Beteiligte
…, Klägerin und Revisionsbeklagte |
…, Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
G r ü n d e :
I.
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin verpflichtet ist, zu den Kosten einer stationären Heilbehandlung 10,-- DM täglich zuzuzahlen.
Mit Bescheid vom 10. Oktober 1984 bewilligte die Beklagte der Klägerin die in der Zeit vom 27. März bis zum 8. Mai 1985 durchgeführte stationäre Heilbehandlung. Damals hatte die Klägerin kein eigenes Einkommen. Ihren Unterhalt bestritt ihr Ehemann, der im Laufe des Revisionsverfahrens am 22. August 1987 verstorben ist. Er bezog von der Beklagten Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, die sich 1985 auf 1.536,82 DM monatlich belief. Der Ehemann der Klägerin war als Schwerbehinderter mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 % v H anerkannt. Er war erheblich gehbehindert, auf ständige Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen und ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens bedurfte er jedoch nach den Feststellungen der Versorgungsverwaltung nicht dauernd in erheblichem Umfang fremder Hilfe. Die Klägerin führte den gemeinsamen Haushalt der Eheleute. Während ihrer stationären Heilbehandlung wurde ihr Ehemann von einer Nachbarin unentgeltlich betreut. Mit Bescheid vom 12. Juni 1985 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin, sie von der Zuzahlungspflicht zu befreien ab und forderte von dieser eine Beteiligung an den Aufwendungen der stationären Heilbehandlung in Höhe von 420,-- DM (= 42 x 10,-- DM). Der Widerspruch der Klägerin blieb - abgesehen davon, daß die Beklagte ihr Ratenzahlungen einräumte - erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 1985).
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben. Es hat die Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden (Urteil vom 3. März 1986). Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß bei der Neubescheidung von der Rechtsauffassung des LSG ausgegangen wird (Urteil vom 24. März 1987). Das Berufungsgericht hat ausgeführt, bei Betroffenen ohne eigenes Einkommen könne die Zumutbarkeit der Belastung durch die Zuzahlungspflicht zwar anhand der verfügbaren Einkommen zum Lebensunterhalt geprüft werden; es sei aber nicht zulässig, dabei die Einnahmen des Ehegatten in vollem Umfang zu berücksichtigen. Diese stünden der Klägerin nur in Höhe ihres Unterhaltsanspruchs zur Verfügung, der sich keinesfalls auf mehr als die Hälfte der Versichertenrente ihres Ehemannes belaufe. Außerdem müsse den aus Ehe und Familie sich ergebenden Mehrbelastungen Rechnung getragen werden. Dem werde eine Erhöhung der Zumutbarkeitsgrenze um 15 % gegenüber Alleinstehenden für Versicherte ohne Kinder nicht gerecht. Schließlich habe die Beklagte nicht beachtet, daß der Ehemann der Klägerin schwer krank und behindert gewesen sei.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 1243 Abs 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und die Klage gegen den Bescheid vom 12. Juni 1985 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 1985 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der angefochtene Verwaltungsakt vom 12. Juni 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 1985 ist rechtswidrig.
§ 1243 Abs 1 Satz 1 RVO idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857) verpflichtet die Versicherten, zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung für jeden Kalendertag, an dem der Versicherungsträger eine Heilbehandlung durchführt, 10,-- DM zuzuzahlen. Davon kann der Träger der Rentenversicherung jedoch nach Abs 5 dieser Vorschrift absehen, wenn die Zahlung den Versicherten unzumutbar belasten würde. Wie der erkennende Senat (damals als 5b Senat) bereits in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 29. September 1987 - 5b RJ 52/86 - ausgeführt hat, erfordert § 1243 Abs 5 RVO eine von der Beklagten zu treffende Ermessensentscheidung, die an den unbestimmten Rechtsbegriff der unzumutbaren Härte geknüpft ist. Dabei sind gemäß § 33 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1) die persönlichen Verhältnisse des Verpflichteten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit nicht Rechtsvorschriften entgegenstehen.
Die Mitgliederversammlung der Beklagten hat am 5. Mai 1983 "Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung" beschlossen. Nach deren Nr 5 werden Betreute, die weder Arbeitsentgelt noch Arbeitseinkommen noch vergleichbare Lohnersatzleistungen beziehen, von der Zuzahlung befreit, wenn die verfügbaren Einnahmen zum Lebensunterhalt monatlich 40 vH der Bezugsgröße des § 18 des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften - (SGB 4) nicht übersteigen. Dieser Betrag erhöht sich für den Ehegatten um 15 vH. Die Einnahmen des Ehegatten sind den Einnahmen zum Lebensunterhalt des Betreuten hinzuzurechnen. Der 11a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat am 20. März 1986 (SozR 2200 § 1243 Nr 5) entschieden, Nr 5 der insoweit gleichlautenden Richtlinien der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) halte sich im Rahmen der Bestimmungsermächtigung des § 20 Abs 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG § 1243 Abs 5 RVO), soweit darin vorgeschrieben wird, daß die Einnahmen des Ehegatten den Einnahmen zum Lebensunterhalt des Betreuten, der kein Arbeitseinkommen oder ähnliches bezieht, hinzuzurechnen sind. Keine Bedenken seien auch gegen die für die Befreiung maßgebenden Prozentsätze der monatlichen Bezugsgröße zu erheben, die sich beim Vorhandensein von Angehörigen erhöhten.
Übereinstimmung besteht zwischen dem LSG und dem 11a Senat des BSG insoweit, als bei der Beurteilung der unzumutbaren Härte einer Zuzahlung das Einkommen des Ehegatten zu berücksichtigen ist. Das hält auch der erkennende Senat für zulässig. Das LSG ist jedoch vom Urteil des 11a Senats vom 20. März 1986 (aaO) abgewichen, indem es die Erhöhung des Grenzbetrages der Zumutbarkeit bei Verheirateten um 15 vH nicht hat gelten lassen und die Höhe des Unterhaltsanspruchs gegen den Ehegatten als maßgebend angesehen hat. Im Falle der Klägerin können diese Fragen unentschieden bleiben, weil das Ergebnis, zu dem das angefochtene Urteil gelangt ist, sich schon aus anderen Gründen als zutreffend erweist. Die Beklagte hätte jedenfalls der Tatsache Rechnung tragen müssen, daß der Ehemann der Klägerin erwerbsunfähig und schwerbehindert mit einer MdE um 100 vH war.
Der 11a Senat des BSG (aaO) ist zwar der vom erkennenden Senat geteilten Auffassung, die Nr 5 der Richtlinien sei nicht zu beanstanden und halte sich in dem durch die Bestimmungsermächtigung des § 1243 Abs 5 RVO gesetzten Rahmen. Das gilt aber nur für "Normalfälle", in denen keine Besonderheiten die Berücksichtigung von Mehrbelastungen erfordern. Der Versicherungsträger darf nicht schematisch vorgehen, vielmehr muß er bei der von ihm im Einzelfall zu treffenden Ermessensentscheidung dem Individualisierungsgebot des § 33 SGB 1 Rechnung tragen. Auch der 11a Senat hat bereits ausgeführt, ob eine Zuzahlung den Versicherten unzumutbar belaste und eine Härte für ihn sei, hänge wesentlich von seiner wirtschaftlichen Situation ab. Diese wird mitbestimmt von unvermeidbaren Mehrbelastungen, die sich aus schweren Erkrankungen mit ihren Folgen ergeben. Sie gehören zu seinen "persönlichen Verhältnissen" iS des § 33 SGB 1, erhöhen seinen Bedarf und schränken seine Leistungsfähigkeit ein. Rechtsvorschriften stehen einer Berücksichtigung solcher Mehrbelastungen hier nicht entgegen und befreien die Beklagte nicht von der Verpflichtung, die dadurch bedingten Aufwendungen in die von § 1243 Abs 5 RVO geforderte Zumutbarkeitsprüfung einzubeziehen.
Die Berücksichtigung eines Mehrbedarfs infolge Erwerbsunfähigkeit erfolgt beispielsweise im Sozialhilferecht. Nach § 23 Abs 1 Nr 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ist ein Mehrbedarf von 20 vH des maßgebenden Regelsatzes anzuerkennen für Personen unter 60 Jahren, die erwerbsunfähig im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung sind. Auch das Steuerrecht billigt in § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) einem Körperbehinderten infolge der ihm unmittelbar wegen seiner Behinderung erwachsenden außergewöhnlichen Belastungen einen Pauschbetrag zu, der sich bei einer MdE um 100 vH auf jährlich 2.760,-- DM beläuft. Im Falle der Klägerin ist eine exakte Bestimmung der Mehrbelastung ihres Ehemannes durch dessen Erkrankung in Form eines Prozentsatzes seines Renteneinkommens oder mittels eines pauschalierten Betrages nicht erforderlich. Grundsätzlich gilt, daß jedenfalls bei Erwerbsunfähigen, die zudem zu 100 vH schwerbehindert sind, ein angemessener Betrag für zusätzliche Aufwendungen von den Einkünften abzusetzen ist, ehe der Versicherungsträger nach den am Normalfall orientierten Richtlinien verfährt.
Das LSG hat festgestellt, daß der Ehemann der Klägerin wegen einer Sehschwäche auf dem rechten Auge, eines Verlustes seines linken Auges, einer chronischen Mittelohrentzündung und Schwerhörigkeit auf dem rechten Ohr, einer Taubheit auf dem linken Ohr, einer Herzleistungsschwäche, arterieller Durchblutungsstörungen in den Beinen, einer Teilentfernung des Magens und wegen eines Verschleißes der Wirbelsäule und der Kniegelenke um 100 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert war. Ihm wurden seitens der Versorgungsverwaltung die Merkmale G, B und RF zuerkannt, die ihn berechtigten, Vergünstigungen im Verkehr und bei der Kommunikation mit der Umwelt in Anspruch zu nehmen. Diese schwerwiegenden Erkrankungen mit ihren Folgeerscheinungen lassen es ohne weiteres als angezeigt erscheinen, einen individuellen Mehrbedarf von mehr als 46,82 DM anzunehmen, um die die Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.536,82 DM im Jahre 1985 den nach Nr 5 der Richtlinien von der Beklagten ermittelten Grenzwert von 1.540,-- DM übersteigt. Bei dieser Sachlage haben die Vorinstanzen zutreffend den angefochtenen Verwaltungsakt der Beklagten aufgehoben, weil diese von ihrem Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen