Entscheidungsstichwort (Thema)
Beamte, die eine Zweitbeschäftigung in der Privatwirtschaft ausüben
Leitsatz (amtlich)
Die für Beamte geltende Versicherungsfreiheit ist auf die nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen versorgungsrechtlich gesicherten Dienstverhältnisse beschränkt (Fortführung von BSG 1963-12-18 3 RK 99/59 = BSGE 20, 123 und 1970-03-11 3 RK 40/67 = BSGE 31, 66).
Leitsatz (redaktionell)
Der die Sozialversicherung beherrschende Grundsatz der Solidarität aller abhängig Beschäftigten schließt es aus, die Versicherungspflicht über die gesetzlich geregelten Freistellungstatbestände hinaus von einem individuellen Schutzbedürfnis abhängig zu machen.
Normenkette
RVO § 169 Abs. 1 Fassung: 1945-03-17, § 1229 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; AFG § 168 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. März 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Neben seiner Tätigkeit als Beamter auf Lebenszeit war der Kläger von Januar bis März 1971 - drei Monate - als Hilfsarbeiter wöchentlich 33 Stunden bei der beigeladenen Firma mit einem Wochenverdienst von 200,- DM beschäftigt. Nach der zunächst nicht geplanten Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses verlangte die beklagte Krankenkasse durch Bescheid vom 29. April 1971 (Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1971) Gesamtsozialversicherungsbeiträge für April 1971. Mit seiner Klage erstrebt der Kläger die Aufhebung dieses Bescheids und die Feststellung, daß er infolge seiner Beamteneigenschaft in allen Zweigen der Sozialversicherung versicherungsfrei sei. Er beabsichtige, seine Beschäftigung, die er von Mai 1971 an derart eingeschränkt habe, daß Versicherungsfreiheit nach § 168 Abs. 2 Buchst. b der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorliege, wieder auszudehnen.
Sozialgericht (Urteil vom 4. Dezember 1972) und Landessozialgericht - LSG - (Urteil vom 7. März 1974) haben die Klage abgewiesen. Das LSG hat ausgeführt: Die Versicherungsfreiheit der aktiven Beamten nach §§ 169, 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO beziehe sich nur auf das Beamtenverhältnis. Eine daneben ausgeübte Beschäftigung sei ohne Rücksicht darauf versicherungspflichtig, ob der Beschäftigte schutzbedürftig sei. In den bisher von dem Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen Fällen sei allerdings auch auf das Interesse der Beamten an zusätzlicher Sicherung hingewiesen worden. Eine gewisse Klarstellung habe zwar das Urteil des Senats vom 4. Oktober 1973 (SozR Nr. 76 zu § 165 RVO) gebracht, in dem ein Übergreifen der Versicherungsfreiheit nach § 169 RVO auf ein Rentenverhältnis verneint worden sei. Andererseits habe aber der 12. Senat (Urteil vom 23. November 1973 - 12 RK 22/72 in DOK 1974, 315) die Versicherungsfreiheit eines beurlaubten Beamten angenommen. Damals sei aber der Dienstherr - Bundesbahn - und der private Arbeitgeber - Gemeinnützige Wohnbaugesellschaft - praktisch identisch gewesen.
Der Kläger beantragt mit der zugelassenen Revision, unter Aufhebung der vorgenannten Urteile und Verwaltungsentscheidungen festzustellen, daß er in seiner Zweitbeschäftigung versicherungsfrei sei. Er meint, das LSG habe verkannt, daß in den bisher zu den §§ 169, 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO ergangenen Entscheidungen Erwägungen zum Schutzbedürfnis der jeweils in Rede stehenden Beamten die tragenden Gründe gewesen seien. Der lückenlose versorgungsrechtliche Schutz, den ein Beamter auf Lebenszeit genieße, mache die Zugehörigkeit zur Sozialversicherung entbehrlich. Abgesehen von der Beitragspflicht sei die Versicherungspflicht auch deshalb für aktive Beamte nachteilig, weil ihnen Beihilfeansprüche gegen den Dienstherrn dadurch verlorengingen.
Die Beklagte und die beigeladene Landesversicherungsanstalt beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit sowie der Arbeitgeber des Klägers stellen keinen Antrag.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Zutreffend hat das LSG die Auffassung der Beklagten bestätigt, daß der Kläger mit seiner die Grenzen der Nebenbeschäftigung (§§ 168, 1228 Abs. 1 Nr. 4 RVO) überschreitenden Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 3) versicherungspflichtig in der Renten- und in der Krankenversicherung und damit auch beitragspflichtig zu der Arbeitslosenversicherung (§§ 168 ff des Arbeitsförderungsgesetzes) war. Die Versicherungsfreiheit, die er als Beamter auf Lebenszeit (§§ 169, 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO) hat, erstreckt sich nicht auf dieses Beschäftigungsverhältnis.
Den Grundsatz, daß die für Beamte ausgesprochene Versicherungsfreiheit auf das Beamtenverhältnis beschränkt ist, haben der erkennende Senat (BSG 20, 123; 20, 133; 31, 66) und der 12. Senat (SozR Nr. 2 zu § 6 AVG) in Fällen, in denen ein Beamtenverhältnis mit einem Beschäftigungsverhältnis zusammentraf, wiederholt zum Ausdruck gebracht. In allen diesen Fällen war allerdings die Beamtentätigkeit in der Zeit der privaten Beschäftigung entweder überhaupt nicht ausgeübt worden (Beurlaubung, vorläufige Dienstenthebung) oder der Beamte war noch nicht endgültig angestellt gewesen (Beamter auf Widerruf), so daß die Sicherungen, die mit dem Beamtenverhältnis in der Regel verbunden sind, noch nicht in vollem Umfang bestanden hatten oder fraglich geworden waren. Daher konnte dem Einwand, der durch die Sozialversicherung gegebene Schutz sei in den Fällen der §§ 169, 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO anderweitig gewährleistet, mit dem Hinweis auf das objektive Interesse an einer zusätzlichen Sicherung in der privaten Beschäftigung begegnet werden. Damit war jedoch nicht gesagt, daß die Versicherungspflicht in der privaten Beschäftigung stets eine - in jenen Sonderfällen vorliegende - Unvollkommenheit der beamtenrechtlichen Sicherung voraussetzt. Eine entsprechende Klarstellung ist schon in einem Fall erfolgt, in dem zu entscheiden war, ob eine aktive Beamtin auf Lebenszeit infolge der sich aus § 169 RVO ergebenden Versicherungsfreiheit auch in der Krankenversicherung der Rentner - als Bezieherin einer Witwenrente - versicherungsfrei war. Der Senat hat dies verneint (Urteil vom 4. Oktober 1973 in SozR Nr. 76 zu § 165 RVO), und zwar ausdrücklich mit dem Hinweis auf die vorgenannten Entscheidungen des Senats; was für die Versicherungspflicht aufgrund einer Zweitbeschäftigung gelte, müsse auch für die Versicherungspflicht aufgrund eines Rentenverhältnisses gelten. Auf beide wirke die Versicherungsfreiheit des Beamtendienstverhältnisses nicht ein.
Daran hält der Senat fest. Die Beschränkung der Versicherungsfreiheit auf das eigentliche Beamtenverhältnis hat ihren Grund zunächst darin, daß Freistellungen von der Versicherungspflicht als Ausnahmen von dem Grundsatz geregelt sind, daß entgeltliche Beschäftigungsverhältnisse versicherungspflichtig sind. Diese - mehr formale - Begründung wird bestätigt durch den das Recht der Sozialversicherung beherrschenden Grundsatz der Solidarität aller abhängig Beschäftigten, der es ausschließt, die Versicherungspflicht über die gesetzlich geregelten Freistellungstatbestände hinaus von einem individuellen Schutzbedürfnis abhängig zu machen, zumal dieses Schutzbedürfnis sich beim Einzelnen im Laufe der Zeit wandeln kann und damit, wenn die Versicherungspflicht solchen Wandlungen folgen würde, die Gefahr einer negativen Risikoauslese bestände. Die Sozialversicherung ist keine nur hilfsweise ("subsidiär") eintretende Einrichtung für Personen, die während der gerade fraglichen Zeit nicht anderweitig ausreichend geschützt sind. Im übrigen wäre eine auch nur einigermaßen gleichförmige Beurteilung des konkreten Schutzbedürfnisses für die Verwaltung und die Gerichte außerordentlich schwierig. Eine Abgrenzung der Schutzbedürftigkeit nach generellen Merkmalen - abhängige Beschäftigung - dient daher auch der Rechtssicherheit. Der Hinweis des Senats in den vorgenannten Entscheidungen (zu Befreiungsvorschriften schon in BSG 11, 243, 247; 14, 185, 191), daß Ausnahmen von der Versicherungspflicht dann zu rechtfertigen wären, wenn anderweitig ein umfassender gleichwertiger Schutz gewährleistet ist, darf mithin nicht in dem Sinn verstanden werden, daß eine - der Sozialversicherung wesensfremde - Prüfung des individuellen Schutzbedürfnisses der Beschäftigten für erforderlich gehalten werde.
Allerdings schließt die gebotene restriktive Auslegung der §§ 169, 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO nicht aus, diese Regelung auf Beschäftigungsverhältnisse anzuwenden. die dem Beamtendienstverhältnis versorgungsrechtlich gleichzustellen sind. Für die Auslegung der genannten Vorschriften ist nicht entscheidend, daß der Arbeitnehmer Beamter im staatsrechtlichen Sinne ist - auch sonstige "Beschäftigte" bei öffentlich-rechtlichen Einrichtungen werden in beiden Vorschriften genannt -, sondern daß der Beschäftigte in seinem Beschäftigungsverhältnis die beamtenrechtlichen Versorgungsanwartschaften genießt.
Das Urteil des 12. Senats vom 23. November 1973 aaO bedeutet - wie es auch richtig verstanden worden ist (vgl. Erlaß der obersten Landesbehörden des Landes Rheinland-Pfalz in MinBl Rhld.-Pfalz A 1975 305; Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen in MinBl NRW 1974, 167; Besprechungsergebnisse der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger vom 9./10. Mai 1975 in WzS 1974, 358) - keine Einschränkung des Grundsatzes, daß sich die Versicherungsfreiheit nach §§ 169, 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO auf das Beamtendienstverhältnis beschrankt und nicht auf daneben oder unabhängig davon bestehende Beschäftigungsverhältnisse erstreckt. Die genannten Freistellungsvorschriften sind nach diesem Urteil allerdings ihrem Sinn nach auch auf Beschäftigungsverhältnisse anwendbar, die in versorgungsrechtlicher Hinsicht ebenso gestaltet sind wie Dienstverhältnisse bei öffentlich-rechtlichen Einrichtungen. Voraussetzung für eine solche Anwendung ist aber, daß für das private Beschäftigungsverhältnis - mag es neben einem Beamtendienstverhältnis oder bei Beurlaubung anstelle eines solchen eingegangen sein - ein öffentlich-rechtlicher Dienstherr die Versorgungsanwartschaften in gleicher Weise gewährleistet, wie dies für die Versicherungsfreiheit im Beamtenverhältnis erforderlich ist.
Da im vorliegenden Fall allenfalls die Erstreckung der Versicherungsfreiheit des Beamtendienstverhältnisses auf das private Arbeitsverhältnis, nicht aber die Anwendung der §§ 169, 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO auf ein versorgungsrechtlich gleichgestelltes Arbeitsverhältnis in Betracht kommt, haben sich die Vorinstanzen zutreffend auf den Grundsatz berufen, daß nach diesen Vorschriften nur das Beamtendienstverhältnis versicherungsfrei ist.
Die begehrte Versicherungsfreiheit kann in der Krankenversicherung auch nicht durch Zusammenrechnung der Beamtenbesoldung und des Arbeitsverdienstes erreicht werden, obwohl nach den Feststellungen des LSG dadurch die für Angestellte geltende Jahresarbeitsverdienstgrenze (§ 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO) überschritten würde. Das hat der Senat in Fällen des Zusammentreffens von Beamtenverhältnis und Angestelltenverhältnis entschieden (BSG 20, 133; 22, 288); das muß um so mehr gelten, wenn - wie hier - ein Beamter in seiner Zweitbeschäftigung als Arbeiter zu beurteilen ist. Wie zu entscheiden wäre, wenn der Kläger schon mit seinem Verdienst als Beamter über der Versicherungspflichtgrenze läge und seine Zweitbeschäftigung eine Angestelltentätigkeit wäre, bleibt offen (vgl. dazu Töns in DOK 1975, 624).
Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen (§§ 170 Abs. 1 Satz 1, 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen
Haufe-Index 1646489 |
BSGE, 208 |