Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Vorrang zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Personen mit Wohnsitz in Polen und Beschäftigungszeiten in einem Ghetto haben keinen Anspruch auf Rente aus der deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG, solange sie über den 31.12.1990 hinaus in Polen ansässig bleiben; dies widerspricht weder dem Grundgesetz noch Unionsrecht oder der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Orientierungssatz
1. Die Rechtslage, wie sie sich aus dem zwischen Deutschland und Polen vereinbarten zwischenstaatlichen Recht ergibt, steht in Einklang mit den Bestimmungen des europäischen Rechts. Das gilt sowohl in Bezug auf das derzeit geltende Sekundärrecht, das in Übereinstimmung mit den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union (Primärrecht) steht, als auch im Hinblick auf die jeweiligen Vorgängerregelungen.
2. Der Ausschluss einer Person, die bereits vor dem 1.1.1991 ihren Wohnsitz in Polen hatte und weiterhin dort ansässig ist, vom Export einer auf Ghetto-Beitragszeiten beruhenden Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und die Beschränkung auf Leistungen des polnischen Versicherungsträgers, solange sie ihren Wohnsitz in Polen beibehält, verstößt nicht gegen Verfassungsrecht.
Normenkette
SGB 6 § 35; SGB 6 § 110; SGB 6 §§ 110ff; SGB 1 §§ 30, 37, 2 Abs. 2 Hs. 2; ZRBG §§ 1-2; RV/UVAbk POL Art. 2, 4, 15-16; SozSichAbk POL Art. 27; EGV 883/2004 Art. 3, 7, 8 Abs. 1, Art. 87 Abs. 1; EGV 883/2004 Anh 2; AEUV Art. 20-21; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14, 20; MRK Art. 14; EUGrdRCh Art. 45, 52; BEG § 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).
Die am 1931 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Polen. Nach den Feststellungen des LSG hielt sie sich in der Zeit von 1940 bis 1943 im Warschauer Ghetto auf und ist Verfolgte des Nationalsozialismus. Ihren am 27.6.2003 gestellten Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1.9.2003 unter Hinweis auf die alleinige Zuständigkeit des polnischen Rentenversicherungsträgers nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 (Abk Polen RV/UV) ab. Eine Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten sei aber auch aufgrund der Regelung in § 1 Abs 1 S 1 letzter Halbs ZRBG ausgeschlossen, weil die betreffenden Zeiten bereits nach polnischem Recht als Versicherungszeiten anerkannt würden.
Widerspruch, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Widerspruchsbescheid vom 16.1.2004, Gerichtsbescheid des SG Berlin vom 13.12.2007, Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20.1.2011). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten allein aus § 35 SGB VI folgen könne; das ZRBG stelle keine eigenständige Anspruchsgrundlage dar. Unabhängig davon, ob hier die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs - insbesondere die Beschäftigung während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto - glaubhaft gemacht seien, sei die Klägerin bereits aufgrund des Abk Polen RV/UV und des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (Abk Polen SozSich) von Ansprüchen gegen einen deutschen Rentenversicherungsträger ausgeschlossen. Der Vorrang der Bestimmungen dieser Abkommen ergebe sich aus § 30 Abs 2 SGB I. Dem Abk Polen RV/UV liege das Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip zugrunde; Renten der Rentenversicherung würden ausschließlich vom Versicherungsträger desjenigen Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohne (Wohnstaat), nach den dort geltenden Vorschriften gewährt (Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV). Der zuständige Träger habe dabei die im anderen Staat zurückgelegten Zeiten so zu berücksichtigen, als seien sie im eigenen Staatsgebiet zurückgelegt worden (Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV). Nach Art 27 Abs 2 S 1 und 2 Abk Polen SozSich finde das Abk Polen RV/UV weiterhin auf Personen Anwendung, die vor dem 1.1.1991 in einem Vertragsstaat aufgrund des Abkommens von 1975 Ansprüche und Anwartschaften erworben und die nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten hätten. Diese Vorschrift sei für den genannten Personenkreis gemäß Art 8 Abs 1 iVm Anhang II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (EGV 883/2004) auch nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union weiterhin gültig. Hiernach sei für die Rentenansprüche der Klägerin, die ihren Wohnsitz immer in Polen gehabt habe und dort auch weiterhin wohne, der polnische Rentenversicherungsträger ausschließlich zuständig.
Offen bleiben könne danach, ob aufgrund der geltend gemachten Beitragszeiten aus einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto hier überhaupt ein Rentenanspruch folge. Selbst wenn man von einer Anwendbarkeit des "Leistungsexportprinzips" nach dem Abk Polen SozSich ausgehe, bestehe kein deutscher Rentenanspruch der Klägerin, da diese entgegen Art 27 Abs 1 dieses Abkommens weder ihren gewöhnlichen Aufenthalt von Polen nach Deutschland verlegt noch deutsche Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990 zurückgelegt habe. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die genannten Bestimmungen des Abkommensrechts bestünden nicht (Hinweis auf BVerfGE 53, 164 = SozR 2200 § 1318 Nr 5 und auf BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R). Diese führten ohnehin nicht dazu, dass die Klägerin aus ihren Ghetto-Zeiten keinerlei Rente erhalte, sondern nur dazu, dass eine Rente aus diesen Zeiten - solange sie ihren Wohnort in Polen habe - nicht von einem deutschen Versicherungsträger gezahlt und nach deutschen Rechtsvorschriften berechnet werde. Die Anerkennung dieser Zeiten obliege dem polnischen Versicherungsträger nach den dortigen Rechtsvorschriften.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere die Anwendung von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich iVm Art 4 Abs 1 bis 3 und Art 2 Abs 1 Buchst a und Abs 2 Abk Polen RV/UV und der §§ 1 bis 3 ZRBG sowie die Verletzung von Art 3, 14 und 20 GG und von Art 14 EMRK. Dass das deutsch-polnische Abkommensrecht sie - die Klägerin - im Ergebnis von Rentenansprüchen nach dem ZRBG ausschließe, verstoße gegen Art 3, 14 und 20 GG sowie gegen Art 14 EMRK. Die Beklagte könne sich deshalb nicht auf diese Abkommensregelungen berufen. Die polnische Staatsangehörigkeit und der gleichzeitige Wohnsitz in Polen seien keine Unterscheidungsmerkmale, die einen Ausschluss von Rentenansprüchen nach dem ZRBG im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG rechtfertigen könnten. Sie - die Klägerin - habe das gleiche Verfolgungsschicksal erlitten wie alle anderen Verfolgten des Nationalsozialismus, die sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hätten und dort einer Beschäftigung nachgegangen seien. Für ihre Rentenansprüche seien daher die Grundsätze des Wiedergutmachungs- und Entschädigungsrechts maßgeblich, die der BGH und das BSG in zahlreichen Entscheidungen entwickelt hätten. Danach sei es Ziel und Zweck der Entschädigungsgesetzgebung, das verursachte Unrecht so bald und soweit als irgend möglich wiedergutzumachen; dem Prinzip der - zumindest geldlichen - Wiedergutmachung gebühre Vorrang gegenüber der Bewahrung des sozialversicherungsrechtlichen Systems. Eine Auslegung des Gesetzes, die möglich sei und diesem Ziel entspreche, verdiene daher den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung, die die Wiedergutmachung erschwere und zunichte mache. Zudem sei zu berücksichtigen, dass über eine Rentenzahlung aus Beitragszeiten nach § 2 ZRBG gestritten werde, die von Art 14 Abs 1 GG geschützt seien.
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Die Klägerin beantragt, |
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 1. September 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2004, des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2007 und des Urteils des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2011 zu verurteilen, Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 unter Berücksichtigung von Beitragszeiten aus der Beschäftigung im Ghetto Warschau sowie von Verfolgungs-Ersatzzeiten zu zahlen. |
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Die Beklagte beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Sie verteidigt das angefochtene Urteil des LSG.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung von Regelaltersrente.
Die Beklagte ist für die Feststellung einer Altersrente der Klägerin nicht zuständig; ihr Anspruch auf Altersrente richtet sich nicht nach deutschem Recht, sondern ausschließlich gegen den polnischen Versicherungsträger nach polnischem Recht (nachfolgend unter 1.). Unerheblich ist deshalb für die hier zu treffende Entscheidung, ob und in welcher Höhe die Zeiten ihrer Beschäftigung im Ghetto Warschau vom polnischen Rentenversicherungsträger berücksichtigt wurden (2.). Dieses Ergebnis steht in Einklang mit den Regelungen des europäischen Rechts (3.) und bewirkt weder einen Verstoß gegen Verfassungsrecht (4.) noch gegen die EMRK (5.). Auch die Grundsätze des Wiedergutmachungsrechts erlauben keine abweichende Entscheidung (6.).
1. Für Rentenansprüche der in Polen wohnenden Klägerin - auf ihre Staatsangehörigkeit kommt es insoweit nicht an - ist nicht die Beklagte oder ein anderer deutscher Träger, sondern ausschließlich der polnische Rentenversicherungsträger zuständig. Als Folge davon hat die Klägerin keinen Anspruch auf eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung, wozu auch eine Altersrente aufgrund von Zeiten nach dem ZRBG zählt.
a) Als Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten kommt allein § 35 SGB VI in Betracht (BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 24, 28; BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5, RdNr 12; BSG SozR 4-5075 § 1 Nr 6 RdNr 10). Die Anwendung der Vorschrift auf den Fall der Klägerin setzt jedoch voraus, dass diese auch unter den Geltungsbereich der genannten Norm fällt, dh dass sie von ihrem persönlichen Anwendungsbereich mit umfasst wird. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich bei Sachverhalten mit Auslandsbezug nach den speziellen auslandsrentenrechtlichen Kollisionsregeln in § 110 SGB VI, die gemäß § 37 S 1 und 2 SGB I Vorrang vor den allgemeinen Kollisionsvorschriften in § 30 Abs 1 und 2 SGB I haben (Seewald in Kasseler Komm, Stand April 2012, § 30 SGB I RdNr 4; Schlegel in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 62, 64; Eichenhofer in Eichenhofer/Wenner, Komm zum SGB I, IV, X, 2012, § 30 SGB I RdNr 4). Danach sind Rentenleistungen auch an Berechtigte zu zahlen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben (§ 110 Abs 2 SGB VI), soweit nicht die nachfolgenden Vorschriften über Leistungen an Berechtigte im Ausland (§§ 111 bis 114 SGB VI) etwas anderes bestimmen oder soweit nicht nach über- und zwischenstaatlichem Recht etwas anderes bestimmt ist (§ 110 Abs 3 SGB VI). Der Vorrang von Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts ist in § 110 Abs 3 SGB VI in gleicher Weise wie in § 30 Abs 2 SGB I angeordnet. Einer Entscheidung der Frage, ob "bezüglich der Anspruchsentstehung" die zuletzt genannte Vorschrift vorrangig anzuwenden ist (so BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 12, dort ohne Erwähnung von § 110 SGB VI), bedarf es daher nicht.
b) Das geltende zwischenstaatliche Recht schreibt in Bezug auf Rentenansprüche von Personen, die - wie die Klägerin - vor dem 1.1.1991 ihren Wohnsitz in Polen hatten und weiterhin dort ansässig sind, die Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 vor.
Die Regelungen des Abk Polen RV/UV sowie des Abk Polen SozSich sind durch Gesetze vom 12.3.1976 (BGBl II 393, zuletzt geändert durch Art 22 Hüttenknappschaftliches Zusatzversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 21.6.2002, BGBl I 2167) und vom 18.6.1991 (BGBl II 741, geändert durch Art 2 Nr 10 des Gesetzes zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zustimmungsgesetze vom 27.4.2002, BGBl I 1464) in deutsches Recht transformiert worden und gelten damit als (einfaches) Bundesrecht (vgl zur Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge im innerstaatlichen Recht zB Herdegen, Völkerrecht, 9. Aufl 2010, § 22 RdNr 2; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl 1984, §§ 859 ff).
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Einschlägig ist hier Art 4 Abk Polen RV/UV, der wie folgt lautet: |
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"(1) Renten der Rentenversicherung werden vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt. |
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(2) Der in Absatz 1 genannte Träger berücksichtigt bei Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat so, als ob sie im Gebiet des ersten Staates zurückgelegt worden wären. |
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(3) Renten nach Absatz 2 stehen nur für die Zeit zu, in der die betreffende Person im Gebiet des Staates wohnt, dessen Versicherungsträger die Rente festgestellt hat. In dieser Zeit hat ein Rentenempfänger keinen Anspruch auf Grund von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat gegenüber dem Versicherungsträger dieses Staates, soweit nicht Artikel 15 oder 16 etwas anderes bestimmt." |
Bereits aus Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV ergibt sich, dass kein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung besteht. Die genannte Regelung schreibt das dem Abk Polen RV/UV als Kollisionsregel zugrunde liegende Eingliederungsprinzip (Integrationsprinzip) fest. Dieses schließt im Verhältnis beider Vertragsstaaten zueinander für die dem Anwendungsbereich des Abk Polen RV/UV weiterhin unterfallenden Personen aus, dass deutsche Renten nach Polen (oder umgekehrt) gezahlt werden (vgl hierzu zB die Denkschrift zum Abkommen, BT-Drucks 7/4310 S 15 f; BSGE 65, 144, 147 ff = SozR 6710 Art 4 Nr 8 S 22 ff; K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 516 f). Dasselbe ergibt sich auch aus der Vorschrift des Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV, die zugleich abschließend regelt, dass Ausnahmen vom Eingliederungsprinzip nur nach Maßgabe der Art 15 und 16 Abk Polen RV/UV zulässig sind. Die dort genannten übergangsrechtlichen Ausnahmen betreffen aber lediglich - hier offenkundig nicht einschlägige - Fallgestaltungen, in denen bereits vor Inkrafttreten des Abkommens auf Grund eines bindenden Bescheids oder eines rechtskräftigen Urteils Leistungen in den anderen Staat gezahlt wurden oder ein Zahlungsanspruch bereits bei Inkrafttreten jenes Abkommens bestand.
Aufgrund dieser vorrangigen zwischenstaatlichen Regelungen darf ein deutscher Rentenversicherungsträger eine Rente selbst dann nicht zuerkennen und an eine im Gebiet der Republik Polen wohnende Person auszahlen, wenn ein solcher Anspruch allein auf der Grundlage des innerstaatlichen deutschen Rechts an sich bestünde (stRspr - BSG SozR 6710 Art 16 Nr 3 S 3; BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 9; BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 14). Zudem sind beide Vertragsstaaten gehindert, die in Art 15 und 16 Abk Polen RV/UV vereinbarten Ausnahmen vom Eingliederungsprinzip einseitig im Wege innerstaatlicher Gesetzgebung zu erweitern oder einzuschränken (BSG SozR 6710 Art 16 Nr 3 S 3). Hierfür bedürfte es vielmehr einer Vereinbarung beider Abkommenspartner, die der Senat mit seiner Entscheidung nicht ersetzen kann.
c) Das ZRBG enthält keine vom Abk Polen RV/UV abweichende Zuständigkeits- oder Versicherungslastregelung. Eine solche ist insbesondere nicht § 1 Abs 4 ZRBG zu entnehmen, wonach die aufgrund des ZRBG gezahlten Renten "nicht als Leistungen der sozialen Sicherheit" gelten sollen (zu den Fragen im Zusammenhang mit der Auslegung dieser Vorschrift s BSG Beschluss vom 20.12.2007 - B 4 R 85/06 R - Juris RdNr 94, 149 ff). Auch ansonsten bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber des ZRBG eine im Widerspruch zum Abk Polen RV/UV stehende Rechtslage schaffen wollte. Zwar sollte es nicht darauf ankommen, in welchem Staat sich der Berechtigte aufhält. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich jedoch, dass dies in Übereinstimmung mit dem geltenden Auslandsrentenrecht nicht für diejenigen Fälle gelten sollte, in denen Abkommensregelungen anstelle des Rentenexports die Eingliederung der Beitragszeiten in das System des Wohnsitzstaates vorsehen (so ausdrücklich die Begründung im Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, BT-Drucks 14/8583 S 5 - Allgemeines bzw S 6 - zu § 2; ebenso Gesetzentwurf der Fraktion der PDS, BT-Drucks 14/8602 S 5 - Allgemeines bzw S 6 - zu § 2). Das bezieht sich insbesondere auf die noch nach dem Abk Polen RV/UV zu behandelnden Fälle (vgl hierzu auch BT-Drucks 16/5720 S 5), zumal diese die einzig ins Gewicht fallende Ausnahme von dem in deutschen Sozialversicherungsabkommen ansonsten grundsätzlich vereinbarten Leistungsexportprinzip darstellen (Leder, BArbBl 6/1989 S 24, 26; weitere Ausnahmen enthalten die - durch § 1 Abs 3 ZRBG modifizierten - "Weniger-als-Regelungen" zB in Art 17 Abs 2 und 3 Abk Polen SozSich bzw in Art 20 Abs 2 Abk Israel SozSich; ebenso Art 57 Abs 1 und 2 EGV 883/2004).
d) Der Sperrwirkung des Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV für Rentenzahlungen von Deutschland nach Polen (oder umgekehrt) steht nicht entgegen, dass die Klägerin im Ghetto Warschau, also in Polen, beschäftigt war.
Das Abk Polen RV/UV enthält - im Gegensatz zu anderen Sozialversicherungsabkommen (zB Art 3 Abk Polen SozSich; Art 3 Abk Israel SozSich) - keine eigenständigen Regelungen zur Bestimmung seines persönlichen Geltungsbereichs. Die Denkschrift zum Abkommen führt hierzu aus, das Abkommen erfasse alle im Inland wohnenden Personen ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit, die zu irgendeinem Zeitpunkt Versicherungszeiten im anderen Staat zurückgelegt hätten (BT-Drucks 7/4310 S 15 - zu Art 2). Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch für die von der Klägerin im Ghetto Warschau zurückgelegten Zeiten der polnische Rentenversicherungsträger zuständig ist. Denn entweder sind diese Zeiten iS von Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV Versicherungszeiten "im anderen Staat" (im Fall der Klägerin also in Deutschland - s hierzu auch § 2 Abs 1 Nr 2 ZRBG, wonach die Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto fiktiv für Zwecke der Erbringung von Leistungen in das Ausland als Beschäftigung im Bundesgebiet gelten); dann wäre das Abk jedenfalls auf sie anwendbar und nach dem Eingliederungsprinzip ein Anspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger ausgeschlossen. Oder diese Zeiten sind - was aus der Perspektive des im Jahr 1975 geschlossenen Abkommens näher liegt - Zeiten des Wohnsitzstaates (vgl BSGE 65, 144, 146 = SozR 6710 Art 4 Nr 8 S 21, wonach das Abk Polen RV/UV auf die völkerrechtlich-historische Zugehörigkeit des jeweiligen Gebiets während der Zurücklegung der betreffenden Zeit abstellt), also hier Zeiten in Polen; dann gälte für sie erst recht die Zuständigkeit des polnischen Rentenversicherungsträgers, weil es unter diesen Voraussetzungen an einer Konstellation mit Auslandsbezug von vornherein fehlte.
Auch der Bestimmung des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV kann nicht entnommen werden, dass der Versicherungsträger des anderen Staates (hier also Deutschland) für die Gewährung von Renten aufgrund von Zeiten zuständig bleiben soll, die der Betreffende außerhalb seines Staatsgebiets (zB im Wohnsitzstaat, im Fall der Klägerin also in Polen) zurückgelegt hat. Vielmehr richtet sich diese Vorschrift lediglich an den Träger des Wohnsitzstaates (hier: Polen) und weist diesen an, Zeiten auch zu berücksichtigen, wenn sie nicht im Wohnsitzstaat (Polen), sondern im anderen Staat (Deutschland) zurückgelegt wurden.
e) Schließlich ist unerheblich, dass das deutsche Recht erst im Jahr 2002 durch Verkündung des rückwirkend zum 1.7.1997 in Kraft getretenen ZRBG die Zahlung von Regelaltersrenten ausschließlich auf der Grundlage von Beitragszeiten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vereinfacht und damit vielfach überhaupt erst ermöglicht hat.
Wie bereits dargelegt, ist nach dem Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 das deutsche Recht für Rentenansprüche der Klägerin nicht maßgeblich, solange sie ihren Wohnsitz in Polen beibehält. Das gilt auch für die erst im Jahr 2002 geschaffenen Regelungen des ZRBG. Denn Art 2 Abs 2 Abk Polen RV/UV bestimmt ausdrücklich, dass das Abkommen (auch) "auf alle Änderungen der Regelungen in den in Absatz 1 genannten Zweigen" (also auch der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung) Anwendung findet, sich also an der (polnischen) Zuständigkeit und Versicherungslast auch dann nichts ändert, wenn ein neues (deutsches) Gesetz weitere Leistungen der (deutschen) gesetzlichen Rentenversicherung einführt oder die Zugangsvoraussetzungen zu bestehenden Leistungen erleichtert, wie dies durch das ZRBG geschehen ist.
Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass für Leistungen aufgrund des im Jahr 2002 geschaffenen ZRBG die Übergangsvorschrift in Art 27 Abs 1 Abk Polen SozSich und damit das Leistungsexportprinzip maßgeblich sei. Ungeachtet des Umstands, dass dieser Abkommensbestandteil seit dem Wirksamwerden des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union nicht mehr anwendbar ist (Art 6, 7 iVm Anhang III Abschn A Nr 84 Buchst b EWGV 1408/71 bzw Art 8 Abs 1 iVm Anhang II Abschn Deutschland - Polen Buchst b EGV 883/2004), kam es nach Art 27 Abs 1 Abk Polen SozSich nicht darauf an, wann ein Rentenanspruch im Recht des anderen Staates gesetzlich geregelt wurde; maßgeblich war vielmehr, ob die Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990 zurückgelegt wurden. Die Klägerin macht jedoch Zeiten einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto in den Jahren 1940 bis 1943 und damit vor dem genannten Stichtag geltend. Auch das ZRBG fingiert - unabhängig von seiner Anwendbarkeit auf den vorliegenden Sachverhalt - keine Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990, sondern eine Beitragszahlung für davor zurückgelegte Zeiten einer Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto (§ 2) und entbindet - in Ergänzung der rentenrechtlichen Vorschriften und der Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (§ 1 Abs 2) - von sonstigen Voraussetzungen, die der Zahlung einer Rente aufgrund dieser Versicherungszeiten nach deutschem Recht entgegenstehen.
2. Da hiernach mit dem ZRBG auch dessen § 1 Abs 1 S 1 letzter Teils (wonach der Anspruch auf Altersrente unter Berücksichtigung von Versicherungszeiten nach dem ZRBG voraussetzt, dass für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird) auf den Fall der Klägerin nicht anwendbar ist, hat es für die Entscheidung keine Bedeutung, ob und in welchem Umfang der polnische Rentenversicherungsträger die von ihr geltend gemachten Zeiten tatsächlich berücksichtigt hat. Für die Beurteilung der Frage, welche rentenrechtlichen Zeiten bei der Bemessung der Altersrente der Klägerin einzubeziehen sind, insbesondere ob es sich bei ihren Zeiten einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto von 1940 bis 1943 um berücksichtigungsfähige Zeiten iS des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV handelt, ist allein das polnische Recht maßgeblich und ausschließlich der polnische Versicherungsträger zuständig.
3. Diese Rechtslage, wie sie sich aus dem zwischen Deutschland und Polen vereinbarten zwischenstaatlichen Recht ergibt, steht in Einklang mit den Bestimmungen des europäischen Rechts (zu dessen Anwendungsvorrang vgl BVerfGE 123, 267, 402; 126, 286, 301 f). Das gilt sowohl in Bezug auf das derzeit geltende Sekundärrecht (dazu unter a), das seinerseits in Übereinstimmung mit den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union (Primärrecht) steht (b), als auch im Hinblick auf die jeweiligen Vorgängerregelungen (c). Einer vorherigen Anrufung des EuGH bedarf es für diese Entscheidung nicht (d).
a) Nach den derzeit geltenden europarechtlichen Vorschriften ist für den Personenkreis, zu dem die Klägerin gehört, das Abk Polen RV/UV und somit auch das Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip gemäß dessen Art 4 Abs 1 weiterhin maßgeblich.
Allerdings sieht Art 8 Abs 1 S 1 der EGV 883/2004 (vom 29.4.2004, ABl ≪EU≫ Nr L 166 vom 30.4.2004, wirksam ab 1.5.2010; zuletzt geändert durch die EUV 465/2012 vom 22.5.2012, ABl ≪EU≫ Nr L 149 vom 8.6.2012) grundsätzlich vor, dass diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit tritt. Soweit dies der Fall ist, sind mithin die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen RV/UV und das Abk Polen SozSich - nicht mehr anwendbar. Sie werden abgelöst durch die koordinierungsrechtlichen Vorschriften der EGV 883/2004, die im Grundsatz eine Verpflichtung zum Leistungsexport von Geldleistungen vorsehen (vgl dazu die Erwägung Nr 16 in der Präambel zu dieser Verordnung; s auch Devetzi, ZESAR 2009, 63 f). Hierzu bestimmt Art 7 EGV 883/2004 unter der amtlichen Überschrift "Aufhebung der Wohnortklauseln", dass Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, dass der Berechtigte in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat; dies gilt jedoch nur, "soweit in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist".
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob im Fall der Klägerin der Geltungsbereich der EGV 883/2004 eröffnet ist (vgl Erwägung Nr 13 in der Präambel: "Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft bewegen"; s auch Fuchs in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Komm zum Sozialrecht, 2. Aufl 2011, Sammelkommentierung zur EGV 883/2004 RdNr 7). Ebenso muss nicht abschließend entschieden werden, ob die kollisionsrechtliche Bestimmung des zuständigen Rentenversicherungsträgers und des anwendbaren nationalen Rechts in Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV eine "Wohnortklausel" iS des Art 7 EGV 883/2004 enthält. Denn selbst wenn beides der Fall wäre, müsste nach den einleitenden Worten des Art 7 EGV 883/2004 hier vorrangig eine "andere Bestimmung" der Verordnung angewandt werden. Dies ergibt sich aus Art 8 iVm Anhang II EGV 883/2004.
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Art 8 Abs 1 S 1 bis 3 EGV 883/2004 lauten: |
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"1Im Rahmen ihres Geltungsbereichs tritt diese Verordnung an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit. 2Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit , die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, gelten jedoch fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. 3Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen in Anhang II aufgeführt sein." |
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In Anhang II (eingefügt durch Art 1 Nr 20 iVm Anhang Buchst B EGV 988/2009 vom 16.9.2009, ABl ≪EU≫ Nr L 284, 43) ist unter der Überschrift "Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Artikel 8 Absatz 1)" im Abschnitt Deutschland - Polen unter Buchst a das |
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"Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind)" |
aufgeführt. |
Damit liegt jedenfalls die von Art 8 Abs 1 S 3 EGV 883/2004 geforderte formelle Voraussetzung vor. Die Aufnahme in Anhang II ist für eine Fortgeltung von zwischenstaatlichen Abkommensregelungen allein aber noch nicht ausreichend. Hier sind jedoch auch die in Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 benannten materiellen Kriterien erfüllt:
(1) Die von der Klägerin auf der Grundlage von § 35 SGB VI iVm den Vorschriften des ZRBG beanspruchte Altersrente unterfällt an sich dem Geltungsbereich der europarechtlichen Regelungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Personen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zum Bezug von Altersrente berechtigt sind, unterliegen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit den Vorschriften des koordinierenden Sozialrechts der Arbeitnehmer, auch wenn sie keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben (EuGH vom 18.12.2007 - C-396/05 ua - ≪Habelt/Möser/Wachter≫, Slg 2007, I-11895 = SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 57 mwN). Nach ihrer Zweckbestimmung handelt es sich bei einer solchen Rente um "Leistungen bei Alter" aus einem "Zweig der sozialen Sicherheit" bzw aus einem "System der sozialen Sicherheit" iS von Art 3 Abs 1 Buchst d, Abs 2 EGV 883/2004. Die Bestimmung in § 1 Abs 4 ZRBG, wonach die aufgrund dieses Gesetzes gezahlten Renten "nicht als Leistungen der sozialen Sicherheit" gelten sollen, vermag an dieser unionsrechtlichen Einordnung nichts zu ändern (vgl EuGH vom 21.7.2011 - C-503/09 - ≪Stewart≫, ZESAR 2012, 83 RdNr 35). Im Übrigen enthält auch die Erklärung der Bundesregierung nach Art 9 EGV 883/2004 zu den von Art 3 dieser Verordnung erfassten Rechtsvorschriften, Systemen und Regelungen des deutschen Rechts (abgedruckt zB bei Hauschild in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2012, Art 9 EGV 883/2004 RdNr 10) keine Einschränkungen oder Vorbehalte hinsichtlich der Renten nach dem SGB VI, die (auch) auf nach dem ZRBG anerkannten Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto beruhen.
(2) Betroffen sind lediglich "einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit", auch wenn Anhang II die Fortgeltung des gesamten Abk Polen RV/UV anordnet. Denn dieses Vertragswerk, das bereits vor dem Beitritt Polens zur EU und damit vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der koordinierungsrechtlichen Vorschriften des Europarechts im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen abgeschlossen wurde, stellt kein umfassendes Abkommen über soziale Sicherheit iS des Art 8 EGV 883/2004 dar, sondern beschränkt sich auf Regelungen zur RV und UV.
(3) Ob die weitere Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV für den in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 benannten Personenkreis bzw für die Klägerin insgesamt günstiger wäre als der Bezug zeitanteiliger Leistungen aus der deutschen und polnischen Rentenversicherung nach den Regeln der Art 50 ff EGV 883/2004 (so wie das insbesondere bei den nach langjähriger Berufstätigkeit in Polen nach Deutschland übergesiedelten Personen regelmäßig der Fall ist), hat das LSG nicht festgestellt. Weitere Sachaufklärung hierzu ist jedoch entbehrlich, da jedenfalls die zweite Alternative von Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 erfüllt ist. Denn die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für diejenigen, die bereits vor dem 1.1.1991 ihren Wohnsitz in Deutschland oder Polen hatten und weiterhin dort ansässig sind, beruht jedenfalls auf den besonderen historischen Umständen, die Deutschland und Polen veranlasst haben, zur Bewältigung der als Folge des 2. Weltkriegs entstandenen Lage im Jahr 1975 hinsichtlich der rentenrechtlichen Ansprüche der in Deutschland oder Polen lebenden Bürger das Eingliederungsprinzip zugrunde zu legen und auch nach den Umwälzungen im Jahr 1990 für die genannte Personengruppe beizubehalten (s hierzu im Einzelnen nachfolgend unter 4. a).
(4) Die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV ist dadurch "zeitlich begrenzt", dass dessen Bestimmungen an Stelle der europarechtlichen Koordinierungsregelungen nur noch so lange Anwendung finden, wie die davon betroffenen Personen ihren bisherigen Wohnsitz in Deutschland oder Polen beibehalten. Sobald diese von der Freizügigkeit Gebrauch machen und ihren Wohnsitz in ein anderes Land verlegen, werden die allgemeinen Regelungen des Leistungsexports auch für sie wirksam (vgl Schuler, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 18.12.2007 ≪Habelt/Möser/Wachter≫, ZESAR 2009, 40, 44).
b) Die im Sekundärrecht (Art 8 iVm Anhang II EGV 883/2004) für eine bestimmte Personengruppe verankerte Weitergeltung des Abk Polen RV/UV ist auch mit den im europäischen Vertragsrecht allen Unionsbürgern garantierten Grundfreiheiten (vgl Art 20 AEUV) vereinbar (zu diesem Prüfungsschritt EuGH vom 18.12.2007 - C 396/05 ua - ≪Habelt/Möser/Wachter≫, Slg 2007, I-11895 = SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 74 ff; s auch Devetzi, SDSRV Bd 59 ≪2010≫ S 117, 136).
Einschlägig ist insoweit allenfalls der Grundsatz der Freizügigkeit (Art 20 Abs 2 S 2 Buchst a iVm Art 21 AEUV, s auch Art 45 iVm Art 52 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU ≪GR-Charta≫), der jedem Unionsbürger das Recht verleiht, "sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten" (Art 21 Abs 1 AEUV).
Es bedarf auch in diesem Zusammenhang keiner abschließenden Festlegung, ob der Anwendungsbereich dieser Vertragsbestimmung bei dem Personenkreis überhaupt eröffnet ist, der von der Weitergeltung des Abk Polen RV/UV erfasst wird. Diesen Personen ist gemeinsam, dass sie ihren bereits vor dem 1.1.1991 begründeten Wohnsitz in Deutschland oder Polen weiterhin beibehalten, mithin davon, dass sie von der Freiheit, sich als Unionsbürger in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, gerade noch keinen Gebrauch gemacht haben. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Sachverhalte angewandt werden, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (EuGH vom 15.11.2011 - C-256/11 - ≪Dereci≫, NVwZ 2012, 97 RdNr 60 ff mwN).
Doch selbst wenn ein solches Element bzw ein hinreichender Bezug zum Gemeinschaftsrecht (grenzüberschreitender Sachverhalt) hier darin gesehen würde, dass das deutsche Rentenrecht die Zahlung von ZRBG-Renten aufgrund einer Beschäftigung im (Warschauer) Ghetto an Betroffene mit Wohnsitz in anderen Mitgliedstaaten als Polen grundsätzlich vorsieht, wäre die in Art 8 iVm Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) EGV 883/2004 angeordnete Weitergeltung des Abk Polen RV/UV für die dort genannte Personengruppe gleichwohl gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigt. Eine solche Rechtfertigung setzt nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH voraus, dass mit der betreffenden Regelung ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, sie geeignet ist, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (EuGH vom 1.4.2008 - C-212/06 - ≪Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon≫, Slg 2008, I-1683 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 3, RdNr 55; EuGH vom 21.7.2011 - C 503/09 - ≪Stewart≫, ZESAR 2012, 83 RdNr 87 - jeweils mwN; s allgemein auch Art 52 Abs 1 GR-Charta). Dies ist hier der Fall (s nachfolgend unter 4. a). Insbesondere hat der EuGH bereits anerkannt, dass der Wille, den außerhalb des betreffenden Staates wohnenden Begünstigten eine angemessene Leistung unter Berücksichtigung des Niveaus der Lebenshaltungskosten und der im Wohnsitzstaat gezahlten Sozialleistungen zu gewähren, als objektive Erwägung des Allgemeininteresses eine Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen kann (EuGH vom 4.12.2008 - C-221/07 - ≪Zablocka-Weyhermüller≫, Slg 2008, I-9029 RdNr 38 f). Entsprechende Erwägungen liegen auch der Anordnung der Weitergeltung des Eingliederungsprinzips gemäß Art 4 Abk Polen RV/UV für Personen, solange diese ihren Wohnsitz über den 1.1.1991 hinaus in Deutschland oder Polen beibehalten, zugrunde (dazu im Einzelnen unter 4. a).
c) Die vorstehenden europarechtlichen Bewertungen auf der Grundlage der ab 1.5.2010 anwendbaren EGV 883/2004 können in gleicher Weise auf den für den Zeitraum davor noch maßgeblichen Rechtszustand (vgl Art 87 Abs 1 EGV 883/2004; s hierzu auch Bokeloh, ZESAR 2011, 18, 21) übertragen werden. Art 7 und 8 EGV 883/2004 haben die im wesentlichen inhaltsgleichen Art 6 und 10 Abs 1 EWGV 1408/71 abgelöst. Die Regelung in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 stimmt mit derjenigen in Anhang III Teil A Ziff 84 Buchst a EWGV 1408/71 (idF des Vertrags über den Beitritt der Republik Polen und anderer Staaten zur Europäischen Union vom 16.4.2003 - Abschn B Anh II Nr 2 "Freizügigkeit" Abschn A "Soziale Sicherheit" Nr 1 Buchst h xxv, s EU-Beitrittsvertragsgesetz vom 18.9.2003, BGBl II 1408 iVm Anlageband 1 S 158) überein.
Auch im Primärrecht war der Grundsatz der Freizügigkeit (Art 21 Abs 1 AEUV) bereits in den vorangegangenen Vertragswerken inhaltsgleich geregelt (Art 8a EG ≪idF des Vertrags von Maastricht≫, Art 18 EG ≪idF der Verträge von Amsterdam und Nizza≫).
d) Der Senat kann diese Entscheidung treffen, ohne zuvor gemäß Art 267 Abs 3 AEUV den EuGH anzurufen. Die hierfür bedeutsamen Fragen zur Auslegung der Verträge und des Sekundärrechts sind in der Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt. Auf dieser Grundlage hat der Senat, wie oben erläutert, keine Zweifel daran, dass die in Anhang II der EGV 883/2004 geregelte Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für den dort bezeichneten Personenkreis mit Europarecht vereinbar ist (vgl EuGH vom 6.10.1982 - C-283/81 - ≪CILFIT≫, Slg 1982, 3415 RdNr 14; s auch BVerfGE 126, 286, 315 ff; 129, 78, 105 ff).
4. Der Ausschluss der Klägerin vom Export einer auf Ghetto-Beitragszeiten beruhenden Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und ihre Beschränkung auf Leistungen des polnischen Versicherungsträgers, solange sie ihren Wohnsitz in Polen beibehält, verstößt auch nicht gegen Verfassungsrecht.
a) Art 3 Abs 1 GG ist nicht verletzt.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem einem Personenkreis eine Begünstigung gewährt wird, die einem anderen Personenkreis ohne einen rechtfertigenden Grund vorenthalten bleibt (BVerfGE 127, 263, 280 = SozR 4-1300 § 116 Nr 2 RdNr 44 mwN; BVerfG vom 19.6.2012 - 2 BvR 1397/09 - NVwZ 2012, 1304 RdNr 53; stRspr).
Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann. Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich dabei nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers ist anzunehmen, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft; sie ist darüber hinaus umso strenger, je mehr sich die zur Unterscheidung führenden personenbezogenen Merkmale den in Art 3 Abs 3 GG genannten Merkmalen annähern und je größer die Gefahr ist, dass die Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt (BVerfG vom 19.6.2012, aaO RdNr 57). Bei lediglich verhaltensbezogenen Unterscheidungen hängt das Maß der Bindung insbesondere auch davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird (BVerfGE 127, 263, 280 = SozR 4-1300 § 116 Nr 2 RdNr 45 mwN). Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers geht dann besonders weit, wenn er Lebenssachverhalte verschieden behandelt und die Betroffenen sich durch eigenes Verhalten auf die unterschiedliche Regelung einstellen können; die Grenze bildet dann allein das Willkürverbot (BVerfGE 97, 271, 291 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1 S 11).
Art 3 Abs 1 GG untersagt mithin die abweichende Behandlung einer Gruppe von Normadressaten, wenn im Vergleich zu anderen Normadressaten keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (BVerfGE 102, 41, 54 = SozR 3-3100 § 84a Nr 3 S 18; BVerfG vom 19.6.2012 - 2 BvR 1397/09 - NVwZ 2012, 1304 RdNr 56, stRspr). Dabei hat das BVerfG dem Gesetzgeber für sozialrechtliche Regelungen, die im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs stehen, im Hinblick auf die sozialen Aufgaben, vor denen die Bundesrepublik gestanden hat und die nach Art und Ausmaß ohne Parallelen waren, regelmäßig einen über die genannten Grundsätze hinausgehenden, sehr weiten Gestaltungsspielraum zugestanden (BVerfGE 53, 164, 177 f = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 12; BVerfGE 95, 143, 155; BVerfGK 6, 171, 174 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 12).
Die Klägerin wird durch die zunächst in Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich und sodann im EU-Beitrittsvertrag vom 16.4.2003 angeordnete Fortgeltung der Regelungen des Abk Polen RV/UV für die bereits vor dem 1.1.1991 in Polen wohnenden und weiterhin dort ansässigen Personen anders behandelt als diejenigen Personen, die ebenfalls im Warschauer Ghetto beschäftigt waren und nunmehr außerhalb Polens leben. Denn sie hat für die Dauer ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Polen aufgrund des für sie fortgeltenden Eingliederungsprinzips ausschließlich einen Anspruch auf Rente gegen den polnischen Rentenversicherungsträger nach den Vorschriften des polnischen Rentenrechts, während ihr die Zahlung einer Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem ZRBG, wie sie Ghetto-Beschäftigte mit Wohnsitz außerhalb Polens auf der Grundlage des Leistungsexportprinzips erhalten können, versagt bleibt.
Auch wenn dies zum Nachteil der Klägerin Auswirkungen auf die Höhe ihrer gesamten Rentenansprüche haben dürfte, ist diese unterschiedliche Behandlung jedoch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Denn durch das Abk Polen RV/UV sollte den in Polen lebenden, vormals nach reichsgesetzlichen Vorschriften Versicherten erstmals ein vertraglich abgesicherter Rechtsanspruch auf die Einbeziehung in das polnische Sozialversicherungssystem und zudem das Recht auf Anrechnung ihrer im Bereich des Deutschen Reichs zurückgelegten Versicherungsjahre verschafft werden, wenn auch im Rahmen des polnischen Systems (vgl hierzu im Einzelnen BVerfGE 53, 164, 180 f = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 14 mwN). Ziel der Vereinbarung des Eingliederungsprinzips im Abk Polen RV/UV war es außerdem, angesichts der Unterschiede in den Wirtschafts- und Lebensverhältnissen, aber auch der Sozialversicherungssysteme in den beiden Ländern soziale Spannungen zu vermeiden und ein gerechteres Ergebnis zu erzielen, als dies ein Export von Rentenleistungen hätte gewährleisten können. Die an der Verhandlung des Abkommens beteiligten Delegationen konnten davon ausgehen, dass einerseits aus Polen exportierte Renten in aller Regel nicht für einen angemessenen Lebensstandard in der Bundesrepublik Deutschland ausreichen würden und andererseits nach Polen gezahlte deutsche Renten nicht selten höher ausfallen würden als die dortigen Arbeitnehmereinkommen. Im Hinblick darauf hatte die polnische Delegation im Laufe der Vertragsverhandlungen deutlich gemacht, eine unter diesem Gesichtspunkt unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Polen auf polnischem Staatsgebiet nicht zuzulassen (vgl BVerfGK 6, 171, 175 f = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 17 f - unter Hinweis auf die Stellungnahmen des Staatssekretärs Eicher in der 425. Sitzung des BR vom 7.11.1975, Prot S 331 f, und vor dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung des BT, KurzProt der 90. Sitzung des Ausschusses vom 3.12.1975, S 25 f, sowie die Rede des Abgeordneten Sund in der 202. Sitzung des BT vom 26.11.1975, PlenarProt S 13984 ff; vgl ferner Haase, BArbBl 1976, 211, 213; Baumgarten, DRV 1986, 475, 479 ff; aus polnischer Sicht K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 517).
Diese Rechtslage sollte nach dem übereinstimmenden Willen Deutschlands und Polens aus denselben Gründen auch nach Einführung des Leistungsexportprinzips jedenfalls für diejenigen Personen fortgelten, die bereits vor dem Stichtag 1.1.1991 in einem der beiden Länder wohnten, solange sie dort ansässig bleiben und damit dem Einkommens- und Preisniveau dieses Landes unterliegen (Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich, s hierzu auch die Denkschrift zu diesem Abk, BT-Drucks 12/470 S 23 f, die Aspekte des Vertrauensschutzes und des Bestandsschutzes betont; ebenso Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 12/445; hingegen waren für die polnische Seite andernfalls dort eintretende erhebliche finanzielle Belastungen ausschlaggebend, s hierzu K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 519). Anlässlich des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union haben beide Staaten sodann einvernehmlich erneut dafür Sorge getragen, dass dieser Rechtszustand für den Personenkreis der nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machenden Bürger ("Bestandsfälle") fortgeführt wird (K. Reiter, aaO S 526). Hierzu haben sie im EU-Beitrittsvertrag vom 16.4.2003 eine Ergänzung des Anhangs III Teil A der EWGV 1408/71 veranlasst und später erreicht, dass diese Regelung auch in den Anhang II der EGV 883/2004 übernommen wird. Der deutsche Gesetzgeber hat diesen Regelungen im Gesetz zu dem Abk Polen SozSich (vom 18.6.1991 - BGBl II 741) und im EU-Beitrittsvertragsgesetz (vom 18.9.2003 - BGBl II 1408) zugestimmt.
Hierdurch hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden - in außenpolitischen Angelegenheiten besonders weiten - Gestaltungsspielraum nicht verletzt (BVerfGE 53, 164, 182; 95, 143, 159; BVerfGK 6, 171, 176 f = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 19 f). Insbesondere knüpft die übergangsweise Fortgeltung des Eingliederungsprinzips für die "Bestandsfälle" nicht an Persönlichkeitsmerkmale an, sondern differenziert nach unterschiedlichen Sachverhalten (Wohnort) und ist zugleich verhaltensbezogen ausgestaltet (s oben unter 3. a) (4)). Daher ist es im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz auch verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Bundesrepublik Deutschland mit dem Abschluss des Abk Polen RV/UV darauf verzichtet hat, in Zukunft einseitig durch eine Änderung des deutschen Rentenrechts Verbesserungen der rentenrechtlichen Situation von in Polen wohnenden Versicherten vorzunehmen (vgl BVerfGK 6, 171, 175 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 15). Ebenso wenig kann beanstandet werden, dass Deutschland anlässlich des Beitritts der Republik Polen zur EU - nicht zuletzt mit Rücksicht auf die ansonsten erheblichen finanziellen Belastungen des beitretenden Landes - davon abgesehen hat, die Einführung des Leistungsexportprinzips auch für die "Bestandsfälle" anzustreben.
Eine Verpflichtung zur späteren Überprüfung und ggf Änderung einer unter dem Gesichtspunkt der Kriegsfolgenbeseitigung getroffenen, verfassungsrechtlich unbedenklichen Regelung im Hinblick auf eine inzwischen veränderte Situation hat das BVerfG nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht gezogen (BVerfGE 53, 164, 180 = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 13 f; BVerfGK 6, 171, 175 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 16). Ein solch außergewöhnlicher Fall liegt nicht etwa aufgrund dessen vor, dass der polnische Rentenversicherungsträger nach dem Abk Polen RV/UV für die weiterhin in Polen wohnenden Personen auch hinsichtlich von Versicherungszeiten aufgrund der Beschäftigung in einem Ghetto zuständig ist (zur Ablehnung einer entsprechenden Änderung des ZRBG durch den Deutschen Bundestag s BT-Drucks 16/10334 ≪dort unter B Ziff 5≫ sowie PlenarProt 16/200 S 21613 ≪C≫). Dies gilt umso mehr, als Zeiten des Aufenthalts in einem Ghetto nach polnischem Recht bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind und die Betroffenen daher nicht ohne rentenrechtliche Ansprüche für diese Zeiten bleiben (vgl Poletzky/Pflaum, MittLVA Berlin 2003, 179, 242 f zur Beurteilung von Zeiten als Zivil- oder Zwangsarbeiter in einem Ghetto nach polnischem Recht ≪Gesetz vom 17.12.1998 über Altersrenten und Renten aus dem Sozialversicherungsfonds, in deutscher Übersetzung abgedruckt aaO S 299 ff≫). Zudem hat die Bundesrepublik Deutschland bei Abschluss des Abk Polen RV/UV die damals - unter anderen Rahmenbedingungen - angenommene finanzielle Mehrbelastung des polnischen Staates aufgrund der Vereinbarung des Eingliederungsprinzips mit einer Ausgleichszahlung in Höhe von 1,3 Mrd DM abgegolten (Art 1 Abs 1 der Vereinbarung vom 9.10.1975, BGBl II 1976, 401).
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die weiterhin in Polen ansässigen Ghetto-Beschäftigten nicht gänzlich von Leistungen aus Deutschland für diese Tätigkeit ausgeschlossen sind. Nach der Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (idF der Bekanntmachung vom 20.12.2011, BAnz 4608) können Verfolgte iS von § 1 BEG, die sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag, und während dieser Zeit ohne Zwang in einem beschäftigungsähnlichen Verhältnis gearbeitet haben, eine einmalige Leistung von 2000 Euro erhalten, sofern sie für diese Arbeit keine Leistung aus den Mitteln der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" erhalten haben oder hätten erhalten können. Mit der erwähnten Fassung der Richtlinie ist auf den zuvor festgelegten Schlusstermin (31.12.2011) und den vormaligen Ausschluss von Leistungen im Falle einer bereits erfolgten sozialversicherungsrechtlichen Berücksichtigung der Ghetto-Zeit (§ 1 Abs 1 S 1 Nr 1 der Richtlinie idF vom 1.10.2007, BAnz 7693) verzichtet worden, sodass auch die Klägerin noch Gelegenheit hat, einen entsprechenden Antrag zu stellen, falls dies bislang nicht geschehen ist.
b) Das Eigentumsgrundrecht aus Art 14 Abs 1 GG ist ebenfalls nicht verletzt. Zwar schützt diese Verfassungsnorm auch sozialversicherungsrechtliche Rentenansprüche und Rentenanwartschaften, die im Geltungsbereich des GG erworben worden sind (BVerfG Beschluss vom 8.5.2012 - 1 BvR 1065/03 ua - Juris RdNr 41 mwN). Jedoch reicht ihr Schutz nur so weit, wie Ansprüche bereits bestehen, verschafft diese aber selbst nicht (BVerfG aaO). Deshalb kann die Entscheidung des Gesetzgebers des ZRBG, für Ghetto-Beschäftigungszeiten die Zahlbarmachung von Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu erleichtern und in diesem Zusammenhang die bestehenden auslandsrentenrechtlichen Vorschriften zugrunde zu legen, also für Personen mit beibehaltenem Wohnort in Polen gemäß § 110 Abs 3 SGB VI iVm Art 8 Abs 1 S 2 und Anhang II EGV 883/2004 und Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV keine Ansprüche gegen die deutsche gesetzliche Rentenversicherung zu begründen, nicht an Art 14 Abs 1 GG gemessen werden (s auch BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 18). Die Entziehung bereits bestehender Rentenansprüche hat das ZRBG nicht angeordnet.
c) Anhaltspunkte für eine Verletzung des Art 20 GG sind weder von der Klägerin konkret benannt noch sonst ersichtlich.
5. Auch ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Art 14 EMRK liegt nicht vor (zu Rang und Reichweite der EMRK innerhalb der deutschen Rechtsordnung s BVerfGE 128, 326, 367 ff). Denn Art 14 EMRK stellt - unabhängig davon, ob die Vorschrift auf im nationalen Recht nicht begründete Rentenansprüche anwendbar ist (vgl hierzu Senatsurteil vom 20.7.2011 - B 13 R 41/10 R - Juris RdNr 36; EGMR vom 25.9.2007 - 12923/03 - SozR 4-6021 Art 1 Nr 1 RdNr 126 ff, 138 f; vom 25.10.2005 - 59140/00 - NVwZ 2006, 917 RdNr 30 f = Juris RdNr 67 f; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl 2011, Art 14 RdNr 5 ff und Zusatzprotokoll zur EMRK Art 1 RdNr 14 f, jeweils mwN) jedenfalls an die Ausgestaltung über- oder zwischenstaatlicher Verträge zur Koordinierung von Bestimmungen der sozialen Sicherheit im Hinblick auf die Anknüpfung an den Wohnort der Betroffenen im jeweiligen Vertragsstaat keine höheren Anforderungen als Art 3 GG. Nach Art 14 EMRK ist der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. Das schließt zwar eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich wegen der Staatsangehörigkeit aus, sofern es dafür nicht besonders gewichtige Rechtfertigungsgründe gibt (EGMR vom 16.9.1996 - 39/1995/545/631 - JZ 1997, 405 RdNr 42; EGMR vom 28.10.2010 - 40080/07 - NVwZ-RR 2011, 727 RdNr 35). Die genannte Vorschrift steht jedoch der hier maßgeblichen Anknüpfung an den Wohnsitz zur Bestimmung der Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers und des maßgeblichen nationalen Rechts nicht entgegen (vgl EGMR vom 9.3.2010 - 51625/08 - FamRZ 2011, 1037, 1038 - Juris RdNr 54; s auch Eichenhofer, Anmerkung zum Urteil des EGMR vom 30.9.2003 - 40892/98 - ZESAR 2004, 143, 144).
6. Zugunsten der Klägerin wirkt sich schließlich nicht der von ihr angeführte, vom BGH zum Entschädigungsrecht entwickelte Grundsatz aus, dass eine Gesetzesauslegung, die möglich ist und dem Ziel entspricht, das zugefügte Unrecht so bald und so weit wie irgend möglich wiedergutzumachen, den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung verdient, die die Wiedergutmachung erschwert oder zunichte macht (stRspr, zB BGH vom 22.11.1954 - IV ZR 107/54 - RzW 1955, 55, 57; aus neuerer Zeit BGH vom 22.2.2001 - IX ZR 113/00 - LM BEG 1956 § 35 Nr 37 unter II 2 c der Gründe; BGH vom 1.12.1994 - IX ZR 63/94 - LM BEG 1956 § 35 Nr 34 unter II 2 der Gründe). Zwar ist hiervon bei der Auslegung einschlägiger Vorschriften auch das BSG ausgegangen (zB BSG vom 28.2.1984 - SozR 5070 § 9 Nr 7 S 14; BSG vom 25.8.1982 - SozR 5070 § 10 Nr 20 S 46; BSG vom 12.10.1979 - SozR 5070 § 10a Nr 2 S 3; BSG vom 26.10.1976 - SozR 5070 § 9 Nr 1 S 3; s bereits BSG vom 26.6.1959 - BSGE 10, 113, 116). Die von der Klägerin erstrebte Rechtsanwendung ist jedoch, wie erläutert, bereits im Hinblick auf die völkerrechtlichen Bindungen der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich.
Damit lässt sich auch kein anderes Ergebnis aus § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB I ableiten, wonach bei der Auslegung der Vorschriften des SGB sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 3488611 |
BSGE 2013, 184 |
FA 2013, 95 |
WzS 2012, 349 |
SGb 2012, 534 |
SGb 2013, 214 |