Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz während der Geschäftsreise beim Weg zur Nahrungsaufnahme
Orientierungssatz
Der Weg zur Nahrungsaufnahme bei einer Dienst- oder Geschäftsreise (hier: Inhaberin eines Reisebüros bei einer Kreuzfahrt) gehört zu den Verrichtungen, die im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, die den Versicherten an den fremden Ort geführt hat (vgl BSG vom 1977-06-23 2 RU 15/77 = SozR 2200 § 548 Nr 33). Auf diesem Weg besteht daher Versicherungsschutz nach RVO § 548 Abs 1 S 1.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.11.1976; Aktenzeichen L 5 U 11/76) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 14.11.1975; Aktenzeichen S 17 U 109/75) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. November 1976 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin ist als Inhaberin eines Reisebüros selbständig tätig und der Unfallversicherung freiwillig beigetreten. Am 2. Oktober 1974 erlitt sie an Bord des Schiffes "..." der Reederei ... auf der Fahrt zwischen ... und ... einen Unfall. Auf dem Weg von ihrer Kabine zum Speisesaal, wo sie das Abendessen einnehmen und anschließend an einer Besichtigung der Küche des Schiffes teilnehmen wollte, stürzte sie eine Treppe hinunter und brach sich dadurch ua den rechten Unterschenkel. Der Reise lag eine schriftliche Einladung der Reederei ... vom Juni 1974 zugrunde. Darin ist ua ausgeführt: "Wir waren in der Saison 1974 erfolgreich und möchten Sie daran teilhaben lassen, indem wir, wie in jedem Jahr, eine Studienfahrt für Expedienten, die uns so tatkräftig unterstützten, durchführen. Hierzu haben wir die "..." am ... 29. September 1974 ausgesucht. Es wäre uns sehr daran gelegen, daß diese Kreuzfahrt den Sachbearbeitern für Kreuzfahrten in Ihrem Büro, Frau und Herrn ..., zugute kommt, damit diese Gelegenheit haben, unsere Schiffe und Dienstleistungen an Bord kennenzulernen, denn nur so kann der Verkauf in der Zukunft noch mehr gefördert werden ...". Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 11. April 1975 den Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil es sich bei der Kreuzfahrt für die Klägerin nicht um eine unter Versicherungsschutz stehende Dienstreise gehandelt habe. Aber selbst wenn unterstellt werde, daß es eine Dienstreise gewesen sei, habe zur Zeit des Unfalls kein Versicherungsschutz bestanden. Der Weg von der Kabine zur Einnahme des Abendessens habe privaten eigenwirtschaftlichen Interessen gedient. Von der Treppe, auf der sich der Unfall ereignet habe, sei auch keine besondere Gefahr ausgegangen. Die Klägerin habe sich zur Unfallzeit bereits vier Tage an Bord des Schiffes befunden und sei daher mit den Eigenschaften des Schiffes vertraut gewesen.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Klage auf Entschädigungsleistungen abgewiesen (Urteil vom 14. November 1975). Seiner Ansicht nach hat es sich bei der Reise der Klägerin um eine gemischte Tätigkeit gehandelt, bei der der Urlaubs-, Erholungs- und Erlebnischarakter den Informationswert für die Kundenberatung bei weitem überragt habe. Daher seien die Reise und der Unfall am 2. Oktober 1974 dem privaten nichtversicherten Lebensbereich zuzurechnen. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen (Urteil vom 30. November 1976). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Zwar deuteten entgegen der Ansicht des SG eine Vielzahl von Umständen darauf hin, daß es sich bei der Reise der Klägerin um eine nach § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz stehende Betriebsreise gehandelt hat. Jedoch könne dies dahingestellt bleiben, weil auch auf Betriebsreisen der Versicherungsschutz entfalle, wenn sich der Versicherte persönlichen, von der Betriebstätigkeit nicht mehr beeinflußten Belangen widme. Die Einnahme von Mahlzeiten sei eine grundsätzlich dem privaten Lebensbereich zuzurechnende eigenwirtschaftliche und damit unversicherte Tätigkeit. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 22. Juni 1976 - 8 RU 146/75 - entschieden habe, sei auch eine mit der Essenseinnahme zusammenhängende Nebenverrichtung, wie der Weg von und zum Essen in der Betriebskantine grundsätzlich unversichert, es sei denn, daß ausnahmsweise eine objektiv gefährliche Betriebseinrichtung den Unfall wesentlich mitverursacht habe. Dieser Auffassung, die im Gegensatz zu Ausführungen stehe, die das BSG in früheren Entscheidungen gemacht habe (Urteil vom 25. Februar 1965 - 2 RU 210/61 -), sei zuzustimmen. Der Weg, den die Klägerin im Unfallzeitpunkt zurücklegte, habe zunächst wesentlich der Einnahme des Abendessens gedient. Erst im Anschluß daran habe die Küche besichtigt werden sollen. Im Hinblick auf die voraussichtliche Dauer des Abendessens von zwei Stunden und der Küchenbesichtigung von etwa einer halben Stunde hätte Versicherungsschutz erst wieder auf dem Weg zur Küchenbesichtigung bestanden. Eine Betriebseinrichtung habe den Unfall nicht wesentlich mitverursacht. Die Treppe, auf der die Klägerin gestürzt sei, habe sich weder durch eine besondere Steile noch Enge ausgezeichnet; es sei auch keine schadhafte Stelle vorhanden gewesen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Nach der früheren ständigen Rechtsprechung des BSG (zB Urteil vom 25. Februar 1965 - 2 RU 210/61) sei ihr Unfall entschädigungspflichtig. Das LSG sei von dieser Rechtsprechung lediglich mit Rücksicht auf das Urteil des 8. Senats vom 22. Juni 1976 - 8 RU 146/75 - abgewichen. Anders als in dem vom 8. Senat entschiedenen Fall habe sie sich jedoch nicht außerhalb ihres versicherten Tätigkeitsbereiches befunden. Denn der Weg zum Speisesaal sei mit dem Weg zur später zu besichtigenden Küche identisch gewesen. Das LSG habe die Entscheidung über den Versicherungsschutz auf diesem Weg zu Unrecht von einem Vergleich der zeitlichen Dauer des Essens einerseits und der Küchenbesichtigung andererseits abhängig gemacht. Überdies sei die Schiffstreppe, auf der sich der Unfall ereignet habe, als eine gefahrenträchtige Einrichtung im Sinne der Entscheidung des BSG vom 22. Juni 1976 anzusehen. Das Schiff sei im Jahre 1939 auf einer amerikanischen Werft gebaut worden und die Treppe habe nicht den deutschen Normen (DIN) entsprochen. Sie sei enger und steiler gewesen als Treppen in Gebäuden.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Bescheides vom 11. April 1975 die Beklagte zu verurteilen, den Unfall vom 2. Oktober 1974 als Arbeitsunfall anzuerkennen und nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, daß selbst auf einer Betriebsreise die Essenseinnahme grundsätzlich eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit sei und nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterliege. Dementsprechend bestehe auch auf dem Weg zu einer solchen Essenseinnahme kein Versicherungsschutz. Das LSG habe zutreffend in der Treppe auch keine den Unfall mitverursachende objektiv gefährliche Betriebseinrichtung gesehen. Ihm sei ebenfalls darin zuzustimmen, daß im Hinblick auf die Dauer des Abendessens die Besichtigung der Küche derart im Hintergrund gestanden habe, daß dadurch eine den Versicherungsschutz auf dem Weg in den Speisesaal begründende betriebliche Beziehung nicht hergestellt worden sei.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das LSG ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, daß Versicherte nach § 548 RVO auch auf Wegen und Reisen außerhalb der Betriebsstätte, die zur Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden und demnach im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung genießen (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl S. 481 p). Es hat dann jedoch unentschieden gelassen, ob die Teilnahme der Klägerin an der Kreuzfahrt mit dem Schiff "...", in deren Verlauf sich der Unfall auf der zum Speisesaal führenden Treppe ereignete, eine mit ihrer Tätigkeit als Unternehmerin eines Reisebüros zusammenhängende Geschäftsreise gewesen ist. Denn nach seiner Auffassung ist der von der Klägerin geltend gemachte Entschädigungsanspruch schon deshalb unbegründet, weil selbst dann, wenn die Klägerin sich auf einer Geschäftsreise befunden hätte, der Unfall auf der Treppe zum Speisesaal kein Arbeitsunfall gewesen sein würde. Dieser Auffassung stimmt der erkennende Senat nicht zu.
Das BSG hat bereits wiederholt entschieden, daß der Weg zur Nahrungsaufnahme bei einer Dienst- oder Geschäftsreise zu den Verrichtungen gehört, die im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, die den Versicherten an den fremden Ort geführt hat (vgl BSGE 8, 48, 52; SozR Nr 17 und 57 zu § 542 RVO aF; Urteil vom 23. Juni 1977 - 2 RU 15/77 -; Brackmann aaO S. 481 t, 481 w, 482). Auf diesem Weg besteht daher Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO. Dies entspricht außerhalb einer Dienst- oder Geschäftsreise dem Versicherungsschutz gemäß § 550 Abs 1 RVO auf Wegen zur Nahrungsaufnahme vom Ort der Tätigkeit und zurück (vgl BSGE 14, 197, 199; Brackmann aaO S. 486 h I). An dieser Rechtsprechung hat sich nichts geändert. Das ist entgegen der Auffassung des LSG auch nicht dem von ihm angeführten Urteil des 8. Senats des BSG vom 22. Juni 1976 - 8 RU 146/75 - (SozR 2200 § 548 Nr 20) zu entnehmen. Dieses Urteil befaßt sich nicht mit dem Versicherungsschutz auf Wegen zum und vom Essen in einer Betriebskantine, der mit dem Durchschreiten der Außentür des Gebäudes, in dem das Essen eingenommen werden soll, endet oder wieder beginnt (vgl BSG Urteil vom 26. April 1973 - 2 RU 213/71 - unveröffentlicht). Es ist vielmehr über den Versicherungsschutz eines Beschäftigten bei einem Unfall innerhalb der Kantine - auf dem Weg zum Essensplatz zur Außentür der Kantine - entschieden worden. Grundsätzlich erstreckt sich der Versicherungsschutz nicht auf Unfälle beim Aufenthalt an der zur Einnahme des Essens aufgesuchten Stelle, sei diese die eigene Wohnung, eine Gaststätte oder eine Kantine (BSG Urteil vom 26. April 1973 aaO). Für den Ausnahmefall jedoch daß der Unfall bei dem Verlassen einer Kantine durch eine objektiv gefährliche Betriebseinrichtung wesentlich mitverursacht worden ist, hat der 8. Senat des BSG den Versicherungsschutz bejaht. Sein Urteil vom 22. Juni 1976 (aaO) steht damit nicht im Gegensatz zur ständigen Rechtsprechung des BSG, auch nicht zu der vom LSG angeführten Entscheidung vom 25. Februar 1965 - 2 RU 210/61 - (SozE IV § 543 Nr 98). Im vorliegenden Fall kommt es daher weder darauf an, ob die Treppe, auf der sich der Unfall ereignet hat, als eine objektiv gefährliche Betriebseinrichtung anzusehen ist, noch darauf, ob der Weg zum Speisesaal zugleich auch der im Anschluß an das Abendessen vorgesehenen Besichtigung der Schiffsküche diente.
Sofern die Teilnehme der Klägerin an der Kreuzfahrt eine mit ihrer Tätigkeit als Unternehmerin eines Reisebüros zusammenhängende Geschäftsreise gewesen ist, hätte sie auch auf dem Weg von ihrer Kabine zum Speisesaal, um dort das Abendessen einzunehmen, unter Versicherungsschutz gestanden. Der auf der Treppe erlittene Unfall wäre dann ein von der Beklagten zu entschädigender Arbeitsunfall gewesen. Dies gilt auch für den Fall, daß die Teilnahme der Klägerin an der Kreuzfahrt unter dem Gesichtspunkt einer "gemischten Tätigkeit" (vgl Brackmann aaO S. 480 t, 481 q) sowohl privaten als auch wesentlich betrieblichen Interessen gedient hat.
Da das LSG - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, die für eine Beurteilung des Charakters der Reise der Klägerin als Geschäftsreise erforderlich sind und diese Feststellungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen