Entscheidungsstichwort (Thema)
Bemessung des Arbeitslosengeldes. Berücksichtigung der zuletzt kurzen Beschäftigung im Inland trotz Abrechnung des Arbeitsentgelts erst nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses. Nichtberücksichtigung des höheren Verdienstes der vorangegangenen Auslandsbeschäftigung. Europarechtskonformität. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei einer nur kurzen Beschäftigung im Inland im Anschluss an Zeiten einer Auslandsbeschäftigung ist nach den europarechtlichen Regelungen zur Bemessung der Arbeitslosenunterstützung das erzielte Entgelt zugrunde zu legen, selbst wenn es beim Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis noch nicht abgerechnet war und auch kein Zeitraum von 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt erreicht wird.
2. Es ist mit höherrangigem EU-Recht vereinbar, dass das koordinierende Sozialrecht bei der Bemessung der Arbeitslosenunterstützung ausschließlich an das zuletzt erzielte Entgelt einer Inlandsbeschäftigung anknüpft und ggf höhere Verdienste einer vorangegangenen Auslandsbeschäftigung außer Betracht bleiben.
Orientierungssatz
Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick darauf, dass vorliegend keine Arbeitslosenunterstützung nach den in der Schweiz zurückgelegten Zeiten erbracht werden konnte und dies - unbesehen deren möglicher Höhe - unmittelbare Folge des nur eingeschränkt möglichen Leistungsexports im Koordinierungsrecht der Arbeitslosenunterstützung ist, welches aber Beitragszeiten zur Sozialversicherung in anderen Mitgliedstaaten einbezieht. Verbindliches Unionsrecht und damit auch der Inhalt des EGFreizügAbk CHE können in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene nicht garantieren, dass die Verlagerung einer beruflichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit stets neutral ist (vgl BSG vom 12.12.2017 - B 11 AL 21/16 R = BSGE 125, 38 = SozR 4-6065 Art 65 Nr 1).
Normenkette
SGB III § 150 Abs. 1 S. 1, § 152 Abs. 1 S. 1; AEUV Art. 48 S. 1 Buchst. a; EGV 883/2004 Art. 62 Abs. 1-3; EGFreizügAbk CHE Art. 8; GG
Verfahrensgang
Tenor
Die Revisionen der Beklagten und des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. März 2017 werden zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch für das Revisionsverfahren ein Zehntel der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des Alg vom 25.11.2014 bis 30.6.2015.
Der 1956 geborene Kläger war vom 1.7.1990 bis 31.10.2014 bei einem Arbeitgeber in der Schweiz als Werkzeugvoreinsteller/Fräser tätig. Während dieser Zeit pendelte er täglich von seinem Wohnort in Deutschland zu seinem Arbeitsplatz. Als Arbeitseinkommen erzielte er im Jahre 2012 einen Betrag in Höhe von 80 645,45 CHF, im Jahre 2013 in Höhe von 72 800 CHF und vom 1.1.2014 bis 31.10.2014 in Höhe von 83 086,20 CHF. Die im Anschluss am 1.11.2014 in Deutschland begonnene Tätigkeit als Werkzeugvoreinsteller beendete der Arbeitgeber durch Kündigung am 10.11.2014 mit Wirkung zum 24.11.2014 und mit sofortiger Freistellung des Klägers von der Arbeitsleistung. Das Arbeitsentgelt für November 2014 in Höhe von 2232,77 Euro wurde am 11.12.2014 abgerechnet und ausgezahlt.
Die Beklagte bewilligte ab 25.11.2014 Alg in Höhe von täglich 29,48 Euro nach einem Bemessungsentgelt in Höhe von 73,73 Euro täglich. Hierbei ging sie davon aus, dass eine Bemessung nach deutschem Recht und - nach Maßgabe des § 152 SGB III - eine fiktive Bemessung nach der Qualifikationsgruppe 3 (Beschäftigungen, die eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf erforderten) erfolgen müsse (Bescheid vom 2.1.2015; Widerspruchsbescheid vom 16.1.2015).
Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 2.1.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.1.2015 verurteilt, Alg nach einem Bemessungsentgelt in Höhe von 93,03 Euro zu erbringen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Maßgebend für die Höhe des Alg sei allein das während der letzten Beschäftigung in Deutschland erzielte Entgelt. Das LSG hat die Berufungen der beiden Beteiligten zurückgewiesen. Es hat zugrunde gelegt, dass der Berechnung des Alg nach den Regelungen zur europäischen Sozialrechtskoordinierung in Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 allein das in der letzten Beschäftigung in Deutschland erzielte Entgelt, nicht jedoch dasjenige der Tätigkeit in der Schweiz zugrunde zu legen sei. Eine fiktive Bemessung sei nicht möglich, weil die nationalen Vorschriften zur Bestimmung des Bemessungsentgelts durch Art 62 VO (EG) 883/2004 überlagert würden. Nach dieser Vorschrift sei es ausreichend, wenn der Betroffene - wie vorliegend der Kläger - einen Anspruch auf Arbeitsentgelt gehabt habe und dieses Entgelt erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit zufließe. Ein Anspruch auf Alg unter Berücksichtigung des in der Schweiz erzielten Entgelts bestehe nicht.
Gegen dieses Urteil haben beide Beteiligte die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt. Die Beklagte rügt eine Verletzung von § 152 SGB III und von Art 62 VO (EG) 883/2004. Art 62 VO (EG) 883/2004 verdränge die Bemessung nach nationalem Recht nicht soweit, dass auch nicht abgerechnetes Arbeitsentgelt berücksichtigt werden könne. Da das Arbeitsentgelt vorliegend nach deutschem Recht gar nicht einbezogen werden könne, sei eine fiktive Bemessung möglich.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. März 2017 und des Sozialgerichts Konstanz vom 16. Januar 2016 abzuändern und die Klage abzuweisen und die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen sowie diese unter Änderung der Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. März 2017 und des Sozialgerichts Konstanz vom 19. Januar 2016 sowie unter Änderung des Bescheids vom 2. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2015 zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld vom 25. November 2014 bis 30. Juni 2015 unter Berücksichtigung des in der Schweiz erzielten Einkommens zu leisten.
Der Kläger rügt eine Verletzung von § 150 Abs 3 Nr 3 SGB III, von Art 62 VO (EG) 883/2004 sowie von Vorschriften des GG. Zwar unterliege eine erwerbstätige Person, die sich innerhalb der Europäischen Union in einen anderen Staat begebe, der Sozialversicherung nur eines Mitgliedstaats. Bei nur kurzer Beschäftigungsdauer führe die Beschränkung des Anspruchs auf inländische Bezugsgrößen aber zu sachlich nicht zu rechtfertigenden, mobile gegenüber immobilen Arbeitnehmern diskriminierenden Ergebnissen. Wegen seiner Beiträge zur schweizerischen Arbeitslosenversicherung werde er in seiner Eigentumsgarantie beeinträchtigt. Gegenüber Grenzgängern, die sich unmittelbar nach Ende ihrer Auslandsbeschäftigung arbeitslos gemeldet hätten und bei denen die ausländischen Arbeitsentgelte berücksichtigt würden, werde er in nicht gerechtfertigter Weise benachteiligt.
Mit Beschluss vom 23.10.2018 (B 11 AL 9/17 R) hat der Senat dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nach Art 267 Fragen zur Auslegung des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 vorgelegt. Der EuGH hat mit Urteil vom 23.1.2020 (C-29/19) für Recht erkannt, dass Art 62 Abs 1 und 2 VO (EG) 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, die zwar vorsehen, dass der Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit die Höhe des früheren Entgelts zugrunde zu legen ist. Die Vorschrift lässt es jedoch für den Fall, dass die Bezugsdauer des Entgelts, das der betreffenden Person im Rahmen ihrer letzten Beschäftigung nach diesen Rechtsvorschriften gezahlt wurde, geringer ist als der in diesen Rechtsvorschriften vorgesehene Bezugszeitraum für die Bestimmung des der Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit zugrunde liegenden Entgelts, nicht zu, das Entgelt zu berücksichtigen, das die betreffende Person während dieser Beschäftigung erhalten hat. Zur weiteren Vorlagefrage hat der EuGH entschieden, dass Art 62 Abs 1 und 2 der VO (EG) 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, die zwar vorsehen, dass der Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit die Höhe des früheren Entgelts zugrunde zu legen ist, es jedoch für den Fall, dass das Entgelt, das die betreffende Person für ihre letzte Beschäftigung nach diesen Rechtsvorschriften erhalten hat, erst nach dem Ausscheiden aus ihrem Beschäftigungsverhältnis abgerechnet und ausgezahlt wurde, nicht zulassen, das Entgelt zu berücksichtigen, das die betreffende Person während dieser Beschäftigung erhalten hat.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Revisionen der Beklagten und des Klägers, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 124 Abs 2 SGG, § 153 Abs 1, § 165 SGG), sind nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat deren Berufungen gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. In dem streitigen Zeitraum vom 25.11.2014 bis 30.6.2015 hat der Kläger Anspruch auf Alg nach einem Bemessungsentgelt in Höhe von 93,03 Euro, nicht jedoch auf höheres Alg.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist - neben den vorinstanzlichen Entscheidungen - der Bescheid vom 2.1.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.1.2015. Einbezogen in das Verfahren nach § 96 Abs 1 SGG ist weiter der Bescheid vom 5.6.2015, mit dem die Bewilligung von Alg ab 1.7.2015 wegen der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung durch den Kläger aufgehoben worden ist (vgl zur Einbeziehung von Aufhebungsbescheiden BSG vom 21.6.2018 - B 11 AL 8/17 R - SozR 4-4300 § 150 Nr 4 RdNr 10). Gegen die höhenmäßige Begrenzung des Alg wendet sich der Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG), die auch ohne exakte Bezifferung der Höhe der begehrten Leistungen zulässig ist (vgl BSG vom 11.3.2014 - B 11 AL 10/13 R - SozR 4-4300 § 133 Nr 6 RdNr 14). Zwar enthält der Tenor des Urteils des SG mit dem ausgewiesenen Bemessungsentgelt in Höhe von 93,03 Euro lediglich ein Berechnungselement für höhere Leistungen und weist die (korrigierte) Gesamthöhe des Alg nicht aus. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ist die sich unter Berücksichtigung des Arbeitseinkommens in der Schweiz ergebende Leistungshöhe indes berechenbar.
2. Von Amts wegen zu beachtende Verfahrenshindernisse, die einer Sachentscheidung des Senats entgegenstehen, liegen nicht vor. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG war gemäß § 143 SGG, § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes - worauf die Beklagte hingewiesen hat - für den streitigen Zeitraum einen Betrag in Höhe von 1315,44 Euro erreicht. Auch die gleichfalls fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG, mit der er eine über die Zurückweisung durch das LSG hinausgehende Verurteilung der Beklagten zu seinen Gunsten erstrebt hat, war ausgehend von dem in der Schweiz deutlich höheren Arbeitsentgelt statthaft.
3. Im Ergebnis hat der Kläger einen Anspruch auf Alg unter Berücksichtigung des Arbeitsentgelts, das er in der Zeit vom 1.11.2014 bis 24.11.2014 während seiner Beschäftigung in Deutschland iS des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 nach seinem Ausscheiden aus diesem Arbeitsverhältnis erhalten hat.
a) Die Anspruchsvoraussetzungen für Alg, ohne deren Vorliegen auch eine Klage auf höhere Leistungen keinen Erfolg haben kann (stRspr; vgl nur BSG vom 9.12.2004 - B 7 AL 24/04 R - BSGE 94, 109 = SozR 4-4220 § 3 Nr 1, RdNr 12), liegen nach dem Gesamtzusammenhang der für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) vor. Der Kläger hat sich mit Wirkung zum 25.11.2014 persönlich arbeitslos gemeldet (§ 137 Abs 1 Nr 2 SGB III iVm § 141 SGB III: sämtliche Vorschriften jeweils in den ab 1.4.2012 geltenden Normfassungen des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011, BGBl I 2854) und war auch arbeitslos (§ 137 Abs 1 Nr 1 SGB III, § 138 Abs 1 SGB III). Unter Berücksichtigung der nach schweizerischen Rechtsvorschriften vom 1.7.1990 bis 31.10.2014 zurückgelegten Beitragszeiten hatte er auch die Anwartschaftszeit erfüllt, weil er innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren beginnend mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg, dh im Zeitraum vom 25.11.2012 bis 24.11.2014, mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (vgl § 142 Abs 1 SGB III, § 143 Abs 1 SGB III).
Die Berücksichtigung der Regelungen der VO (EG) 883/2004 und damit auch derjenigen des Art 61 Abs 1 VO (EG) 883/2004 zur Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit bei Sachverhalten in mehreren Mitgliedstaaten durch den zuständigen Wohnsitzmitgliedstaat, also Deutschland, folgt aus dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl 2002, L 114 S 6, im Folgenden: FZA), das am 21.6.1999 in Luxemburg unterzeichnet und durch Gesetz vom 2.9.2001 (BGBl II 2001, 810) ratifiziert wurde. Es ist insoweit am 1.6.2002 in Kraft getreten (BGBl II 2002, 1692). Zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit, insbesondere zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften und zur Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten haben, verweist Art 8 FZA auf den Anhang II dieses Abkommens in der Fassung durch den Beschluss Nr 1/2012 des im Rahmen des FZA eingesetzten Gemischten Ausschusses vom 31.3.2012 (ABl 2012, L 103 S 51) und damit die Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004(vgl EuGH vom 21.3.2018 - C-551/16 ≪Klein-Schiphorst≫ juris RdNr 28; EuGH vom 23.1.2020 - C-29/19 - NZA 2020, 371 ff, juris RdNr 23).
b) Zur Höhe des Alg des kinderlosen Klägers bestimmt § 149 Abs 1 Nr 2 SGB III, dass das Alg 60 Prozent des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt) beträgt, das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Gemäß § 150 Abs 1 Satz 1 SGB III umfasst der Bemessungszeitraum die beim Ausscheiden aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Nach Maßgabe von § 150 Abs 2 2. Halbsatz SGB III bleiben bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums bestimmte Zeiten außer Betracht. Der Bemessungsrahmen umfasst ein Jahr; er endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs (§ 150 Abs 1 Satz 2 2. Halbsatz SGB III). Der Bemessungsrahmen wird auf zwei Jahre erweitert, wenn der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält (§ 150 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB III) oder wenn es mit Rücksicht auf das Bemessungsentgelt im erweiterten Bemessungsrahmen unbillig hart wäre, von dem Bemessungsentgelt im Bemessungszeitraum auszugehen, wenn die oder der Arbeitslose dies verlangt und die zur Bemessung erforderlichen Unterlagen vorlegt (§ 150 Abs 3 Satz 1 Nr 3, Satz 2 SGB III). Kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden, ist als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen (§ 152 Abs 1 Satz 1 SGB III).
Nach diesen nationalen Regelungen wäre auf eine fiktive Bemessung zurückzugreifen, weil ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungszeitraums nicht festgestellt werden kann und das Entgelt aus der Tätigkeit in Deutschland der Bemessung nach nationalem Recht zudem deshalb nicht zugrunde gelegt werden kann, weil es - anders als dies § 150 Abs 1 Satz 1 SGB III verlangt (vgl nur BSG vom 6.3.2013 - B 11 AL 12/12 R - BSGE 113, 100 = SozR 4-4300 § 132 Nr 9, RdNr 20) - nicht bereits mit dem Ausscheiden des Klägers abgerechnet war.
c) Einer Berechnung des Alg unter Heranziehung eines fiktiven Entgelts nach § 152 SGB III steht jedoch Art 62 VO (EG) 883/2004 entgegen. Aufgrund der nach dem Urteil des EuGH nunmehr in mehrfacher Hinsicht nur modifiziert anwendbaren Berechnungsvorschriften des SGB III legt der Senat der Bemessung des Alg allein das für den Zeitraum vom 1.11.2014 bis 24.11.2014 geleistete sowie nachträglich abgerechnete und zugeflossene Arbeitsentgelt zugrunde (vgl zum Rückgriff auf das Entgelt der letzten Beschäftigung bei einem Bemessungszeitraum von weniger als 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt bereits BSG vom 17.3.2015 - B 11 AL 12/14 R - SozR 4-4300 § 131 Nr 6).
Nach Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften bei der Berechnung der Leistungen die Höhe des früheren Entgelts oder Erwerbseinkommens zugrunde zu legen ist, hier also die Beklagte, ausschließlich das Entgelt oder Erwerbseinkommen, das die betreffende Person während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach diesen Rechtsvorschriften erhalten hat. Nach Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 findet Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 auch Anwendung, wenn nach den für den zuständigen Träger geltenden Rechtsvorschriften ein bestimmter Bezugszeitraum für die Ermittlung des als Berechnungsgrundlage für die Leistungen heranzuziehenden Entgelts vorgesehen ist und die betreffende Person während dieses Zeitraums oder eines Teils davon den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterlag.
Im Einzelnen hat der EuGH ausgeführt, dass unbesehen der Voraussetzungen des "abgerechneten Arbeitsentgelts" und eines Bemessungszeitraums von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt im nationalen Recht eine fiktive Bemessung nicht möglich sei. Art 62 Abs 1 und 2 VO (EG) 883/2004 stehe einer Anwendung dieser Rechtsnormen unabhängig von den Besonderheiten des nationalen Rechts ausnahmslos entgegen (EuGH vom 23.1.2020 - C-29/19 - NZA 2020, 371 f, juris RdNr 28f). Für die vorliegende Konstellation einer Beschäftigung im Wohnsitzmitgliedstaat von weniger als vier Wochen habe die vormalige Regelung zur Sozialrechtskoordinierung in Art 68 Abs 1 Satz 2 VO (EWG) 1408/71 eine Regelung zur Berechnung der Arbeitslosenunterstützung enthalten, wonach dasjenige Entgelt zugrunde zu legen sei, das am Wohnort oder Aufenthaltsort des Arbeitslosen für eine Beschäftigung üblich sei, die der Beschäftigung, die er zuletzt im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausgeübt habe, gleichwertig oder vergleichbar sei. Diese Regelung sei jedoch nicht in Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 übernommen worden (EuGH aaO RdNr 28). Für Regelungen von Mitgliedstaaten, in denen ein Bezugszeitraum für die Ermittlung des als Berechnungsgrundlage heranzuziehenden Entgelts vorgesehen sei und festgelegt werde, folge aus Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004, dass dieser Bezugszeitraum sowohl die nach diesen Rechtsvorschriften als auch die nach den Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten zurückgelegten Beschäftigungszeiten umfasse (EuGH aaO RdNr 29). Diese Auslegung stehe im Einklang mit den Zielen der Verordnung und deren Zweck. Ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats dürfe in seinem Herkunftsstaat nicht allein deshalb einen Nachteil erleiden, weil er sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt habe (EuGH aaO RdNr 34). Das Erfordernis des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 stelle daher nicht nur eine Grundregel dar, neben der eine nach nationalen Rechtsvorschriften mögliche fiktive Bemessung stattfinden könne. Gleichfalls unter Berücksichtigung des Wortlauts des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 und des Zwecks der Vorschrift, die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu garantieren, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 die Berücksichtigung des Entgelts für die letzte Beschäftigung davon abhängig mache, dass das Entgelt spätestens am letzten Tag der Ausübung dieser Beschäftigung abgerechnet und ausgezahlt worden sei.
4. Auch die Revision des Klägers ist nicht begründet.
a) Aus der für Grenzgänger geltenden Regelung des Art 62 Abs 3 VO (EG) 883/2004 ergibt sich kein höheres Alg. Hiernach berücksichtigt der Träger des Wohnortes - abweichend von Art 62 Abs 1 und 2 VO (EG) 883/2004 - im Fall von Arbeitslosen, auf die Art 65 Abs 5 Buchst a) VO (EG) 883/2004 anzuwenden ist (sog Grenzgänger), nach Maßgabe der DurchführungsVO (EG) 987/2009 das Entgelt oder Erwerbseinkommen, das die betreffende Person in dem Mitgliedstaat erhalten hat, dessen Rechtsvorschriften für sie während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit galten. Unter diesen Personenkreis fällt der Kläger nicht, weil er die Eigenschaft eines Grenzgängers mit Aufnahme der Beschäftigung im Inland verloren hat und damit der Wohnsitzmitglied- und Beschäftigungsstaat zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitslosigkeit nicht mehr auseinander fielen (vgl zuletzt BSG vom 12.12.2017 - B 11 AL 21/16 R - BSGE 125, 38 ff = SozR 4-6065 Art 65 Nr 1, RdNr 16 mwN). Da auch das im Zeitpunkt des Ausscheidens noch nicht abgerechnete Entgelt nach der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 einzubeziehen ist (vgl EuGH vom 23.1.2020 - C-29/19 - NZA 2020, 371 ff, juris RdNr 46), kommt schon aus diesem Grund auch eine entsprechende Anwendung des Art 62 Abs 3 VO (EG) 883/2004 nicht in Betracht. Das von dem Kläger zur Begründung seiner Revision herangezogene Urteil des EuGH vom 28.2.1980 (Rs Fellinger - C-67/79 - SozR 6050 Art 68 Nr 1) ist vorliegend nicht relevant, weil es allein die besonderen Regelungen für Grenzgänger betrifft.
b) Die Anknüpfung der Berechnung des Alg nach Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 ausschließlich an das letzte Entgelt im zuständigen Wohnsitzmitgliedstaat sowie die Anwendbarkeit des Art 62 Abs 3 VO (EG) 883/2004 ausschließlich auf Grenzgänger sind entgegen der Auffassung des Klägers auch mit höherrangigem EU-Recht vereinbar.
Art 48 Satz 1 Buchst a AEUV zur Sicherstellung der Ansprüche und Leistungen auf dem Gebiet der Sozialen Sicherheit bestimmt, dass eine Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen erfolgen soll. Eine "Zusammenrechnung" auch bei der Berechnung der Arbeitslosenunterstützung findet dadurch statt, dass bei dem Berechnungsfaktor des "Bezugszeitraums" die entsprechenden Tätigkeitszeiten im vormaligen Beschäftigungsstaat einfließen, also unterstellt wird, dass das in einem ggf nur kurzem Beschäftigungsverhältnis im letzten Mitgliedstaat erzielte Entgelt in entsprechender Höhe während des gesamten Bemessungszeitraums erreicht wurde. Entgegen der Ansicht des Klägers fließen insofern auch die Beitragszeiten zur schweizerischen Arbeitslosenversicherung ein. Zwar kann die ausnahmslose Heranziehung des letzten Entgelts einer Beschäftigung im Wohnsitzmitgliedstaat in Fallgestaltungen zu ungünstigen Ergebnissen führen, in denen der Betroffene - wie vorliegend - zuvor in einem anderen EU-Land wesentlich mehr verdient hat als im danach zuständigen Mitgliedstaat (vgl zur Kritik an der Regelung nur Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl 2018, Art 62 RdNr 2). Je nach Verdienstmöglichkeiten im Beschäftigungs- und Wohnsitzmitgliedstaat sind aber auch gegenteilige Ergebnisse möglich.
Insofern bewegt sich die Regelung des Art 62 VO (EG) Nr 883/2004 im weiten Ermessensspielraum des Unionsgesetzgebers bei der Ausgestaltung des Freizügigkeitsrechts (vgl allg EuGH vom 31.5.2001 - C-43/99 ≪Leclere und Deaconescu≫ Slg 2001, I 4265, juris 29). Es ist legitimes Interesse der Mitgliedstaaten, die Höhe der Leistungen bei Arbeitslosigkeit orientiert an den erzielten Entgelten im jeweiligen Mitgliedstaat festzusetzen. Zudem kann sich die Regelung des Art 62 VO (EG) 883/2004 auf Gesichtspunkte der Praktikabilität stützen, weil der Verwaltungsaufwand im Verhältnis zu einer dem Zweck nach begrenzten Dauer der Leistungen bei Arbeitslosigkeit gering gehalten werden soll (so auch Felten in Spiegel, Kommentar zum zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrecht, 6. Aufl 2019, Art 62 RdNr 1; Wehrhahn in Eicher/Schlegel, SGB III, VO (EG) 883/2004 Art 62 RdNr 8, Stand August 2017; Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, K Art 62 VO (EG) 883/2004 RdNr 2, Stand Juli 2015; Husmann SGb 1998, 291, 292; Waltermann in Oetker/Preis, EAS, Stand Februar 2006, RdNr 25; Greiser/Kador, ZfSH/SGb 2011, 507 ff, 509 f). Mit seiner Entscheidung vom 23.1.2020 (C-29/19 - NZA 2020, 371) hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass die alleinige Anknüpfung an das ggf nur in einem kurzen Zeitraum zuletzt erzielte Entgelt im Herkunftsland bzw Wohnsitzmitgliedstaat das durch das FZA garantierte Recht auf Freizügigkeit gewährleistet. Zudem hat er betont, dass speziell die Leistungen bei Arbeitslosigkeit darauf abzielten, die Mobilität der Arbeitslosen zu erleichtern, indem sichergestellt werde, dass die Betroffenen Leistungen erhielten, bei denen soweit wie möglich den Beschäftigungsbedingungen und insbesondere dem Entgelt Rechnung getragen werde, das sie nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats ihrer letzten Beschäftigung erzielt hätten (EuGH aaO RdNr 35). Vor diesem Hintergrund kann die Ausgestaltung des Art 62 VO (EG) 883/2004, obgleich es sich nicht lediglich um eine Maßnahme zur Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Arbeitslosenunterstützung, sondern zugleich um eine Ausnahmeregelung zum innerstaatlichen Recht handelt, nicht als eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit angesehen werden. Unterschiede ergeben sich aus der fehlenden Harmonisierung des einschlägigen Unionsrechts (vgl EuGH vom 11.4.2013 - C-443/11 ≪Jeltes≫, juris RdNr 43 ff).
c) Soweit der Kläger einwendet, er werde durch die Regelungen der VO (EG) 883/2004 in seinen durch das GG verbürgten Rechten (Verweis auf Art 1 Abs 1 Satz 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip nach Art 20 Abs 3 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 14 Abs 1 Satz 1 GG, Art 28 Abs 1 Satz 1 GG) verletzt, ist zunächst darauf zu verweisen, dass die Beitragszeiten nach dem SGB III uneingeschränkt berücksichtigt wurden. Sein Hinweis, die Beiträge zur schweizerischen Arbeitslosenversicherung müssten erhöhend einfließen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Umstand, dass vorliegend keine Arbeitslosenunterstützung nach den in der Schweiz zurückgelegten Zeiten erbracht werden konnte, ist - unbesehen deren möglicher Höhe - unmittelbare Folge des nur eingeschränkt möglichen Leistungsexports im Koordinierungsrecht der Arbeitslosenunterstützung (kritisch hierzu Eichenhofer, ZESAR 2020, 77 ff, 79), das aber Beitragszeiten zur Sozialversicherung in anderen Mitgliedstaaten einbezieht. Wie der Senat mit Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des EuGH betont hat, können verbindliches Unionsrecht und damit auch der Inhalt des FZA in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene nicht garantieren, dass die Verlagerung einer beruflichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der Sozialen Sicherheit stets neutral ist (vgl ausführlich hierzu Senatsurteil vom 12.12.2017 - B 11 AL 21/16 R - BSGE 125, 38 ff = SozR 4-6065 Art 65 Nr 1, RdNr 20).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 14297501 |
NZS 2021, 412 |
info-also 2021, 188 |