Beteiligte
…Klägerin und Revisionsbeklagte |
…Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die beklagte Ersatzkasse verpflichtet ist, der Klägerin die Kosten einer sogenannten geschlechtsumwandelnden Operation zu bezahlen.
Die Klägerin, die bei der Beklagten pflichtversichert ist, hat sich im Februar/März 1982 als bisheriger "Mann" einer Operation unterzogen, durch die ihre äußeren männlichen Geschlechtsmerkmale beseitigt und eine Angleichung an die weiblichen vorgenommen wurde. Die Beklagte hat den Antrag auf Übernahme der Kosten - 6.820,-- DM - abgelehnt (Bescheide vom 6. April und 30. Juni 1982; Widerspruchsbescheid vom 9. August 1982). Zur Begründung hat sie ausgeführt, daß vor der Operation kein regelwidriger Körperzustand vorgelegen habe, der geheilt, gelindert oder vor einer Verschlimmerung hätte bewahrt werden müssen. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt: Der offensichtlich vorherrschenden Meinung, daß Transsexualität generell als Krankheit anzusehen sei, könne sich das Gericht nicht anschließen. Unter Berücksichtigung und Würdigung der unterschiedlichen Beurteilung der auch in der Literatur umstrittenen Frage des generellen Krankheitswerts der Transsexualität sei das Gericht der Auffassung, daß in jedem Einzelfall zu prüfen sei, ob aufgrund der besonderen Umstände des Falles durch die Transsexualität ein so starker Leidensdruck hervorgerufen werde, daß sie Krankheitscharakter habe und zur Linderung ärztlicher Maßnahmen bedürfe. Das sei im vorliegenden Fall zu bejahen. Bei der Klägerin habe eine erhebliche Suizidgefahr bestanden. Die Operation sei das einzige Mittel gewesen, um eine Linderung herbeizuführen; alle psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen seien erfolglos geblieben.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Hierzu wird vorgetragen: Das Berufungsgericht habe die Vorschriften der §§ 184, 182 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verletzt. Bei der geschlechtsumwandelnden Operation handele es sich nicht um eine medizinisch anerkannte Methode; sie könne daher auch nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse durchgeführt werden.
Die Beklagte beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. April 1986 sowie das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. Juni 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Berufungsurteil ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf die streitige Leistung dann, wenn ihr damaliger psychophysischer Zustand rechtlich als behandlungsbedürftige Krankheit iS der §§ 182 Abs 2, 184 Abs 1 RVO zu gelten hat. Das LSG hat den Rechtsbegriff der Krankheit nicht verkannt. Es brauchte insoweit nur zu prüfen; ob bei dem als Transsexualität zu beschreibenden Zustand der Klägerin die innere Spannung zwischen ihrem körperlich männlichen Geschlecht und ihrer seelischen Identifizierung mit dem anderen Geschlecht eine derartige Ausprägung erfahren hat, daß eine Krankheit im Sinne der genannten Vorschriften anzunehmen war. Das hat das LSG ohne Rechtsverstoß bejaht. Es ist dabei von einem Krankheitsbegriff ausgegangen, bei dem nicht nur auf das Bestehen eines regelwidrigen, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichenden Körper- oder Geisteszustand abgestellt wird, nämlich darauf, ob der Versicherte zur Ausübung der normalen psychophysischen Funktionen in der Lage ist oder nicht (BSGE 35, 10, 12; 39, 117, 168; jeweils mwN), sondern darüber hinaus ein Leidensdruck gefordert wird, durch den sich die Regelwidrigkeit erst zur eigentlichen Krankheit im Sinne der genannten Gesetzesbestimmungen qualifiziert. Das ist hier rechtlich deswegen zu fordern, weil es, wie das LSG unangegriffen festgestellt hat, Erscheinungsformen der Transsexualität gibt, die, was die Gebrochenheit des geschlechtsspezifischen Identitätsbewußtseins anlangt, zwar als Anomalie - in dem aufgezeigten Sinne - zu gelten haben, aber doch nach natürlicher Betrachtungsweise niemals als Krankheit angesehen werden können. Unter diesen Voraussetzungen hat das LSG, indem es nicht jeder Art der Transsexualität einen Krankheitswert beimaß, mit Recht gefolgert, daß es auf den Einzelfall ankomme, ob dies zutrifft.
Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin (aufgrund der obengenannten transsexuellen Spannungen) unter einem schweren Leidensdruck und vor der Operation unter extrem hoher Selbstmordgefahr gestanden habe. Diese aufgrund freier Beweiswürdigung - und ohne Verstoß gegen die dabei zu stellenden Beweisanforderungen - erfolgte Tatsachenfeststellung hat die Beklagte nicht gerügt; sie ist für das Revisionsgericht bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Indem das Berufungsgericht diese konkrete Situation der Klägerin unter den Krankheitsbegriff subsumierte, hat es diesen (Rechts-)Begriff nicht verkannt. Die Beklagte hat dies auch gar nicht gerügt. Ihr Revisionsvorbringen richtet sich - genau betrachtet - nicht dagegen, daß das LSG den geschilderten Zustand der Klägerin als Krankheit iS der §§ 182, 184 RVO, sondern nur dagegen, daß es die vorgenommene Operation als gesetzliche Leistung angesehen hat. Aber auch insoweit ist kein Rechtsverstoß ersichtlich.
Der Krankenpflegeanspruch setzt ua voraus, daß die Krankheit einer Behandlung im Sinne der Diagnoseerstellung bzw der Heilung, Linderung oder der Verhütung einer Verschlimmerung zugänglich ist (= Behandlungsbedürftigkeit; vgl BSGE 59, 116, 117). Das LSG hat insoweit festgestellt, daß bei der Klägerin eine Indikation zur geschlechtsangleichenden Operation als einzigem Mittel, um eine Linderung herbeizuführen, vorgelegen habe, nachdem alle psychiatrischen und psychotherapeutischen Mittel erfolglos gewesen seien. Diese Feststellungen hat die Beklagte nicht durch Verfahrensrügen angegriffen, so daß auch sie für das Revisionsgericht bindend sind. Aber auch ein materiell-rechtlicher Fehler - durch die Bejahung der Behandlungsbedürftigkeit im Sinne der hier streitigen Operation - liegt nicht vor. Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß eine Linderung des krankhaften Leidensdruckes durch die streitige Operation als anspruchsbegründender Umstand in dem Sinne ausreicht, als diese Operation nicht eine Heilung erwarten zu lassen brauchte. Es hat sich dann in freier, vom Revisionsgericht grundsätzlich nicht überprüfbarer Beweiswürdigung davon überzeugen lassen, daß eine solche Linderung durch die streitige Behandlung wahrscheinlich sei. Zwar hätte es möglicherweise den im Begriff der Behandlungsbedürftigkeit mit eingeschlossenen Begriff der Zweckmäßigkeit der Behandlung verkannt, wenn es bei der hier vorliegenden Krankheit nicht eine gewisse Vorrangigkeit psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung mit erwogen hätte. Dies hat es aber mit seiner Feststellung, daß solche Behandlungen alle erfolglos gewesen seien, ausdrücklich getan; auch insoweit hat die Beklagte keine Rüge erhoben. Wenn das LSG sich aber dann hat davon überzeugen lassen, daß eine Linderung trotz jener Vorrangigkeit auch durch eine geschlechtsanpassende - also physische - Operation möglich und retrospektiv gesehen tatsächlich erfolgt sei, so unterlag auch diese Feststellung seiner freien, von der Beklagten verfahrensrechtlich nicht gerügten Beweiswürdigung. Die Meinung der Beklagten, eine solche Operation gehöre aus rechtlichen Gründen nicht zu den von ihr zu erbringenden Leistungen, trifft nicht zu. Sie findet im Gesetz keine Stütze. Daß diese Behandlung medizinisch umstritten ist, womit sich das LSG gerade auseinanderzusetzen hatte, schließt sie nicht als Leistung aus. Ist, wie hier, der Nachweis der Zweckmäßigkeit einer ärztlichen Behandlung im Einzelfall erbracht, dann ist diese Leistung selbst dann zu erbringen, wenn ihre Zweckmäßigkeit nicht allgemein anerkannt ist (vgl BSGE 52, 70, 74).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.Bundessozialgericht
3 RK 15/86
Verkündet am
6. August 1987
Fundstellen