Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. unzulässiges Berufungsbegehren. Fehlen der formellen Beschwer. erstmalige Geltendmachung. Wie-Berufskrankheit. Listenberufskrankheit. wirksame Klageänderung. keine Heilung fehlender Prozessvoraussetzungen
Orientierungssatz
1. Die Entscheidung des Versicherungsträgers oder des Gerichts im Gerichtsverfahren über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer Berufskrankheit kann sich angesichts der völlig verschiedenen Voraussetzungen für die derzeit insgesamt 68 Listen-BKen in der Anlage zur BKV sowie die eventuell zu prüfenden Wie-Berufskrankheiten nach § 9 Abs 2 SGB 7 bzw früher § 551 Abs 2 RVO immer nur auf einzelne Listen- oder Wie-Berufskrankheiten beziehen.
2. Erweitert die Sonderrechtsnachfolgerin ihr Begehren im Berufungsverfahren gegenüber den vom Versicherten vor dem SG im Klageantrag verfolgten Anspruch auf Anerkennung einer Listenberufskrankheit auch um die Geltendmachung eines Anspruch auf Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit, so ist die Berufung mangels Vorliegens der formellen Beschwer unzulässig.
3. Eine wirksame Klageänderung im Berufungsverfahren kann nicht die für die Zulässigkeit der Berufung fehlenden Prozessvoraussetzungen heilen. Daher ist es unerheblich, dass die Beklagte der Einbeziehung einer Wie-Berfuskrankheit in das Berufungsverfahren im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht widersprochen hat und die Klageänderung als solche deshalb gemäß § 99 Abs 1 SGG für zulässig gehalten hat.
Normenkette
RVO § 551 Abs. 1-2; SGB 7 § 9 Abs. 1-2; BKV Anl 1 Nr. 4111; SGG § 99
Verfahrensgang
Tatbestand
Umstritten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) und die Gewährung einer Verletztenrente.
Die Klägerin ist die Witwe des im Jahre 1916 geborenen und am 29.6.2006 verstorbenen Versicherten (im Folgenden V), mit dem sie zum Zeitpunkt seines Todes in häuslicher Gemeinschaft lebte. V war mit Unterbrechungen vom 14.5.1930 bis zum 30.9.1971 im Bergbau unter Tage beschäftigt.
Aufgrund einer am 4.9.1997 eingegangenen Ersatzanspruchsmeldung der damaligen Bundesknappschaft leitete die beklagte Bergbau-Berufsgenossenschaft ein Feststellungsverfahren wegen einer chronischen Bronchitis des V ein. Sie zog Auskünfte des V, ihres Technischen Aufsichtsdienstes (TAD), der 205 Feinstaubjahre für diesen errechnete, sowie ärztliche Unterlagen über V bei. In dem von ihr eingeholten Gutachten vom 18.8.1998 wurde ua eine chronische obstruktive Bronchitis mit Verdacht auf Lungenemphysem bei V diagnostiziert und empfohlen, den Versicherungsfall auf den 1.1.1985 zu datieren. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus Anlass einer BK nach Nr 4111 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung vom 31.10.1997 (BGBl I 2623, im Folgenden: BK 4111 und BKV 1997) ab, weil der Versicherungsfall vor dem Stichtag 31.12.1992 eingetreten sei (Bescheid vom 11.9.1998, Widerspruchsbescheid vom 13.4.1999) .
Das angerufene Sozialgericht (SG) hat die Klage des damals noch lebenden V auf Verurteilung der Beklagten, ihm wegen einer BK 4111 Leistungen zu gewähren, insbesondere eine Verletztenrente, abgewiesen (Urteil vom 16.2.2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, bei V eine chronische obstruktive Bronchitis als BK anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente seit dem 26.3.1996 zu zahlen (Urteil vom 28.6.2007). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Es sei noch das Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden, weil ein Anspruch geltend gemacht werde, der bereits vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) am 1.1.1997 entstanden sei (§ 212 SGB VII, Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 7.8.1996, BGBl I 1254) . Gegenstand des Verfahrens sei die Anerkennung und Entschädigung einer chronischen obstruktiven Bronchitis als BK, sei es als Wie-BK oder als BK 4111. Es sei unerheblich, dass die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung als Wie-BK in dem angefochtenen, ablehnenden Bescheid nicht als solchen ausdrücklich aufgeführt habe, weil sie dies nach der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht mehr für erforderlich gehalten habe (Hinweis auf BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 9; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 14) . Die Auslegung ihrer Bescheide aus Sicht eines verständigen Erklärungsempfängers ergebe, dass die Beklagte es abgelehnt habe, eine chronische obstruktive Bronchitis als BK anzuerkennen und zu entschädigen. Damit habe sie jedenfalls konkludent auch die Anerkennung und Entschädigung einer Wie-BK abgelehnt.
Es bestehe kein Anspruch auf Anerkennung der Erkrankung des V als Listen-BK nach § 551 Abs 1 RVO. Denn die Beklagte könne dem die rechtshindernde Einwendung "Versicherungsfall vor dem Stichtag" aus § 6 Abs 1 BKV 1997 entgegenhalten, weil der Versicherungsfall vor dem 1.1.1993 eingetreten sei. V habe aber einen Anspruch auf Entschädigung seiner chronischen obstruktiven Bronchitis wie eine BK nach § 551 Abs 2 RVO, der durch die Rückwirkungsvorschrift nicht ausgeschlossen sei, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der BKV-Änderung bereits ein Antrag auf Entschädigung als Wie-BK gestellt worden sei und die Voraussetzungen für eine solche Entschädigung gegeben seien (Hinweis auf das Urteil des Senats vom 27.6.2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2) . Zum Zeitpunkt der Einleitung des Feststellungsverfahrens am 4.9.1997 hätten die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Bezeichnung einer chronischen obstruktiven Bronchitis als BK bei Bergleuten vorgelegen und V habe die Voraussetzungen zur Anerkennung dieser BK auch erfüllt, wie sich aus der Ermittlung von 205 Feinstaubjahren durch den TAD der Beklagten sowie den eingeholten medizinischen Gutachten ergebe. Diesen sei auch hinsichtlich der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die Verletztenrente zu folgen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend: Eine Entscheidung über die Erkrankung des V habe nach dem 30.11.1997 nicht ohne Berücksichtigung des § 6 Abs 1 BKV 1997 erfolgen können und das für die Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen notwendige Gutachten habe erst im August 1998 vorgelegen. Nach den Entscheidungen des BSG vom 30.9.1999 (B 8 KN 1/98, B 8 KN 4/98, B 8 KN 5/98 - BSGE 85, 24 = SozR 3-2200 § 551 Nr 13) erfasse die Rückwirkungsklausel für die Entschädigung "neuer" Listen-BKen von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auch den Anspruch auf Entschädigung "wie eine BK" nach § 551 Abs 2 RVO bzw § 9 Abs 2 SGB VII. Dem vom LSG angeführten Urteil des BSG vom 27.6.2006 könne nicht gefolgt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 2007 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16. Februar 2006 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig. Sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Der die revisionsführende, beklagte Bergbau-Berufsgenossenschaft gerichtlich vertretende (§ 36 Abs 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch) Geschäftsführer der Beklagten hat zwar nicht selbst gehandelt, sich aber ordnungsgemäß vertreten lassen, weil die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung von seinem Stellvertreter unterzeichnet wurden und er in der mündlichen Verhandlung durch eine bei der Beklagten beschäftigte und bevollmächtigte Volljuristin vertreten wurde.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur die durch das LSG erfolgte Verurteilung der Beklagten, bei V eine chronische obstruktive Bronchitis als Wie-BK nach § 551 Abs 2 RVO anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente zu gewähren. Der Urteilstenor des LSG lautet zwar unbestimmt "eine chronische obstruktive Bronchitis als Berufskrankheit anzuerkennen", dass aber nur eine Anerkennung als Wie-BK nach § 551 Abs 2 RVO und nicht eine Anerkennung als Listen-BK nach § 551 Abs 1 RVO bzw § 9 Abs 1 SGB VII iVm der Nr 4111 der Anlage zur BKV 1997 gemeint war, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen. Ein unklarer Tenor ist nach gefestigter Rechtsprechung anhand des übrigen Urteils auszulegen (vgl nur BSGE 6, 97; BSG SozR 1500 § 136 Nr 6; BSG vom 8.2.2007 - B 9b SO 5/05 R). In den Entscheidungsgründen seines Urteils wird von dem LSG ein Anspruch auf Anerkennung einer Listen-BK 4111 bei V verneint und die Entscheidung mit dem Vorliegen einer Wie-BK bejaht. Revision hat nur die Beklagte, nicht aber die Klägerin eingelegt, so dass nur die Verurteilung der Beklagten auf Anerkennung einer chronischen obstruktiven Bronchitis als Wie-BK Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, nicht aber die Bestätigung des klageabweisenden Urteils des SG hinsichtlich der im erstinstanzlichen Verfahren begehrten Anerkennung der Erkrankung des V als BK 4111.
Die Revision ist begründet. Denn das LSG durfte über die Anerkennung der chronischen obstruktiven Bronchitis des V als Wie-BK keine Entscheidung in der Sache treffen, weil das darauf gerichtete Berufungsbegehren der Klägerin unzulässig ist (dazu 1.), und mangels Versicherungsfall keine Verletztenrente zusprechen ist (dazu 2.).
1. Die Zulässigkeit der Berufung ist auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachten (stRspr: BSGE 2, 225 ff; BSG SozR 1500 § 150 Nr 18; BSG SozR 4-2400 § 57 Nr 2 RdNr 7; BSG SozR 4-1300 § 84 Nr 1 RdNr 22). Voraussetzung für eine zulässige Berufung bzw ihres zulässigen Umfangs ist ua grundsätzlich eine Beschwer des Berufungsführers durch das erstinstanzliche Urteil für jedes mit der Berufung verfolgte Begehren. Eine (sog formelle) Beschwer des Klägers liegt vor, wenn die erstinstanzliche Entscheidung ihm etwas versagt, das er beantragt hat (stRspr vgl nur BSGE 9, 80, 82 = SozR Nr 17 zu § 55 SGG; BSGE 80, 97 = SozR 3-3870 § 4 Nr 18; Entscheidung des Senats: BSG SozR 1500 § 131 Nr 4) .
Beantragt hat der damals noch lebende V vor dem SG die Verurteilung der Beklagten, ihm wegen einer BK 4111 Leistungen zu gewähren, insbesondere einer Verletztenrente. Insofern wurde die Klage vom SG abgewiesen. Nicht begehrt wurde von V vor dem SG die Anerkennung seiner chronischen obstruktiven Bronchitis als Wie-BK nach § 551 Abs 2 RVO.
Die Entscheidung des Versicherungsträgers oder des Gerichts im Gerichtsverfahren über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer BK kann sich angesichts der völlig verschiedenen Voraussetzungen für die derzeit insgesamt 68 Listen-BKen in der Anlage zur BKV sowie die eventuell zu prüfenden Wie-BKen nach § 9 Abs 2 SGB VII bzw früher § 551 Abs 2 RVO immer nur auf einzelne Listen- oder Wie-BKen beziehen.
Eine Entscheidung über eine Wie-BK hat V vor dem SG nicht beantragt. Das SG hat über die Anerkennung einer solchen bei ihm auch nicht entschieden. Soweit das LSG dann aufgrund des geänderten Antrags der Klägerin als Rechtsnachfolgerin des V, bei diesem eine chronische obstruktive Bronchitis anzuerkennen - ohne Beschränkung auf die BK 4111 und unter Einbeziehung einer entsprechenden Wie-BK, zu entscheiden hatte, hätte es die Berufung hinsichtlich der Anerkennung der Erkrankung des V als Wie-BK mangels Beschwer als unzulässig verwerfen müssen. Denn der Klägerin als Rechtsnachfolgerin des V war insofern nichts, das dieser vor dem SG begehrt hat, durch das SG versagt worden.
Dieser Mangel konnte auch nicht dadurch geheilt werden, dass die Beklagte der Einbeziehung einer Wie-BK in das Berufungsverfahren im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht widersprochen hat und die Klageänderung als solche deshalb gemäß § 99 Abs 1 SGG für zulässig gehalten hat. Denn eine wirksame Klageänderung ersetzt nicht die für die Zulässigkeit der geänderten Klage fehlenden Prozessvoraussetzungen (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, 9. Aufl 2008 § 99 RdNr 13a) oder, wenn sie wie vorliegend im Berufungsverfahren erfolgt, die für die Zulässigkeit der Berufung.
2. Die Revision der Beklagten ist auch hinsichtlich der Gewährung einer Verletztenrente nach §§ 580 f RVO begründet und das Urteil des LSG aufzuheben, weil kein Versicherungsfall vorliegt. Eine Listen-BK 4111 hat das LSG rechtskräftig verneint und hinsichtlich der Anerkennung einer Wie-BK ist sein Urteil aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in der bis zum Inkrafttreten des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) am 2.1.2002 geltenden Fassung, weil die Klage vorher erhoben wurde (BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 24) .
Fundstellen