Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Übergangsrecht. Neuberechnung des JAV. Schülerunfall. anzuwendendes Recht: altes Recht oder neues Recht. neu geschaffene gesetzliche Tatbestandsvoraussetzung. Lebensalter. Altersstufe. Zeitpunkt des Vorliegens. In-Kraft-Treten
Leitsatz (amtlich)
Wird bei einem vor In-Kraft-Treten des SGB 7 (1.1.1997) eingetretenen Versicherungsfall der Jahresarbeitsverdienst eines Versicherten nach In-Kraft-Treten des SGB 7 nach Altersstufen neu festgesetzt, ist hierfür noch die Höchstaltersgrenze des § 573 Abs 2 RVO (Vollendung des 25. Lebensjahres) und nicht die des § 90 Abs 2 SGB 7 (Vollendung des 30. Lebensjahres) maßgebend, wenn der Versicherte das 30. Lebensjahr bereits vor In-Kraft-Treten des SGB 7 vollendet hatte.
Normenkette
RVO § 573 Abs. 2; SGB VII §§ 212, 214 Abs. 2 S. 1, § 90 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 22. August 2001 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) anlässlich der Wiederbewilligung einer Verletztenrente.
Der im Jahre 1964 geborene Kläger, von Beruf Krankenpfleger, erlitt als Schüler am 30. November 1977 einen Wegeunfall, bei dem er sich Verletzungen im Bereich des linken Fußes zuzog. Mit Bescheid vom 27. November 1978 bewilligte die Beklagte – damals noch Gemeindeunfallversicherungsverband für das Saarland – Verletztenrente vom 1. Dezember 1977 bis 21. Januar 1978 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH und vom 22. Januar bis 30. April 1978 nach einer MdE von 20 vH. Über den 30. April 1978 hinaus wurde die Gewährung einer Rente abgelehnt, da die MdE nur noch 10 vH betrage und damit kein rentenberechtigendes Ausmaß mehr erreiche. Mit Schreiben vom 12. Dezember 1995 beantragte der Kläger die Wiedergewährung einer Verletztenrente, da bei ihm Beschwerden aufgetreten seien, die auf den Unfall vom 30. November 1977 zurückzuführen seien.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 27. August 1996 und Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 1996 zunächst die Wiedergewährung einer Rente ab, da eine MdE in Höhe von 20 vH nicht vorliege. Im anschließenden Klageverfahren (S 3 U 4/97) erkannte die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung einer Dauerrente nach einer MdE in Höhe von 20 vH ab 12. Dezember 1995 an. Der Kläger nahm das Anerkenntnis an.
In Ausführung des Anerkenntnisses bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 8. Dezember 1997 Dauerrente nach einer MdE von 20 vH ab dem 12. Dezember 1995. Der Berechnung der Rente legte sie gemäß § 573 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Berücksichtigung der Anpassungen einen JAV in Höhe von 40.648,64 DM ab dem 12. Dezember 1995 zugrunde. Da der Kläger zur Zeit des Arbeitsunfalls noch nicht 25 Jahre alt gewesen sei, so werde, wenn es für ihn günstiger sei, der JAV dem Arbeitsentgelt angepasst, das zur Zeit des Arbeitsunfalls von der Vollendung eines bestimmten Lebensalters ab, höchstens aber des 25. Lebensjahres, für Personen mit gleichartiger Tätigkeit durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich sei. Danach ergebe sich folgende Berechnung des JAV für einen 24-jährigen Krankenpfleger zur Zeit des Arbeitsunfalls:
1. |
Gehalt monatlich. |
1.813,04 DM; jährlich = |
21.756,48 DM |
2. |
Weihnachtszuwendung |
1.813,04 DM; jährlich = |
1.813,04 DM |
3. |
Urlaubsgeld |
150,00 DM; jährlich = |
150,00 DM |
4. |
Vermögenswirksame Leistung |
13,00 DM; jährlich = |
156,00 DM |
JAV |
|
|
= 23.875,52 DM |
Durch die Anpassungen belaufe sich der JAV ab 1. Juli 1995 auf 40.648,64 DM.
Der Kläger erhob Widerspruch und machte geltend, der maßgebliche JAV sei nicht nach § 573 Abs 2 RVO, sondern nach § 90 Abs 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) festzusetzen, so dass nicht auf das Arbeitsentgelt eines 24-Jährigen, sondern auf das eines 29-Jährigen abzustellen sei. Dass der JAV nach § 90 Abs 2 SGB VII zu ermitteln sei, ergebe sich aus § 214 Abs 2 SGB VII. Der JAV sei nach In-Kraft-Treten des SGB VII durch den Bescheid vom 8. Dezember 1997 neu festgesetzt worden, so dass er nach § 90 Abs 2 SGB VII zu ermitteln sei. Die Beklagte habe bei der Ermittlung des JAV auch die Bereitschaftsdienste, deren Vergütung tarifvertraglich vorgesehen sei, sowie die Höhergruppierung im Rahmen der Gehaltsstufen aufgrund seiner Tätigkeit als OP-Pfleger nicht berücksichtigt.
Mit Teilabhilfebescheid vom 23. September 1998 gab die Beklagte dem Widerspruch statt, soweit bei der Berechnung des JAV auch die Nacht-, Samstags-, Sonntags- und Feiertagszuschläge zu berücksichtigen seien. Mit einem weiteren Bescheid vom 13. November 1998 wurde dem Kläger die Berechnung des JAV unter Berücksichtigung dieser Zuschläge mitgeteilt. Danach ergab sich ein JAV von 27.123,90 DM, der sich unter Berücksichtigung der Anpassungen ab 1. Juli 1995 auf 46.179,06 DM belief. Der weiter gehende Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 26. November 1998). Dabei wurde auch festgestellt, dass die Berechnung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO für den Kläger ungünstiger ist als die nach § 573 Abs 2 RVO.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage, mit welcher der Kläger geltend gemacht hat, der JAV sei nicht nach § 573 Abs 2 RVO, sondern nach § 90 Abs 2 SGB VII festzusetzen, abgewiesen (Urteil vom 28. Oktober 1999). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 22. August 2001). Zu Recht habe die Beklagte den JAV nach § 573 Abs 2 RVO berechnet. Die Vorschriften des SGB VII hätten wegen § 212 SGB VII grundsätzlich nur für Versicherungsfälle Geltung, die nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII am 1. Januar 1997 eingetreten seien. Gemäß § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII seien die Vorschriften des SGB VII über den JAV auch auf Versicherungsfälle anzuwenden, die vor dem Tag des In-Kraft-Tretens des SGB VII eingetreten seien, wenn der JAV nach dessen In-Kraft-Treten erstmals oder aufgrund des § 90 SGB VII neu festgesetzt werde. Vorliegend gehe es nicht um die erstmalige Festsetzung des JAV, da diese bereits mit dem Rentenbescheid vom 27. November 1978 vorgenommen worden sei. Auch die zweite Alternative des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII sei nicht anwendbar; denn der JAV sei nicht aufgrund des § 90 SGB VII neu festgesetzt worden. Nach dieser Bestimmung sei der JAV – von Amts wegen – bei Erreichen eines bestimmten Berufsjahres oder Vollendung eines bestimmten Lebensalters neu festzusetzen. Da aber nur Erhöhungen des Arbeitsentgelts zu berücksichtigen seien, die – tariflich oder mangels tariflicher Regelung ortsüblich – bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres vorgesehen seien, scheide die Anwendung des § 90 Abs 2 SGB VII von vornherein bei den Versicherten aus, die bei seinem In-Kraft-Treten am 1. Januar 1997 – wie der Kläger – das 30. Lebensjahr bereits vollendet hätten. Zudem sei der JAV vorliegend auch nicht aufgrund des § 90 SGB VII, dh wegen des Erreichens eines bestimmten Berufsjahres oder der Vollendung eines bestimmten Lebensalters, sondern wegen einer wesentlichen Änderung in den Unfallfolgen neu festgesetzt worden, die zur Wiederbewilligung einer Verletztenrente geführt und daher die Neuberechnung des JAV erforderlich gemacht habe. Auch aus diesem Grund sei § 214 Abs 2 SGB VII nicht anwendbar. Es verbleibe daher bei dem Grundsatz des § 212 SGB VII, wonach vorliegend für die Berechnung des JAV die Bestimmungen der RVO maßgebend seien. Entgegen der Darstellung des Klägers habe die Beklagte bei der Berechnung des JAV nach § 573 Abs 2 RVO nicht das tariflich festgesetzte Arbeitsentgelt des Jahres 1976, sondern dasjenige zugrunde gelegt, das zur Zeit des Unfalls am 30. November 1977 gültig gewesen sei. Dies gehe aus ihrer JAV-Berechnung hervor. Diese Berechnung belege auch, dass die Beklagte die Vergleichsberechnung nach § 573 Abs 1 RVO vorgenommen habe. Diese Vergleichsberechnung habe – unter Berücksichtigung der Anpassungen – einen JAV von 37.264,52 DM ergeben. Da diese Berechnung nach § 573 Abs 1 RVO – worauf die Beklagte im Widerspruchsbescheid hingewiesen habe – für den Kläger ungünstiger gewesen sei, habe die Beklagte auch unter diesem Gesichtspunkt zu Recht den JAV nach § 573 Abs 2 RVO festgesetzt.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII. Dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 7. November 2000 (B 2 U 31/99 R – SozR 3-2700 § 90 Nr 1) sei zu entnehmen, dass § 90 SGB VII dann anzuwenden sei, wenn bei Versicherungsfällen, die vor dem In-Kraft-Treten des SGB VII eingetreten seien, um eine (Neu-) Festsetzung des JAV gestritten werde und hierüber noch nicht bindend entschieden worden sei. Im vorliegenden Fall habe die Beklagte in dem Verfahren vor dem SG (S 3 U 4/97) seinen Anspruch auf Gewährung einer Dauerrente nach einer MdE um 20 vH ab dem 12. Dezember 1995 anerkannt. Wiewohl hierbei an einen Versicherungsfall aus dem Jahre 1977 sachlich angeknüpft habe werden müssen, sei der Bewilligungsbescheid im Jahre 1997 ergangen, dh zu einer Zeit, als das SGB VII bereits in Kraft gewesen sei. Da es sich deshalb um ein noch nicht abgeschlossenes Verfahren handele, sei nach der genannten Rechtsprechung des BSG grundsätzlich von einer Anwendung des § 90 SGB VII auszugehen.
Auch lägen die Voraussetzungen des § 214 Abs 1 Satz 1 Fall 1 SGB VII insoweit vor, als es sich um eine erstmalige Festsetzung des JAV handele. Ausschlaggebend für diese Bewertung seien zwei Sachgesichtspunkte. Einmal sei das durch den Versicherungsfall vom 30. November 1977 ausgelöste Verfahren um die Bewilligung einer Verletztenrente durch den Bescheid der Beklagten vom 27. November 1978 sowie durch das Urteil des SG vom 19. Februar 1981 (S 3 U 33/79) rechtskräftig abgeschlossen. Danach habe festgestanden, dass ihm über den 30. April 1978 hinaus keine Rente mehr zugestanden habe, weil die Verletzungen infolge des Unfalles kein rentenberechtigendes Ausmaß mehr erreicht hätten. Zum anderen sei das gegenwärtige Verfahren erst durch seinen Antrag vom 12. Dezember 1995 in Gang gesetzt worden. Der Antrag auf Bewilligung einer Verletztenrente habe zwar an das Unfallereignis vom 30. November 1977 angeknüpft, sei aber mit neueren, bis dato nicht aufgetretenen Beschwerden begründet gewesen. In dem hierdurch ausgelösten sozialrechtlichen Verfahren finde demzufolge wegen der Abgeschlossenheit des früheren Vorganges eine erstmalige Festsetzung des JAV statt.
Von Bedeutung sei in diesem Zusammenhang zudem, dass die Klage gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 4. Dezember 1996 zu einem Zeitpunkt eingereicht worden sei, als das SGB VII bereits in Kraft gesetzt gewesen sei. Das gerichtliche Anerkenntnis der Beklagten habe demzufolge unter Geltung des neuen Rechts stattgefunden. Erst recht gelte dies für den Bewilligungsbescheid vom 8. Dezember 1997. Da dieser Bewilligungsbescheid auf das gerichtliche Anerkenntnis zurückgehe und bis zu diesem Zeitpunkt keine Berechnung des JAV vorgenommen worden sei, liege eine erstmalige Festsetzung des JAV nach § 214 Abs 2 Satz 1 Fall 1 SGB VII vor. Der Rückgriff auf die Vorgänge aus den Jahren 1977 und 1978 sei deshalb verwehrt, weil dort die Bewilligung einer Verletztenrente über den 30. April 1978 hinaus rechtskräftig abgelehnt und erst im Jahre 1995 aufgrund neuer Tatsachen der Antrag auf Gewährung einer solchen Rente gestellt worden sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 22. August 2001 und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 28. Oktober 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die ihm ab 12. Dezember 1995 bewilligte Dauerrente nach einem JAV neu festzusetzen, der nach § 90 Abs 2 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch zu berechnen sei.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Er hat keinen Anspruch auf eine Neufestsetzung seiner Verletztenrente nach einem höheren als dem von der Beklagten berechneten JAV.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist lediglich, ob der Verletztenrente des Klägers ein nach § 573 Abs 2 RVO oder ein nach § 90 Abs 2 SGB VII zu berechnender JAV zugrunde zu legen ist. Hinsichtlich aller übrigen in dieser Sache getroffenen Feststellungen und Entscheidungen ist mangels Einlegung von Rechtsbehelfen der Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 1997 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 23. September 1998 und des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1998 in der Sache bindend geworden (§ 77 SGG). Insbesondere ist damit die in diesem Widerspruchsbescheid von der Beklagten getroffene Feststellung bindend, dass die Berechnung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO ungünstiger ist als die nach § 573 Abs 2 RVO.
Die Beklagte hat den JAV zu Recht nach § 573 Abs 2 RVO berechnet. Danach wird der JAV bei einem Verletzten, der zur Zeit des Arbeitsunfalls noch nicht 25 Jahre alt war, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, dem Arbeitsentgelt angepasst, das zur Zeit des Arbeitsunfalls von der Vollendung eines bestimmten Lebensalters ab, höchstens aber des 25. Lebensjahres, für Personen mit gleichartiger Tätigkeit durch Tarif festgesetzt oder sonst üblich ist. Diese Vorschrift ist, obgleich sie durch Art 35 Nr 1 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes (UVEG) mit Wirkung vom 1. Januar 1997 (Art 36 Satz 1 UVEG) aufgehoben und durch § 90 Abs 2 SGB VII ersetzt worden ist, im vorliegenden Fall noch anzuwenden. Dies folgt aus den Übergangsvorschriften des SGB VII (§§ 212 ff SGB VII).
Bei der Regelung des anzuwendenden Rechts differenziert das SGB VII hinsichtlich der Rechtsanwendung grundsätzlich zwischen Versicherungsfällen vor und nach seinem In-Kraft-Treten. Die Grundentscheidung trifft § 212 SGB VII dahin, dass die §§ 1 bis 211 SGB VII (nur) für Versicherungsfälle gelten, die nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII eingetreten sind, so dass für vor diesem Termin liegende Versicherungsfälle weiterhin die Vorschriften des Dritten Buches der RVO Anwendung finden. Dies gilt nur, soweit in den §§ 213 bis 220 SGB VII nicht etwas anderes bestimmt ist. Eine für den vorliegenden Fall relevante abweichende Regelung trifft § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII, wonach die Vorschriften (des SGB VII) über den JAV auch für Versicherungsfälle gelten, die vor dem Tag des In-Kraft-Tretens des SGB VII eingetreten sind, wenn der JAV nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII erstmals oder aufgrund des § 90 SGB VII neu festgesetzt wird.
Die hier von der Beklagten im angefochtenen Bescheid getroffene Festsetzung des JAV stellt keine erstmalige Festsetzung iS der Vorschrift dar. Im Schrifttum ist allerdings umstritten, ob unter erstmaliger Festsetzung der Zeitpunkt der tatsächlichen Entscheidung über den JAV durch Bescheid (so: Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 214 SGB VII RdNr 11; Wannagat/Hans, Sozialgesetzbuch, § 214 SGB VII RdNr 11; Lauterbach/Dahm, Unfallversicherung, § 214 SGB VII RdNr 6; Brackmann/Krasney, SGB VII, § 214 RdNr 6) oder der Zeitpunkt maßgebend ist, an dem der JAV festzusetzen ist, der Träger der Unfallversicherung ihn also hätte festsetzen können (so: Graeff in Hauck/Noftz, K § 214 SGB VII RdNr 5; Kater/Leube, SGB VII, § 214 RdNr 6; KassKomm-Ricke, Sozialversicherungsrecht, § 214 SGB VII RdNr 5). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, welcher dieser beiden Meinungen die richtige Auslegung des § 214 Abs 2 Satz 1 Fall 1 SGB VII darstellt. Denn wenn – wie hier mit bindend gewordenem Bescheid vom 27. November 1978 – ein JAV vor In-Kraft-Treten des SGB VII aufgrund der durch einen bestimmten Arbeitsunfall (Schülerunfall) verursachten MdE festgesetzt worden ist, kann es sich nach beiden Rechtsauffassungen bei einer nach In-Kraft-Treten des SGB VII vorgenommenen neuen Festsetzung des JAV, der ebenfalls auf der durch den selben Arbeitsunfall verursachten MdE beruht, auch dann nicht um eine erstmalige Festsetzung iS des § 214 Abs 2 Satz 1 Fall 1 SGB VII handeln, wenn der Bescheid über die ursprüngliche Festsetzung des JAV bindend geworden und zwischenzeitlich eine Verschlimmerung der Verletzungsfolgen eingetreten ist.
Die Vorschriften des SGB VII über den JAV sind auch nicht nach § 214 Abs 2 Satz 1 Fall 2 SGB VII im vorliegenden Fall anzuwenden. Die darin geregelte Voraussetzung, dass der JAV aufgrund des § 90 SGB VII neu festgesetzt wird, ist nicht erfüllt. Soweit der hier nicht in Betracht kommende § 90 Abs 1 SGB VII (Neufestsetzung des JAV nach voraussichtlicher Schul- oder Berufsausbildung) betroffen ist, ergeben sich keine das materielle Recht inhaltlich beeinflussenden Auslegungsprobleme bei § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII, weil die genannte JAV-Regelung der alten inhaltlich im Wesentlichen entspricht (vgl BSG SozR 3-2700 § 90 Nr 1). Anders ist es bei § 90 Abs 2 SGB VII. Haben – nach Satz 1 dieser Vorschrift – die Versicherten zur Zeit des Versicherungsfalls das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet, wird, wenn es für sie günstiger ist, der JAV jeweils nach dem Arbeitsentgelt neu festgesetzt, das zur Zeit des Versicherungsfalls für Personen mit gleichartiger Tätigkeit bei Erreichung eines bestimmten Berufsjahres oder bei Vollendung eines bestimmten Lebensjahres durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht keine tarifliche Regelung, ist das Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort des Versicherten gilt. Nach Satz 2 der Vorschrift werden nur Erhöhungen berücksichtigt, die bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres vorgesehen sind. Die Vorschrift unterscheidet sich demnach von § 573 Abs 2 RVO durch die Heraufsetzung des Lebensalters im Zeitpunkt des Versicherungsfalls von 25 auf 30 Jahre, durch die Einbeziehung der Berufsjahre und – was im vorliegenden Fall von Bedeutung ist – durch die Heraufsetzung der Grenze, nach der tarifliche oder ortsübliche Erhöhungen des Arbeitsentgelts berücksichtigt werden dürfen, von der Vollendung des 25. auf die des 30. Lebensjahres.
Die wörtliche Auslegung des § 214 Abs 2 Satz 1 Fall 2 SGB VII führt letztlich zu einem Zirkelschluss und damit zu keinem brauchbaren Ergebnis. Denn ihr kann nur entnommen werden, dass § 90 Abs 2 SGB VII, der eine Vorschrift des SGB VII über den JAV darstellt, für vor dessen In-Kraft-Treten eingetretene Versicherungsfälle dann gilt, wenn der JAV aufgrund eben dieser Vorschrift neu festgesetzt wird. Wann bei „Altfällen” aufgrund des § 90 Abs 2 SGB VII der JAV in rechtlich zutreffender Weise neu festgesetzt wird, ist aber gerade die – vom Wortlaut des § 214 Abs 2 Satz 1 Fall 2 SGB VII nicht beantwortete – Frage.
Dass die Vorschrift des § 90 Abs 2 SGB VII nicht uneingeschränkt ab ihrem In-Kraft-Treten am 1. Januar 1997 auf alle „Altfälle” anzuwenden ist, folgt bereits aus den Gesetzesmaterialien zu § 214 SGB VII. So sollen nach der Begründung zu Art 1 § 218 Abs 2 Satz 1 des Regierungsentwurfs eines UVEG (vgl BT-Drucks 13/2204 S 121) „die Neuregelungen über den JAV für alte Versicherungsfälle nur dann gelten, wenn der JAV beim In-Kraft-Treten der Vorschriften noch nicht festgesetzt war oder ausnahmsweise eine Neufestsetzung erforderlich ist. Damit wird eine Überprüfung aller Bestandsrenten vermieden”. Im Schrifttum wird hierzu überwiegend der Standpunkt vertreten, dass § 90 SGB VII bei „Altfällen” nur angewendet werden darf, wenn der JAV neu festgesetzt werden muss, weil die Voraussetzungen für die Neufestsetzung erst nach dem 31. Dezember 1996 eintreten (so: Kater/Leube, aaO, § 214 RdNr 6; KassKomm-Ricke, aaO, § 214 SGB VII RdNr 5; Mehrtens, aaO, § 214 SGB VII RdNr 12.3; Graeff, aaO, K § 214 SGB VII RdNr 5). Hiermit im Ergebnis zum Teil übereinstimmend wird die Meinung vertreten, dass dann, wenn der Unfallversicherungsträger den JAV bereits vor dem 1. Januar 1997 festgesetzt hat, keine neue Festsetzung allein deswegen vorgenommen werden darf, weil das UVEG in Kraft getreten ist (Lauterbach/Dahm, aaO, § 214 SGB VII RdNr 6; Brackmann/Krasney, aaO, § 214 SGB VII RdNr 6; Schmitt, SGB VII, § 214 RdNr 8).
Der Senat hält eine Anwendung des § 90 Abs 2 SGB VII auf „Altfälle” jedenfalls dann für ausgeschlossen, wenn Voraussetzung für die Erhöhung des JAV eine gesetzliche Voraussetzung ist, die vor dem In-Kraft-Treten des SGB VII noch nicht bestanden hat. Dies folgt daraus, dass die Übergangsvorschriften der §§ 212 ff SGB VII eine materiell-rechtliche Rückwirkung der Vorschriften des SGB VII für Zeiten vor seinem In-Kraft-Treten nicht vorsehen.
Nach der in diesem Zusammenhang ergangenen Rechtsprechung des Senats ist es einmal Sinn der teilweisen Einbeziehung der „Altfälle” in die Anwendung des neuen Rechts, die Versicherten, deren Versicherungsfälle in den Zeitraum der Geltung des neuen Rechts hineinwirken, an dessen Leistungsverbesserungen usw teilnehmen zu lassen; zum anderen soll vermieden werden, dass die Versicherungsträger über lange Zeiträume hinweg unterschiedliches Recht je nach dem Zeitpunkt des Versicherungsfalls anzuwenden haben (vgl BSGE 23, 139, 141 = SozR Nr 1 zu § 555 RVO zur vergleichbaren Regelung in Art 4 § 2 Abs 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes; Schmitt, aaO, § 214 RdNr 3). Die Anwendung des neuen Rechts auf vor seinem In-Kraft-Treten liegende Leistungszeiträume wäre hierfür weder erforderlich noch angezeigt. Da § 214 Abs 1 Satz 1 SGB VII eine ergänzende Regelung zu § 212 SGB VII – und nicht dessen partielle Ersetzung – anordnet, muss die Geltung der dort genannten Vorschriften für „Altfälle”, die in das neue Recht „hineinwirken”, auch hinsichtlich des damit zu regelnden Leistungszeitraums auf die Zeit ab dem In-Kraft-Treten des SGB VII beschränkt werden. Aus den Gesetzesmaterialien zum SGB VII ergibt sich nichts anderes. Die Vorschrift des § 212 SGB VII soll nach der Begründung zum Regierungsentwurf des UVEG klarstellen, dass das neue Recht grundsätzlich nur für neue Versicherungsfälle gilt, die Umstellung auf das neue Recht soll dadurch erleichtert werden (vgl BT-Drucks 13/2204 S 121 zu § 217 = § 212 SGB VII), während § 214 Ausnahmen von § 212 regeln soll, bei denen das neue Recht auch auf frühere Versicherungsfälle anzuwenden ist (vgl BT-Drucks 13/2204 S 121 zu § 219 = § 214 SGB VII). Eine Rückwirkung des im SGB VII enthaltenen materiellen Rechts ist auch deshalb nicht zu rechtfertigen, weil Art 36 UVEG das In-Kraft-Treten ua der Vorschriften über den JAV erst zum 1. Januar 1997 vorsieht und die Übergangsvorschriften der §§ 212 ff SGB VII Ausnahmen hiervon nur insoweit zulassen, als sie die Anwendung des neuen Rechts einschränken. Dagegen kann diesen Vorschriften nicht entnommen werden, dass das neue Recht in bestimmten Fällen bereits vor dem 1. Januar 1997 in Kraft träte.
Diese allgemeinen Erwägungen, die der Senat in seinem Urteil vom 26. Juni 2001 (SozR 3-2700 § 44 Nr 1) zu § 214 Abs 1 SGB VII und in seinem Urteil vom 5. März 2002 (B 2 U 4/01 R) zu § 214 Abs 3 SGB VII für maßgeblich angesehen hat, führen jedenfalls auch im Falle des § 214 Abs 1 Satz 1 Fall 2 SGB VII zum Ausschluss der Anwendung des § 90 Abs 2 SGB VII in den „Altfällen”, bei denen die Sachverhalte neuer, durch die Vorschrift erst geschaffener Voraussetzungen für eine Erhöhung des JAV bereits vor dem 1. Januar 1997 eingetreten waren. Solches ist hier der Fall; denn der Kläger hat das 30. Lebensjahr bereits im Jahre 1994 vollendet.
Dieses Ergebnis steht auch nicht im Widerspruch zum Urteil des Senats vom 7. November 2000 (SozR 3-2700 § 90 Nr 1), weil es in dem jener Entscheidung zugrunde liegenden Fall um die Anwendbarkeit des § 90 Abs 1 SGB VII ging und das anzuwendende neue Recht sich inhaltlich nicht vom alten Recht unterschied.
Die Revision des Klägers war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 770920 |
SozR 3-2700 § 214, Nr. 2 |