Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin die erhöhte Witwenrente nach § 1268 Abs. 2 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Zeit vom 1. Februar 1977 bis zum 31. Juli 1979 zu gewähren ist.
Nach dem Tode ihres Ehemannes am 9. November 1971 erhielt die Klägerin Witwenrente zunächst von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg und sodann von der Beklagten. Wegen der Erziehung ihres am 25. Oktober 1967 geborenen, waisenrentenberechtigten Sohnes gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 14. Mai 1974 die erhöhte Witwenrente. Nachdem die Klägerin in einer schriftlichen Erklärung vom 13. Februar 1978 angegeben hatte, ihr Sohn sei in der Türkei wohnhaft und werde dort von seiner Großmutter erzogen, zahlte die Beklagte mit Bescheid vom 28. März 1978 ab 1. Februar 1977 nur noch die einfache Witwenrente. Nachdem der Sohn im Juli 1979 wieder zur Klägerin gezogen ist, erhält diese seit 1. August 1979 erneut die erhöhte Witwenrente (Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 1979).
Das Sozialgericht (SG) hat die gegen den Bescheid vom 28. März 1978 erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Oktober 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Juni bis zum 19. September 1977 eine erhöhte Witwenrente zu gewähren. Die weitergehende Berufung hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 1. Oktober 1980). Es hat in der von der Beklagten unterlassenen Anhörung der Klägerin vor Erlaß des Bescheides vom 28. März 1978 keinen Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) gesehen. Nach Abs. 2 Nr. 3 dieser Vorschrift habe die Beklagte von einer Anhörung absehen dürfen, weil sie ihrer Entscheidung die schriftliche Erklärung der Klägerin vom 13. Februar 1978 zugrunde gelegt habe. Halte man § 34 Abs. 2 Nr. 3 SGB 1 hier nicht für anwendbar, so sei der in der unterlassenen Anhörung liegende Verfahrensmangel unschädlich, weil die Klägerin im Laufe des Berufungsverfahrens auf die Geltendmachung dieses Verstoßes zulässigerweise und wirksam verzichtet habe. In der Sache selbst ergebe die Gesamtwürdigung der Tatsachen, daß der Sohn der Klägerin während seines Aufenthaltes in der Türkei von seiner Großmutter erzogen worden sei. Die Klägerin selbst habe lediglich während der Sommerferien 1977, in denen ihr Sohn sich bei ihr aufgehalten habe, in erzieherischer Weise auf ihn eingewirkt. Der Berufung sei daher nur für diesen Zeitraum stattzugeben.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung der §§ 1268 RVO, 34 SGB 1 und 106 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch das Berufungsgericht.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil des LSG, das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. März 1978 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung Ar zutreffend.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Anhand der nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des LSG steht der Klägerin die erhöhte Witwenrente gemäß § 1268 Abs. 2 Satz 1 RVO Ar die noch streitigen Zeiten vom 1. Februar bis 31. Mai 1977 und vom 20. September 1977 bis 31. Juli 1979 nicht zu.
Die Klägerin kam sich nicht mehr mit Erfolg darauf berufen, daß die Beklagte die nach § 34 Abs. 1 SGB 1 in der vor dem 1. Januar 1981 gültigen Fassung (a.F.) vorgeschriebene Anhörung unterlassen hat. Diese Anhörung ist zwar nach der Rechtsprechung des Senats erforderlich (vgl. Urteil vom 28. Mai 1980 in SozR 1200 § 34 Nr. 11 und vom 26. Juni 1980 - 5 RJ 86/79 -). Die Klägerin hat aber im Berufungsverfahren rechtswirksam darauf verzichtet, ihre Rechte aus der unterlassenen Anhörung geltend zu machen.
Der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits im Urteil vom 31. Oktober 1978 (SozR 1200 § 34 Nr. 4) einen Verzicht auf die Geltendmachung des Anhörungsrechts unter Hinweis auf die von Stein/Jonas, Zivilprozeßordnung - ZPO - (19. Aufl. § 295 Anm. II 3a und Anm. III 1) bejahte Zulässigkeit in Betracht gezogen. Rechtliche Wirkungen des Verzichts auf die Befolgung des § 34 Abs. 1 SGB 1 a.F. können allerdings nicht unmittelbar aus § 295 ZPO i.V.m. § 202 SGG hergeleitet werden, weil diese Vorschriften nur das Verfahren vor Gericht betreffen. Die Anhörung i.S. des § 34 Abs. 1 SGB 1 a.F. (seit 1. Januar 1981 § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - SGB 10) gehört dagegen zum Verwaltungsverfahren. Indes zeigt die Regelung des § 295 ZPO, daß dem Prozeßrecht durchaus ein Verzicht auf verfahrensrechtliche Rechtspositionen geläufig ist. Es kann daher grundsätzlich auch im Verwaltungsverfahren als möglich angesehen werden, wie überhaupt im öffentlichen Recht einschließlich des materiellen Verwaltungsrechts keine Bedenken bestehen, einen Verzicht auf Rechte und Rechtsstellungen zuzulassen, wenn sie dem Bürger ausschließlich in seinem Interesse eingeräumt sind, der Verzicht gesetzlich nicht ausgeschlossen ist und ihm öffentliche Interessen nicht entgegenstehen (so BSGE 43, 41, 42).
Da gemäß § 46 Abs. 1 SGB 1 Ansprüche auf Sozialleistungen selbst verzichtbar sind, muß es den Versicherten umso mehr zugestanden werden, auf die Geltendmachung einer formalen Rechtsposition zu verzichten. Dies wird durch die ab 1. Januar 1981 in Kraft getretene Regelung in § 42 SGB 10 bestätigt. Danach ist zwar der Verfahrensfehler einer unterbliebenen Anhörung im gerichtlichen Verfahren nicht mehr heilbar. Aus Satz 2 der Vorschrift folgt jedoch, daß es - auch noch nach Klageerhebung - der Dispositionsbefugnis des Empfängers der Sozialleistung unterliegt, ob er darauf verzichten will, die unterlassene Anhörung geltend zu machen.
Die Verletzung der Pflicht zur Anhörung wiegt zwar so schwer, daß allein deswegen eine Aufhebung des - materiell-rechtlich zutreffenden - Verwaltungsaktes beansprucht werden kam. Neben dem mit § 34 Abs. 1 SGB 1 a.F., § 24 Abs. 1 SGB 10 bezweckten Schutz des Bürgers insbesondere vor Überraschungsentscheidungen liegen das Recht und die Pflicht zur Anhörung auch im Interesse des Gemeinwohls, weil durch die Anhörung das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Verwaltung gestärkt werden soll. Das öffentliche Interesse überwiegt hier aber nicht so, daß es vom Bürger verlangt werden könnte, allein wegen der Verletzung des Anhörungsrechts die Sozialleistung zu beanspruchen. In diesem Zusammenhang braucht nicht erörtert zu werden, ob der Anspruch auf das rechtliche Gehör im Prozeß verzichtbar ist (verneinend BSG in SozEntsch BSG 1/4 § 62 Nr. 9, bejahend BFH in NJW 68, 1111). Nur im Verfahren vor Gericht ist das rechtliche Gehör zum Grundrecht erhoben (Art 103 Abs. 1 Grundgesetz - GG -), nicht dagegen im Verwaltungsverfahren. Deshalb ist hier - entgegen der von der Klägerin vertretenen Meinung - auch nicht die Frage nach dem Grundrechtsverzicht zu stellen. Schließlich kann der Verzicht auf die Anhörung im Verwaltungsverfahren im Interesse des Versicherten liegen, wenn er damit eine möglichst baldige gerichtliche Klärung der materiellen Rechtslage herbeiführen will.
Allerdings ist bei einem derartigen Verzicht zu prüfen, ob der Verzichtende sich über die Tragweite seiner diesbezüglichen Erklärung klar ist und die damit verbundenen Rechtsfolgen tatsächlich erreichen wollte. Im Falle der Klägerin bietet der Sachverhalt insoweit jedoch keine Bedenken, weil die Klägerin rechtskundig vertreten war und die Verzichtserklärung von ihrem Prozeßbevollmächtigten abgegeben worden ist. In der dieser Erklärung vorausgegangenen entsprechenden Anfrage des Gerichts kam somit nicht die mit der Revision gerügte Verletzung des § 106 Abs. 1 SGG liegen.
In der Sache selbst hat das LSG festgestellt, daß die Klägerin während des Aufenthaltes ihres Sohnes bei seiner Großmutter in der Türkei keine wesentlichen erzieherischen Maßnahmen getroffen oder veranlaßt hat. Das Berufungsgericht ist dabei zutreffend von der Rechtsprechung des Senats ausgegangen, wonach der Erziehungsbegriff in § 1268 Abs. 2 RVO - unabhängig von einer räumlichen Trennung - i.S. einer faktischen Einwirkung zu interpretieren ist (vgl. Urteil vom 21. Februar 1980 - 5 U 58/78 - m.w.N.). Das LSG hat die genannte gesetzliche Bestimmung im Einklang mit dieser Rechtsprechung zutreffend ausgelegt und angewendet. Die Rüge der Klägerin, die angefochtene Entscheidung sei nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen worden (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG), kann keinen Erfolg haben. Das Berufungsgericht ist von den Angaben der Klägerin ausgegangen, hat sie also zur Kenntnis genommen und gewürdigt. Die dagegen gerichteten Angriffe in der Revisionsbegründung zeigen wohl, daß die Klägerin die Beweiswürdigung des LSG für falsch hält. Insoweit fehlt es aber an einer substantiierten Darlegung und damit an einer begründeten Rüge.
Ausgehend von den somit nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist die angefochtene Entscheidung nicht zu beanstanden. Da die Klägerin während des streitigen Zeitraumes nicht ein waisenrentenberechtigtes Kind erzogen hat, stand ihr die erhöhte Witwenrente nicht zu. Ihre unbegründete Revision mußte demzufolge zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen
BSGE, 167 |
Breith. 1983, 137 |