Beigeladene verurteilt, diese Erkrankung als BK nach den Nrn 2108 und 2110 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 30. März 2000). Die beruflichen Belastungen des Klägers seien für die Entstehung seiner bandscheibenbedingten Erkrankung nicht bedeutungslos gewesen. Die bei ihm bestehende intersegmentale Instabilität spreche dafür, daß neben dem Heben von schweren Lasten auch die langjährige Ganzkörpervibration zur Ausbildung eines Krankheitszustandes beigetragen habe. Als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles komme nur der 8. Dezember 1993 in Betracht, weil er von da an nicht einmal mehr in der Lage gewesen sei, die im Vergleich zu den zuvor ausgeübten Tätigkeiten als Transportarbeiter, E-Karren-Fahrer, Staplerfahrer und Bauhelfer in wesentlich geringerem Maße wirbelsäulenbelastende Tätigkeit eines Estrichleger-Helfers auszuführen.
Allerdings könne der von Prof. Dr. D. vorgeschlagenen beruflich verursachten Höhe der MdE (20 vH seit dem 8. Dezember 1993) nicht gefolgt werden. Die von den befragten Sachverständigen erhobenen Befunde – eine nur mäßige Funktionseinschränkung in der Vorneigung bei einem Schober-Zeichen von 10/14, keine Nervenwurzel-Reizerscheinungen (negatives Lasègue-Zeichen), Beschwerden von wechselnder Intensität, eine lediglich leichte Pseudoradikulärsymptomatik im rechten Bein – rechtfertigten keine MdE um 20 vH. Dieser Befund werde auch durch das im beim SG anhängigen Verfahren (S 8 RJ 284/97) über eine Rente wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit erhobene Gutachten des Dr. L. vom 24. April 1998 bestätigt, wonach der pathomorphologische Wirbelsäulen-Befund eine nur mäßige Einschränkung der Funktion und der statischen Leistungsfähigkeit der Wirbelsäule bedinge, jedoch keine objektivierbaren neurologischen Ausfallerscheinungen wie muskuläre Schwächen oder segmentale Gefühlstörungen festzustellen gewesen seien. In diesem Gutachten werde sogar unter Umständen ein Weiterarbeiten des Klägers als Estrichleger für möglich gehalten. Ein berufsbedingter Wirbelsäulenschaden mit Funktionseinschränkung und ohne Nervenausfälle werde in der Regel mit einer MdE um 10 vH und nur bei sehr ausgeprägten Veränderungen bis zu 20 vH bewertet. So würden die Folgen eines Bandscheibenvorfalls bis zum Ablauf von sechs Monaten mit einer MdE um 20 vH bewertet. Mit einem solchen Krankheitsbild sei das Leiden des Klägers derzeit noch nicht vergleichbar. Wenn demgegenüber im Schwerbehinderten-Verfahren beim Kläger eine „Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen” festgestellt und – ohne Bindungswirkung nach außen – mit einem Einzel-Grad der Behinderung von 20 bewertet worden sei, beruhe das auf der dieser Einschätzung zugrundeliegenden weniger breiten Ermittlungsgrundlage. Diesem Ergebnis stehe auch nicht die Tatsache entgegen, daß die Wirbelsäulenschädigung immerhin ein solches Ausmaß erreicht habe, das den Kläger dazu gezwungen habe, seine bisher ausgeübte Berufstätigkeit aufzugeben. Ein Rechts- oder Erfahrungssatz des Inhalts, daß eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule die zur Unterlassung aller als ursächlich dabei in Betracht kommenden Tätigkeiten gezwungen habe, eo ipso, und ohne jede Prüfung im Einzelfall einen rentenberechtigenden Schweregrad aufweise, existiere nicht. Die Reichsversicherungsordnung (RVO) und die BKVO sähen eine erhebliche Funktionsminderung als Anerkennungsvoraussetzung jedenfalls nicht ausdrücklich vor, was rechtlich die Anerkennung eines Wirbelsäulenleidens als BK auch ohne rentenberechtigende Funktionseinschränkung zulasse. Obwohl selbstverständlich ein bedeutender Zwang zum Unterlassen schädigender Tätigkeiten ein Indiz für das Ausmaß der eingetretenen Schädigung sei, dürfe doch auch die vorbeugende Funktion eines solchen Unterlassungszwanges nicht übersehen werden, mit dem frühzeitig verhindert werden solle, daß die Schädigung weiter fortschreite und zu einer dauernden Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit führe.
Schließlich sei die Beigeladene im vorliegenden Rechtsstreit auch die richtige Anspruchsgegnerin. Sie sei nämlich als der für die letzte gefährdende Tätigkeit zuständige Träger für die Anerkennung der BKen Nrn 2108/2110 und eine etwaige spätere Leistungsgewährung sachlich und örtlich zuständig.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger, das LSG habe sich über die Einschätzung der Höhe der MdE von 20 vH durch Prof. Dr. D. hinweggesetzt und sich nur auf die einschlägige Fachliteratur bezogen, ohne den Weg zu gehen, den das Bundessozialgericht (BSG) zur Bildung einer MdE und damit zur Anwendung von § 581 Abs 1 RVO für erforderlich halte. In seiner Entscheidung vom 14. November 1984 (SozR 2200 § 581 Nr 22) habe das BSG ausgeführt, daß bei der MdE-Bewertung eigentlich für jede einzelne Arbeitsunfallfolge und BK in einem dreistufigen Verfahren ermittelt werde, welche tatsächlichen Voraussetzungen für eine MdE-Bewertung nach empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gegeben sind. Im Rahmen einer Dreistufigkeit sei zunächst medizinisch festzustellen, welche Funktionen, die für die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bedeutsam sein könnten, durch die anerkannte Arbeitsunfallfolge oder BK beeinträchtigt würden und in welchem Ausmaß das eingetreten sei. Danach sei zu ermitteln, inwieweit die festgestellten Funktionseinbußen den Leistungsanforderungen im gesamten Erwerbsleben nicht gerecht würden. Schließlich sei zu berücksichtigen, welchen Anteil die Tätigkeiten, mit denen die nicht mehr erfüllbaren Anforderungen verbunden seien, am gesamten Erwerbsleben hätten, dh wie häufig sie im Verhältnis zu anderen vorkämen. Zwar habe das BSG auch ausgeführt, daß zur vereinfachten Beurteilung nach § 581 Abs 1 RVO sich ein Gerüst von MdE-Werten herausgebildet habe. Bei der endgültigen Festsetzung sei jedoch das Ergebnis der Beweisaufnahme durch den Sachverständigen mit den MdE-Werten dieser Gerüsttabelle in Einklang zu bringen, und dafür seien die Prüfungsschritte in dem dreistufigen Verfahren vorgesehen. Hätte das LSG im Rahmen der Feststellung der MdE diese Schritte vorgenommen, so hätte es bei dem Sachverständigen nachfragen müssen, wie dieser zu seiner abweichenden Entscheidung gelangt sei. Diese Befragung hätte dann ergeben, daß aufgrund der im Gutachten aufgeführten Diagnosen, insbesondere das lumbale vertebragene pseudoradikuläre Schmerzsyndrom bei intersegmentaler Hypermobilität und dreisegmentalen degenerativen Veränderungen über die in der Tabelle enthaltenen Richtwerte hinausgehe. Die Beigeladene wäre dann zur Gewährung der Verletztenrente zu verurteilen gewesen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG vom 30. März 2000 zu ändern und die Beigeladene zu verurteilen, ihm aufgrund der bestehenden Wirbelsäulenerkrankung als BK eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten § 581 Abs 1 RVO nicht für verletzt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Verletztenrente wegen einer BK nach den Nrn 2108 und 2110 der Anlage 1 zur BKVO zusteht, nicht aus. Das angefochtene Urteil beruht auf dem vom Kläger ordnungsgemäß gerügten Verfahrensmangel, daß das LSG die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG überschritten hat.
Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch, ob der Kläger Anspruch auf Verletztenrente hat. Soweit das LSG im angefochtenen Urteil festgestellt hat, daß der Kläger seit dem 8. Dezember 1993 an einer BK nach den Nrn 2108 und 2110 der Anlage 1 zur BKVO leidet, ist diese Entscheidung rechtskräftig geworden, da weder die Beklagte noch die Beigeladene innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen (§ 164 Abs 1 Satz 1 SGG, § 202 SGG iVm § 556 Abs 1 der Zivilprozeßordnung) Revision oder Anschlußrevision eingelegt haben.
Der vom Kläger erhobene Anspruch auf Verletztenrente richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da nach den bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG der Versicherungsfall am 8. Dezember 1993, also vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997, eingetreten ist und die Leistung nicht nach dem Inkrafttreten des SGB VII erstmals festzusetzen war (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, §§ 212, 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII).
Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist § 581 Abs 1 Nr 2 RVO. Danach wird dem Verletzten als Verletztenrente der Teil der Vollrente (§ 581 Abs 1 Nr 1 RVO) gewährt, der dem Grade der MdE entspricht, solange seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel (20 vH) gemindert ist.
Die Bemessung des Grades der MdE, also die aufgrund § 581 Abs 1 RVO durch eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfangs der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (vgl jetzt: § 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII), ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 4, 147, 149; BSG Urteil vom 23. April 1987 – 2 RU 42/86 – HV-Info 1988, 1210 und zuletzt Urteil vom 27. Juni 2000 – B 2 U 14/99 R – SozR 3-2200 § 581 Nr 7, jeweils mwN). Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (BSG zuletzt Urteil vom 19. Dezember 2000 – B 2 U 49/99 R –). Bei BKen richtet sich die MdE – wie bei den Unfallfolgen – einerseits nach der Schwere des noch vorhandenen akuten Krankheitszustands (BSGE 47, 249, 252 = SozR 5670 Anlage 1 Nr 5101 Nr 3) sowie andererseits nach dem Umfang der dem Erkrankten verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (BSG Urteil vom 29. April 1980 – 2 RU 60/78 – HVBG RdSchr VB 137/81 vom 25. Juni 1981; BSG SozR 5677 Anlage 1 Nr 46 Nr 3; BSG SozR 2200 § 581 Nr 22). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten oder des an einer BK Erkrankten durch die Folgen des Unfalls oder durch die BK beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Bei der Beurteilung der MdE sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigen Wandel unterliegen (vgl BSG SozR 2200 § 581 Nrn 23 und 27; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 5; BSG Urteil vom 19. Dezember 2000, aaO; Brackmann/Burchardt, SGB VII, § 56 RdNr 71).
Die Feststellung der Höhe der MdE erfordert als tatsächliche Feststellung stets eine Würdigung der hierfür notwendigen Beweismittel. Diese vom Tatsachengericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach dem Gesamtergebnis der Verfahrens unter Einschluß der Beweisaufnahme nach der Überzeugungskraft der jeweiligen Beweismittel frei vorzunehmende Würdigung (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, § 128 RdNr 4 mwN) darf das Revisionsgericht nur darauf prüfen, ob das Tatsachengericht die Grenzen der freien Beweiswürdigung nicht überschritten hat (BSG Urteil vom 31. Mai 1996 – 2 RU 24/95 – HVBG-Info 1996, 2071; BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 19 mwN). Daher kann das Revisionsgericht bei geltend gemachten Verstößen gegen sie nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (BSG Urteil vom 6. April 1989 – 2 RU 69/87 – HV-Info 1989, 1368; BSG SozR 1500 § 164 Nr 31; BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 19; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl, III, RdNrn 162 f sowie IX, RdNr 286). Von einem Verstoß gegen Denkgesetze kann dabei nur gesprochen werden, wenn aus den gesamten Gegebenheiten nur eine Folgerung gezogen werden kann, jede andere nicht „denkbar” ist und das Gericht die allein denkbare nicht gezogen hat (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 19 mwN). Ein allgemeiner Erfahrungssatz ist verletzt, wenn das Gericht einen bestehenden Erfahrungssatz nicht berücksichtigt (BSG SozR 1500 § 128 Nr 4; BSG SozR 1500 § 103 Nr 25) oder einen tatsächlich nicht existierenden Erfahrungssatz angewendet hat (vgl BSGE 36, 35, 36 = SozR Nr 40 zu § 548 RVO; BSG SozR Nrn 72 und 89 zu § 128 SGG; BSG SozR 1500 § 103 Nr 25).
Das LSG hat in Abweichung von dem Vorschlag des Sachverständigen Prof. Dr. D., der die MdE des Klägers mit 20 vH bewertet hat, eine MdE um 10 vH festgestellt. Es hat dies damit begründet, daß nach Befragung der Sachverständigen und Heranziehung des Gutachtens im Rentenverfahren beim Kläger nur mäßige Funktionsausfälle ohne Nervenausfälle bestünden und daß ein berufsbedingter Wirbelsäulenschaden mit Funktionseinschränkung und ohne Nervenausfälle „in der Regel” mit einer MdE um 10 vH, bei sehr ausgeprägten Veränderungen bis zu 20 vH bewertet werde. Hierzu hat es zwei Fundstellen aus der unfallversicherungsrechtlichen Literatur zitiert, nämlich Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung, M 2108 RdNr 10 sowie Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl, S 540. Zur weiteren Begründung seiner MdE-Feststellung hat das LSG angeführt, daß mit einer MdE um 20 vH zB die Folgen eines Bandscheibenvorfalls bis zum Ablauf von sechs Monaten bewertet würden und daß mit einem solchen Krankheitsbild das Leiden des Klägers derzeit noch nicht vergleichbar sei. Auch hierzu hat es zwei Fundstellen aus der unfallversicherungsrechtlichen Literatur zitiert, und zwar Podzun/Nehls, Der Unfallsachbearbeiter, Kennzahl 500 S 33 sowie Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl, Anhang 12 J 022. Diese Ausführungen des LSG können nur so verstanden werden, daß es die MdE beim Kläger entgegen dem Vorschlag des Sachverständigen Prof. Dr. D., der als einziger dessen MdE bewertet hat, nicht aufgrund eigener Sachkenntnis, sondern aufgrund eines allgemeinen Erfahrungssatzes („in der Regel”) mit 10 vH bewerten wollte.
Hiergegen hat der Kläger in seiner Revisionsbegründung eingewandt, das LSG hätte die MdE-Feststellung nicht in Abweichung von der Empfehlung des Sachverständigen Prof. Dr. D. auf die genannten Veröffentlichungen in der Fachliteratur stützen dürfen, ohne ihn zuvor noch einmal gehört zu haben. Obwohl der Kläger die verletzte Verfahrensnorm nicht ausdrücklich bezeichnet hat, rügt er mit diesem Vorbringen im Kern – neben einer Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) – einen Verstoß gegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG, indem er darlegt, daß das LSG die vermeintlichen allgemeinen Erfahrungssätze nicht ohne weitere Sachverständigenbefragung hätte anwenden dürfen. Zur Rüge einer Verletzung dieser Vorschrift im Rahmen eines Revisionsverfahrens gehört wie zu jeder Verfahrensrüge die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) und aus denen die Möglichkeit folgt, daß das Gericht ohne Verfahrensverletzung anders entschieden hätte. Erforderlich ist eine Darlegung, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG SozR 1500 § 164 Nr 31 mwN; Krasney/Udsching, aaO, IX RdNr 330). Die für verletzt erachtete Vorschrift braucht nicht genau nach Gesetz und Paragraphennummer bezeichnet zu werden. Es reicht aus, wenn sie sich deutlich aus dem Inhalt der Darlegungen des Revisionsklägers ergibt (BSG SozR 1500 § 164 SGG Nr 12 mwN; BSG Urteil vom 21. Juli 1988 – 3 RK 17/87). Diese Voraussetzungen erfüllt das Revisionsvorbringen des Klägers. Dieser hat auch hinreichend dargelegt, daß das angefochtene Urteil auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen kann.
Seine Rüge einer Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG ist auch begründet. Das LSG hat allerdings die Grenzen der freien Beweiswürdigung nicht deshalb überschritten, weil es die MdE beim Kläger nicht nach dem von diesem bezeichneten dreistufigen Verfahren festgestellt hat. Denn eine Verpflichtung der Gerichte, im Rahmen der Feststellung der MdE bei Arbeitsunfällen und BKen nach diesem Verfahren vorzugehen, besteht nicht.
Damit steht der Senat nicht in Widerspruch zum Urteil des – nicht mehr für Streitigkeiten aus dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung zuständigen – 9b-Senats des BSG vom 14. November 1984 (SozR 2200 § 581 Nr 22), in dem erwogen wird, daß „eigentlich” für jede einzelne Arbeitsunfallfolge und BK in einem – wie vom Kläger dargelegt – dreistufigen Verfahren ermittelt werden müßte, welche tatsächlichen Voraussetzungen für eine MdE-Bewertung nach empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gegeben seien. Auch in dieser Entscheidung wird davon ausgegangen, daß sich für die Bewertung der MdE bei Arbeitsunfällen und BKen im Laufe der Zeit eine vereinfachte Beurteilung nach § 581 Abs 1 RVO in Form eines „Gerüstes” von MdE-Werten herausgebildet hat und daß sich Leistungsträger und Gerichte im allgemeinen mit veröffentlichten MdE-Zahlen für einzelne Gesundheitsstörungen als Richtwerte begnügen. Auch wird in dieser Entscheidung bestätigt, daß dieses vereinfachte Verfahren von der herrschenden Meinung um des allgemeinen Gleichheitssatzes willen gebilligt wird und als ständige Übung Beachtung beanspruchen kann, soweit die verwerteten Erfahrungswerte allgemein anerkannt werden (Näheres hierzu vgl Beschluß des Senats vom 19. März 1996 – 2 BU 161/95 – HVBG-Info 1996, 2214).
Das LSG hat jedoch die Grenzen der freien Beweiswürdigung dadurch überschritten, daß es gegen allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat. Soweit es im angefochtenen Urteil dem Vorschlag des Sachverständigen Prof. Dr. D. mit der Begründung nicht gefolgt ist, ein berufsbedingter Wirbelsäulenschaden mit Funktionseinschränkung und ohne Nervenausfälle werde in der Regel mit einer MdE um 10 vH, bei sehr ausgeprägten Veränderungen bis zu 20 vH bewertet, hat es sich dabei auf einen allgemeinen Erfahrungssatz gestützt, der in Wirklichkeit – zumindest noch – nicht existiert.
Generell handelt es sich bei allgemeinen Erfahrungssätzen um Schlüsse, die man aufgrund von Erfahrung, darunter auch fachlicher Erfahrung, aus einer Reihe gleichartiger Tatsachen zieht und die daher entweder der allgemeinen Lebenserfahrung oder der besonderen Fachkunde angehören (vgl Baumbach/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 59. Aufl, § 284 RdNr 22 mwN). Sie sind zwar im engeren Sinne keine Rechtssätze, weil ihnen die normative Verbindlichkeit fehlt und ihre Richtigkeit als Erfahrungssätze davon abhängt, daß weiterhin die entsprechenden Erfahrungen gemacht werden. Gleichwohl helfen sie wie Rechtssätze, die Gleichmäßigkeit und Kontinuität der Rechtsprechung zu sichern (vgl Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl, S 109; May, Die Revision, 2. Aufl, VI RdNrn 347 und 348). Insbesondere ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, daß Gerichte im Beweisverfahren eine Einzelfallprüfung aufgrund der von ihnen angewendeten allgemeinen Erfahrungssätze für entbehrlich halten (BVerfG NJW 1995, 125). Ob im Einzelfall ein entsprechender allgemeiner Erfahrungssatz besteht, ist allerdings eine Rechtsfrage (Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl, § 137 RdNr 19 mwN), die im Revisionsverfahren nachprüfbar ist (vgl BSGE 10, 46, 49; BSGE 18, 179, 180 = SozR Nr 59 zu § 542 RVO aF; BSGE 36, 35, 36 = SozR Nr 40 zu § 548 RVO; BSG Urteil vom 23. April 1987 – 2 RU 42/86 – HV-Info 1988, 1210; BSG SozR 2200 § 581 Nr 27; BSGE 82, 212, 216 = SozR 3-2200 § 581 Nr 5).
In der gesetzlichen Unfallversicherung haben sich im Laufe der Zeit bei einer Vielzahl von Unfallfolgen und BKen für die Schätzung der MdE Erfahrungswerte herausgebildet. Sie sind in Form von Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefaßt und dienen als Anhaltspunkte für die MdE-Einschätzung im Einzelfall (siehe Zusammenstellung bei Izbicki/Neumann/Spohr, Unfallbegutachtung, 9. Aufl, S 111 ff). Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte bilden in der Regel die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet, und gewährleisten, daß alle Betroffenen bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (Ruppelt in Schulin HS-UV, § 48 RdNr 28). Den Empfehlungen kommt damit ebenso wie den MdE-Tabellen nicht der Rechtscharakter einer gesetzlichen Norm zu (vgl Pense, Die Rechtsnatur von MdE-Tabellen, 1995, S 37, 58 und 155). Sie stellen vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten allgemeine Erfahrungssätze im oben genannten Sinne dar (BSGE 82, 212, 215 = SozR 3-2200 § 581 Nr 5; Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl, § 56 SGB VII, RdNr 10.3; vgl auch Kopp/Schenke, aaO, § 98 RdNr 3a mwN), um den unbestimmten Rechtsbegriff der MdE auszufüllen.
Voraussetzung für die Anerkennung von Empfehlungen zur MdE-Bemessung als allgemeine Erfahrungssätze ist, daß sie auf wissenschaftlicher Grundlage von Fachgremien ausschließlich aufgrund der zusammengefaßten Sachkunde und Erfahrung ihrer sachverständigen Mitglieder erstellt worden sind (vgl Kopp/Schenke, aaO, § 98 RdNr 3a) und daß sie immer wiederkehrend angewendet und von Gutachtern, Verwaltungsbehörden, Versicherungsträgern, Gerichten sowie Betroffenen anerkannt und akzeptiert werden (vgl BSGE 40, 120, 123/124 = SozR 3100 § 30 Nr 8; BSG SozR 2200 § 581 Nr 15; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, S 155). Allgemeine Wertungen zur MdE bei BKen sind nur dann als „Richtwerte” iS allgemeiner Erfahrungssätze anzusehen, wenn darin die Folgen einer BK für die Erwerbsfähigkeit so weitgehend abgeklärt sind, daß eine Beurteilung durch medizinische Sachverständige im Einzelfall hinsichtlich der Anwendung dieser „Richtwerte”, der Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls sowie der Prüfung, ob wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, daß diese „Richtwerte” einer erneuten Überprüfung bedürfen, ausreicht (vgl BSG Beschluß vom 19. März 1996 – 2 BU 161/95 – HVBG-Info 1996, 2214).
Dementsprechend haben sich zur Bemessung der MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung eine Reihe von Erfahrungswerten herausgebildet, die den Charakter von allgemeinen Erfahrungssätzen haben. So haben zur Beurteilung der MdE bei Augenverletzungen die Deutsche Ophtalmologische Gesellschaft, der Berufsverband der Augenärzte Deutschlands und der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) Grundsätze herausgegeben (s HVBG RdSchr VB Nr 29/94; vgl BSG Urteil vom 19. Dezember 2000 – B 2 U 49/99 R –). Die Bewertung von Hörverlusten richtet sich im wesentlichen nach dem „Königsteiner Merkblatt” (Empfehlungen des HVBG für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit, 4. Aufl 1996; vgl BSG Urteil vom 15. Dezember 1982 – 2 RU 55/81 – Meso B 40/24). Bei Hauterkrankungen sind die Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Berufs- und Umweltdermatologie in Zusammenarbeit mit den Unfallversicherungsträgern (s HVBG RdSchr VB Nr 83/95) ein geeignetes Hilfsmittel (vgl BSGE 63, 207, 210 = SozR 2200 § 581 Nr 28).
Weder zur BK Nr 2108 noch zur BK Nr 2110 liegen jedoch Erfahrungswerte vor, welche wie die vorgenannten Empfehlungen die Voraussetzungen für allgemeine Erfahrungssätze erfüllen (vgl zum Ganzen: Brandenburg, BG 1993, 791, 798). Das folgt einmal daraus, daß der Zeitraum, in der sich solche Erfahrungswerte hätten entwickeln und allgemeine Anerkennung erhalten können, zu kurz war. Beide Erkrankungen der Lendenwirbelsäule sind erst durch die Zweite Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343) als BKen in die BKVO eingefügt worden. Erst von diesem Zeitpunkt ab bestand innerhalb des Systems der gesetzlichen Unfallversicherung Anlaß zu einer wissenschaftlichen Prüfung, wie sich die Folgen dieser BKen auf das Erwerbsleben auswirken. Diese im Gegensatz zu den jahrzehntelangen Zeiträumen, die bei der Entwicklung von allgemeinen Erfahrungssätzen bei anderen BKen zur Verfügung gestanden haben, kurze Zeitdauer, in der Erfahrungen über das Vorliegen der beiden BKen und der entsprechenden MdE-Bewertung zu gewinnen waren, war bei der BK Nr 2108 noch zusätzlich durch die Unsicherheit geprägt, ob der Verordnungsgeber diese Erkrankung überhaupt in die BK-Liste aufnehmen durfte. Diese Ungewißheit wurde erst durch das Urteil des Senats vom 23. März 1999 beendet (BSGE 84, 30 = SozR 3-2200 § 551 Nr 12).
Der kurzen Zeitdauer entspricht auch die verhältnismäßig geringe Zahl an Versicherten, bei denen eine MdE festzustellen war und deren MdE-Bewertung als Grundlage für spätere allgemeine Erfahrungssätze in Betracht kämen. Zu diesem Personenkreis zählen nämlich nicht alle Versicherten, bei denen aufgrund von entsprechenden Anzeigen im jeweiligen Einzelfall ermittelt werden mußte, ob eine BK Nr 2108 oder Nr 2110 vorlag, sondern nur die wenigen aus diesem großen Personenkreis, bei denen eine dieser BKen festgestellt worden ist und anschließend zu ermitteln war, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe ihnen ein Anspruch auf Verletztenrente zusteht. Den amtlichen statistischen Unterlagen ist zu entnehmen, daß die Zahl der Versicherten, bei denen eine der beiden BKen anerkannt wurden, im Verhältnis zu den Nichtanerkennungen sehr gering ist. So betrug etwa im Jahre 1995 in der gesamten gesetzlichen Unfallversicherung die Zahl der Anzeigen bei der BK 2108 16.363, bei der BK 2110 1.289; die Zahl, bei der sich ein entsprechender BK-Verdacht nicht bestätigt hat, bei der BK 2108 16.321, bei der BK 2110 1.146 lag (vgl Die gesetzliche Unfallversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Statistischer und finanzieller Bericht für das Jahr 1995, herausgegeben vom: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Tabelle 5 – Gesamtergebnis). Die entsprechenden Statistiken für die Jahre 1993, 1994 und 1996 bis 1999 ergeben keine grundlegend anderen Verhältnisse zwischen Ablehnungen und Anerkennungen. Ist bereits fraglich, ob die verhältnismäßig niedrige Zahl von heranzuziehenden Fällen eine ausreichende Grundlage für die Aufstellung allgemeiner Erfahrungssätze bilden kann, so fehlt es jedenfalls an einem Regelwerk, das unter Auswertung dieser MdE-Bewertungen zustande gekommen sein kann.
Selbst wenn man unterstellt, daß für beide BKen wegen der Gleichartigkeit der Funktionsausfälle nur ein einziges Regelwerk erforderlich ist, das – etwa vergleichbar den oben genannten anerkannten Empfehlungen – gemeinsam von den Fachverbänden insbesondere der Orthopäden und Arbeitsmediziner sowie den Verbänden der Unfallversicherungsträger zustande gekommen wäre, existiert ein solches Regelwerk nicht. Soweit in der medizinisch-juristischen Fachliteratur derartige Empfehlungen vereinzelt enthalten sind, geben sie entweder die Meinung des jeweiligen Autors oder die Meinung der Teilnehmer an Fachkonferenzen wieder. Darüber hinaus stimmen diese Veröffentlichungen teilweise nicht überein. Dies wird aus einem Vergleich der vom LSG herangezogenen Literaturstellen mit anderen Veröffentlichungen deutlich.
In dem vom LSG zitierten Kommentar von Mehrtens/Perlebach heißt es bei M 2108 RdNr 10 unter der Überschrift „Anhaltspunkte”:
„Funktionseinschränkung der LWS |
|
Funktionell nicht bedeutsame neurologische Ausfälle |
MdE 10 % |
Starke Funktionseinschränkung der LWS |
MdE 20 % |
Funktionseinschränkung mit funktionell bedeutsamen motorischen Ausfällen und/oder ausgeprägtem, funktionell schwerwiegenden chronischen Wurzelreizsyndrom |
MdE 30 % |
In der Regel wird ein berufsbedingter Wirbelsäulenschaden mit Funktionseinschränkung und ohne Nervenausfälle mit einer MdE von 10 %, bei sehr ausgeprägten Veränderungen bis zu 20 % bewertet. Eine noch höhere Einschätzung ist nur im Ausnahmefall und meist auch nur bei gleichzeitigem Nachweis von Lähmungen zu begründen.”
Mit dieser Kommentarstelle stimmt das vom LSG ebenfalls zitierte Lehrbuch von Schönberger/Mehrtens/Valentin unter RdNr 8.3.5.5.6 S 540 nur teilweise überein. Hier fehlt jedoch deren letzter Absatz, dessen erster Satz im angefochtenen Urteil wörtlich wiedergegeben wird und der für die Bewertung der MdE durch das LSG von entscheidender Bedeutung ist. Der Inhalt dieses letzten Absatzes aus der Kommentarstelle von Mehrtens/Perlebach stimmt wiederum wörtlich mit Ausführungen von Hax/Hierholzer aus dem Jahre 1994 überein (vgl Hax/Hierholzer, Begutachtung in Bericht über die 13. Murnauer Unfalltagung 1994, Herausgeber HVBG, S 75, 95). Demgegenüber wird an der zitierten Stelle in dem genannten Lehrbuch in einer Fußnote auf eine Stelle in der von Wolter/Seide herausgegebenen Monographie „Berufskrankheit 2108 – Kausalität und Abgrenzungskriterien” (1995). Dort wird unter „MdE” auf S 184 der Inhalt einer Fachdiskussion wiedergegeben und ua ausgeführt:
„Bolm-Audorf bemerkt, daß oft eine nicht begreifbare Diskrepanz zwischen der Begründung einer EU-Rente und der Einschätzung der MdE im Rahmen der Begutachtung zur Berufserkrankung besteht. So wird in einem Beispielfall einerseits empfohlen, nur noch 2 h täglich zu arbeiten, andererseits die MdE mit lediglich 10 % eingeschätzt. Antragstellern mit entsprechenden Rückenbeschwerden sei ein großer Teil des Arbeitsmarktes verschlossen. Es sei deshalb zu diskutieren ob die empfohlenen Einschätzungen nicht zu niedrig seien.
Es wird unter allgemeiner Zustimmung erwidert, daß die MdE im Rahmen der Begutachtung zur BK 2108 aufgrund der Funktion und in Anlehnung an die Einschätzungen im Rahmen der Unfallbegutachtung festgestellt werden soll. Hier werden 10-20 %, lediglich bei schwerwiegenden neurologischen Ausfällen 30 % oder mehr angesetzt.”
Der Vergleich der genannten Veröffentlichungen miteinander macht deutlich, daß keine übereinstimmenden Aussagen dazu gemacht werden, unter welchen Voraussetzungen Funktionseinschränkungen mit einer MdE um 10 vH oder einer MdE um 20 vH zu bewerten sind. Fehlt es somit schon an der Übereinstimmung der zur MdE-Bewertung bei den BKen Nr 2108 und Nr 2110 ergangenen Einzelveröffentlichungen, so kann erst recht nicht angenommen werden, daß hierzu ein allgemeiner Erfahrungssatz besteht.
Soweit das LSG seine MdE-Bewertung beim Kläger auf die bei Podzun/Nehls aaO und Mehrtens aaO veröffentlichten Richtwerte aus den „MdE-Erfahrungswerten” stützt, wonach die Folgen eines Bandscheibenvorfalls bis zum Ablauf von sechs Monaten mit einer MdE um 20 vH, bis zum Ablauf eines Jahres mit einer MdE um 10 vH und danach mit keiner MdE mehr bewertet werden, kann der Senat offenlassen, ob es sich hierbei um einen allgemeinen Erfahrungssatz handelt. Denn wenn dies der Fall ist, bezieht er sich auf traumatisch verursachte Bandscheibenvorfälle, bei denen generell angenommen wird, daß ihre Folgen innerhalb eines Jahres so weit abgeklungen sind, daß sie keine MdE mehr verursachen. Eine Anwendung der Empfehlung auf chronische bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS iS eines allgemeinen Erfahrungssatzes erscheint deshalb ausgeschlossen.
Da mithin die Feststellung der Höhe der MdE, auf der das angefochtene Urteil beruht, unter Verstoß gegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG zustande gekommen und daher für das Revisionsgericht nicht bindend ist, war die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat nunmehr unter Verwendung zulässiger und geeigneter Beweismittel die Höhe der beim Kläger vorliegenden, durch die BKen Nr 2108 und Nr 2110 verursachte MdE festzustellen und zu entscheiden, ob ihm ein Anspruch auf Verletztenrente zusteht.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 613653 |
FA 2001, 352 |
SozR 3-2200 § 581, Nr. 8 |
SozSi 2002, 29 |