Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosenhilfe. Vermögen. Lebensversicherung. Verwertbarkeit. Zeitpunkt. Zumutbarkeit der Verwertung. Lebensgrundlage. Alterssicherung. Angemessenheit. Zweckbestimmung. Unbilligkeit der Vermögens Verwertung. Herkunft des Vermögens. offensichtliche Unwirtschaftlichkeit
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der zumutbaren Verwertung einer Lebensversicherung (hier: mit Rückkaufwert in Höhe von rund 26.000 DM).
Normenkette
AFG § 134 Abs. 1 S. 1, § 137 Abs. 2-3; AlhiV § 6 Abs. 1, 3 Sätze 1, 2 Nr. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. November 1995 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 29. Oktober bis 29. November 1993 sowie vom 27. Januar bis 31. März 1994.
Er wurde 1952 geboren, ist von Beruf Schlosser und hat zwei in Ausbildung befindliche Kinder (1995: 21 und 14 Jahre alt), deren Mütter verstorben sind. Bis zum 19. Februar 1993 war er als Heizungsmonteur beschäftigt. Ab 1. März 1993 erhielt er für 208 Wochentage Arbeitslosengeld (Alg). Zum 29. Oktober 1993 beantragte er – unter Hinweis auf sein Rückenleiden (Bandscheibenverschleiß), eine bevorstehende medizinische Maßnahme zur Rehabilitation (30. November 1993 bis 26. Januar 1994) sowie das Vorhandensein einer Lebensversicherung – Anschluß-Alhi. Die (dynamisierte) Lebensversicherung, bei der es sich nicht um eine Lebensversicherung im Rahmen des Vermögensbildungsgesetzes handelte, hatte er am 1. Mai 1975 mit einer Laufzeit von 30 Jahren (beginnend mit einer Versicherungssumme von 10.000,– DM) abgeschlossen. Das Deckungskapital belief sich zum 1. November 1993 auf 17.081,70 DM, der Rückkaufswert zum selben Tag auf 26.264,85 DM (einschließlich von Gewinnanteilen in Höhe von 9.183,15 DM). Die Beklagte bewilligte Alhi ab 1. April 1994. Später (ab 4. Oktober 1995) nahm der Kläger eine (vom Rentenversicherungsträger geförderte) Umschulungsmaßnahme zum Bürokaufmann auf. Die vom Kläger für die Zeit vom 29. Oktober bis 29. November 1993 sowie (im Anschluß an die vom 30. November 1993 bis 26. Januar 1994 tatsächlich durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme) ab 27. Januar 1994 begehrte Alhi-Gewährung lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Rückkaufswert der Lebensversicherung (26.264,85 DM) übersteige die Summe der Beiträge (17.081,70 DM) um mehr als 10 vH; der Kläger müsse sich unter Berücksichtigung der Freigrenze (8.000,– DM) einen Vermögensbetrag von 18.264,85 DM anrechnen lassen; das führe unter Berücksichtigung des Bemessungsentgelts (810,– DM) zum Wegfall des Alhi-Anspruchs für 22 Wochen (18.264,85 DM: 810 = 22,54 DM), mithin für die Zeit vom 29. Oktober 1993 bis 31. März 1994 (Bescheid vom 28. Februar 1994; Widerspruchsbescheid vom 20. April 1994). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 29. Oktober bis 29. November 1993 und ab 27. Januar 1994 Alhi nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ohne Berücksichtigung seiner Lebensversicherung zu bewilligen (Urteil vom 21. März 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (Urteil vom 17. November 1995).
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Verwertung des Rückkaufswerts der Lebensversicherung nicht offensichtlich unwirtschaftlich sei. Denn sie könne unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Klägers und seiner Kinder billigerweise nicht erwartet werden. Die Lebensversicherung diene insbesondere der Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage und Alterssicherung (§ 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Arbeitslosenhilfe-Verordnung ≪AlhiV≫). Im Fall des Todes des Klägers diene sie (mit derzeit 49.512,00 DM) der Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage der beiden noch in Ausbildung befindlichen Kinder. Im Überlebensfall werde sie im 53. Lebensjahr des Klägers fällig. Unter diesem Aspekt handele es sich um eine angemessene Vorsorge für den Kläger selbst, wobei offenbleiben könne, ob sie zur Sicherung der Lebenshaltung oder zur Alterssicherung bestimmt sei. Der Kläger, der mit 43 Jahren seinen Beruf als Schlosser bzw Heizungsmonteur (aus gesundheitlichen Gründen) aufgegeben und eine Umschulung zum Bürokaufmann begonnen habe, müsse angesichts der allgemein bekannten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt damit rechnen, bereits geraume Zeit vor Erreichen des Rentenalters seinen Lebensunterhalt nicht mehr durch Erwerbstätigkeit bestreiten zu können. Im übrigen sei es widersinnig, Beiträge zu einer privaten Lebensversicherung vom anrechenbaren Einkommen abzusetzen, die Verwertung des Rückkaufswerts der Versicherung jedoch zuzumuten.
Die Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung von § 137 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) iVm § 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AlhiV und der §§ 130, 136 Abs. 1 Nr. 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Lebensversicherung des Klägers sei nicht zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung bestimmt; denn das Ende des Vertrages liege deutlich vor dem Eintritt in das Rentenalter. Die Berufsausbildung der Kinder werde nicht durch Vorschriften über die Alhi, sondern durch anderweitige Sozialleistungen sichergestellt. Das Argument der Sicherung einer angemessenen Lebenshaltung greife nicht, weil eine berufliche Wiedereingliederung des Klägers nach Beendigung der am 4. Oktober 1995 aufgenommenen Bildungsmaßnahme nicht ausgeschlossen und auch die Gefahr dauernder Sozialhilfebedürftigkeit nicht gegeben sei. Schließlich sei das Urteil des LSG in formeller Hinsicht zu beanstanden. Es beinhalte zu den einzelnen Voraussetzungen des Alhi-Anspruchs – abgesehen von der Frage der Bedürftigkeit – keinerlei Ausführungen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das zweitinstanzliche Urteil für zutreffend und erwidert, die Absicherung des Todesfallrisikos erscheine mit Blick auf den Ausbildungsbedarf der Kinder als schutzwürdig. Private Vorsorge sei insbesondere für den Fall vorzeitiger Invalidität unverzichtbar. Die Einschätzung der Beklagten zur beruflichen Wiedereingliederung des Klägers vermöge angesichts der Arbeitsmarktsituation nicht zu überzeugen. Die vorzeitige Verwertung der Lebensversicherung könne unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Klägers und seiner Kinder billigerweise nicht erwartet werden. Überdies sei die Verwertung, da mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen verbunden, offensichtlich unwirtschaftlich.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist iS der Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen nicht beurteilen, ob dem Kläger ein Anspruch auf Alhi für die Zeit vom 29. Oktober bis 29. November 1993 sowie vom 27. Januar bis 31. März 1994 zusteht.
Nach § 134 Abs. 1 Satz 1 AFG (idF des Siebten Gesetzes zur Änderung des AFG ≪7. AFG-ÄndG≫ vom 20. Dezember 1985 – BGBl I 2484) hat Anspruch auf Alhi, wer (1.) arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alhi beantragt hat, (2.) keinen Anspruch auf Alg hat, weil er die Anwartschaftszeit (§ 104 AFG) nicht erfüllt hat, (3.) bedürftig ist und (4.) innerhalb eines Jahres vor dem Tag, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alhi erfüllt sind (Vorfrist), Alg bezogen hat, ohne daß der Anspruch nach § 119 Abs. 3 AFG erloschen ist (Buchst. a).
Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das dem Klagebegehren stattgebende Urteil des SG mit der Begründung zurückgewiesen, der Kläger sei im umstrittenen Zeitraum bedürftig gewesen; die Verwertung des Rückkaufswerts der Lebensversicherung könne unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Klägers und seiner Kinder billigerweise nicht erwartet werden; die Lebensversicherung diene insbesondere einer angemessenen Lebensgrundlage und Alterssicherung (§ 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AlhiV). Diese Begründung trägt das Gesamtergebnis nicht. Unterstellt man nämlich, Bedürftigkeit wäre zu bejahen, hätte nicht ungeprüft bleiben dürfen, ob die übrigen Voraussetzungen für einen Alhi-Anspruch – insbesondere Arbeitslosigkeit und Verfügbarkeit (§ 134 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG) – im umstrittenen Zeitraum (durchgehend) verwirklicht warm. Daß dies der Fall ist, ist nicht selbstverständlich. Zwar bewilligte die Beklagte dem Kläger Alhi ab 1. April 1994. Indes gestattet diese Leistungsbewilligung keine Rückschlüsse auf das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen für vorangehende Zeiträume (BSGE 72, 248, 252 = SozR 3-4100 § 137 Nr. 4; BSG, Urteil vom 19. Juni 1996 – 7 RAr 116/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Offenbleiben kann das Vorliegen der Voraussetzungen des § 134 Abs. 1 Satz 1 Nrn 1, 2 und 4 Buchst. a AFG nur, wenn Bedürftigkeit für den umstrittenen Zeitraum (durchgehend) zu verneinen ist (so zB BSG, Urteil vom 21. März 1996 – 11 RAr 95/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Vorliegend ist diese Schlußfolgerung aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht gerechtfertigt. Das LSG wird zur Frage der Bedürftigkeit (§ 134 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AFG) vielmehr noch weitere Tatsachenfeststellungen zu treffen haben.
Ausgangspunkt dieser Prüfung ist, wie vom LSG richtig gesehen, die Vorschrift des § 137 Abs. 2 AFG (idF des 5. AFG-ÄndG vom 23. Juli 1979 – BGBl I 1189). Danach ist der Arbeitslose ua nicht bedürftig iS des § 134 Abs. 1 Nr. 3 AFG, solange mit Rücksicht auf sein Vermögen die Gewährung von Alhi offenbar nicht gerechtfertigt ist. Unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist, ergibt sich des näheren aus den §§ 6 ff AlhiV (vom 7. August 1974 – BGBl I 1929 – idF des Gesetzes vom 18. Dezember 1992 – BGBl I 2044), die ihrerseits ua auf § 137 Abs. 3 AFG fußt. Danach ist Vermögen des Arbeitslosen zu berücksichtigen, soweit es verwertbar und die Verwertung – nach Abzug eines Freibetrages von 8.000,– DM – zumutbar ist (§ 6 Abs. 1 AlhiV).
Hier war die Lebensversicherung des Klägers nach den unangegriffenen und deshalb für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) jedenfalls zum 1. November 1993 verwertbar, nämlich verbrauchbar, ggf auch belastbar (§ 6 Abs. 2 AlhiV). Ihr Rückkaufswert belief sich an diesem Tag (bei einem Deckungskapital von 17.081,70 DM) auf 26.264,85 DM (einschließlich Gewinnanteilen in Höhe von 9.183,15 DM). Die Verwertbarkeit war nicht etwa gemäß § 7 Abs. 2 AlhiV ausgeschlossen; denn die Lebensversicherung rührte nicht aus einer prämien- oder zulagebegünstigten Anlage iS dieser Vorschrift her. Ob sie allerdings schon am 29. Oktober 1993, dem für die Bewertung maßgebenden Zeitpunkt (§ 8 Satz 2 AlhiV), verwertbar war, wird ggf noch zu ermitteln sein.
Damit stellt sich die Frage der Zumutbarkeit der Verwertung. Sie mißt sich an § 6 Abs. 3 AlhiV. Nach Satz 1 dieser Bestimmung ist die Verwertung von Vermögen zumutbar, wenn sie nicht offensichtlich unwirtschaftlich ist und wenn sie unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Inhabers des Vermögens und seiner Angehörigen billigerweise erwartet werden kann. Satz 2 derselben Vorschrift zählt mehrere Beispiele auf, bei deren Vorliegen insbesondere von Unzumutbarkeit der Vermögensverwertung auszugehen ist. Dazu gehört, soweit hier von Belang, die Verwertung von Vermögen, das zum Aufbau oder zur Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage oder zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung bestimmt ist (Nr. 3 Varianten 2 und 3).
Im Unterschied zu Vermögen, das nach dem Auffangtatbestand des § 6 Abs. 3 Satz 1 AlhiV unter dem Gesichtspunkt einer angemessenen „Lebenshaltung” des Inhabers des Vermögens und seiner Angehörigen geschützt sein kann, ist das Vermögen, das zum Aufbau oder zur Sicherung einer angemessenen „Lebensgrundlage” bestimmt ist (§ 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Variante 2 AlhiV), von der Verwertung ausgeschlossen, wenn es zweckbestimmt dem Aufbau oder der Sicherung iS einer angemessenen (finanziellen) Erwerbsquelle dient. Diese Zweckbestimmung, die vom Verordnungsgeber nicht zufällig zwischen die einer alsbaldigen Berufsausbildung und die einer angemessenen Alterssicherung eingereiht worden ist, bildet gleichsam das Fundament für eine darauf aufbauende angemessene Lebenshaltung (§ 6 Abs. 3 Satz 1 AlhiV). Diese Unterscheidungen sind nach Auffassung des Senats für eine Subsumtion unter § 6 Abs. 3 AlhiV nicht ohne Bedeutung.
Unter welchen Voraussetzungen die Zweckbestimmung „Aufbau oder Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage” (§ 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Variante 2 AlhiV) zu bejahen ist, läßt sich – wie meist im Rahmen einer Härteklausel – nicht abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles sowie von Sinn und Zweck der Alhi-Bestimmungen beantworten (ebenso: BSG, Urteil vom 21. März 1996 – 11 RAr 95/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Ausgangspunkt der Prüfung hat dabei die vom Arbeitslosen (subjektiv) getroffene Zweckbestimmung zu sein, die durch seine Befragung zu diesem Punkt im einzelnen festzustellen ist. Im Anschluß daran ist zu prüfen, ob diese subjektive Zweckbestimmung mit den – ebenfalls festzustellenden – objektiven Begleitumständen (zB Vertragsgestaltung, Alter des Versicherten, Familienverhältnisse) in Einklang steht. Denn nur dann ist die Zweckbestimmung „glaubhaft”. Schließlich muß die Zweckbestimmung „angemessen” sein, wodurch ausgeschlossen wird, daß eine unverhältnismäßige Zweckbestimmung zum Tragen kommt.
Zur Zweckbestimmung „Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung” (§ 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Variante 3 AlhiV) gelten entsprechende Überlegungen. Ausgangspunkt der unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Alhi-Gewährung vorzunehmenden Einzelfallprüfung ist auch hier die vom Arbeitslosen angegebene Zweckbestimmung, die ihrerseits anhand objektiver Kriterien nachvollziehbar sein muß. Insoweit kann als ein Indiz zu werten sein, daß das Vertragsende einer Lebensversicherung in etwa mit dem möglichen Eintritt in das Rentenalter (§§ 35 ff Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung) zusammentrifft; nicht Voraussetzung ist, wie vom Senat bereits angedeutet, eine besondere, vor Eintritt des Ruhestandes nur unter erschwerten Voraussetzungen und Verlusten kündbare Anlageform; denn eine Anknüpfung an rein formale Aspekte ließe für Zumutbarkeitsgesichtspunkte so gut wie keinen Raum (BSG, Urteil vom 19. Juni 1996 – 7 RAr 116/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Umgekehrt ist bei einer Lebensversicherung, die auf einen Zeitpunkt abgeschlossen worden ist, der deutlich vor dem Eintritt in das Rentenalter liegt, anders als die Beklagte meint, nicht zwangsläufig davon auszugehen, daß sie nicht der Alterssicherung, sondern der Kapitalbildung dient; denn eine als Ergänzung zur gesetzlichen Rentenversicherung geplante Alterssicherung, die von politischer Seite zunehmend anempfohlen wird, läßt sich sinnvoll (zB unter Nutzbarmachung steuerrechtlicher Regelungen) durchaus in mehreren Schritten hintereinander realisieren. Maßgebend hat mithin auch hier die mit den objektiven Gegebenheiten übereinstimmende Zweckbestimmung des Arbeitslosen zu sein. Kann die Zweckbestimmung als glaubhaft angesehen werden, stellt sich wiederum die Frage der Angemessenheit.
Vorliegend ist die Schlußfolgerung des LSG, die Lebensversicherung des Klägers diene insbesondere zur Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage und zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung, durch die bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht gedeckt. Abgesehen davon, daß beide Zweckbestimmungen möglicherweise in einem Hilfsverhältnis (angemessene Lebensgrundlage, hilfsweise angemessene Alterssicherung oder umgekehrt), nicht aber in einem kumulativen Verhältnis zueinander stehen können, mangelt es an jeglichen Tatsachenfeststellungen zur subjektiven Zweckbestimmung durch den Kläger. Weder hat das LSG den Kläger hierzu selbst befragt, noch hat es sich die vom Kläger vor dem SG abgegebenen Erklärung zu eigen gemacht, in der es heißt: „Es ist meine Absicht, die Lebensversicherung bis zur Fälligkeit zu bedienen und dann für meine Absicherung gegen eine eventuelle Berufsunfähigkeit einzusetzen. Für den Fall, daß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht berufsunfähig bin, beabsichtige ich, sie günstig anzulegen, um eine Rücklage zu haben”. Zu den (objektiven) Begleitumständen hat das LSG lediglich ausgeführt, der Kläger, der mit 43 Jahren seinen Beruf als Schlosser bzw Heizungsmonteur (aus gesundheitlichen Gründen) aufgegeben und eine Umschulung zum Bürokaufmann begonnen habe, müsse angesichts der allgemein bekannten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt damit rechnen, bereits geraume Zeit vor Erreichen des Rentenalters seinen Lebensunterhalt nicht mehr durch Erwerbstätigkeit bestreiten zu können. Danach ist weder die Zweckbestimmung der Variante 2 noch die der Variante 3 des § 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AlhiV nachvollziehbar, wenngleich das Ergebnis als solches richtig sein mag. Das LSG wird folglich die fehlenden Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben.
Sollte das LSG bei seiner erneuten Entscheidung die Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AlhiV verneinen, käme es auf das Vorliegen des Auffangtatbestandes des § 6 Abs. 3 Satz 1 AlhiV an. Die darin geforderte Unbilligkeit der Vermögensverwertung („wenn sie unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Inhabers des Vermögens und seiner Angehörigen billigerweise erwartet werden kann”) kann aus den besonderen Lebensumständen sowohl des Arbeitslosen als auch seiner Angehörigen resultieren. Sie kann sich darüber hinaus aus anderen Umständen, insbesondere auch der Herkunft des Vermögens, ergeben. So ist die Erbringung von Schmerzensgeld (§ 847 Bürgerliches Gesetzbuch) eine Leistung zum Ausgleich eines immateriellen Schadens, die nicht zum Lebensunterhalt dient (§ 138 Abs. 3 Nr. 6 Halbs 1 AFG), mit der Folge, daß seine Verwertung nicht zumutbar ist (BSG, Urteil vom 17. Oktober 1990 – 11 RAr 133/88 –, DBIR Nr. 3785 a zu § 137 AFG). Des weiteren kann die Verwertung eines nicht unangemessen hohen Vermögens, dessen Erwerb auf Leistungen privater Unfallversicherungsträger beruht, unzumutbar sein, zB, wenn die auf dem Unfall beruhende gesundheitliche Schädigung die Höhe der Alhi wegen Anwendung des § 112 Abs. 7 AFG mindert (BSGE 72, 248, 251 = SozR 3-4100 § 137 Nr. 4). Schließlich kann unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Arbeitslosen und seiner Angehörigen die Verwertung einer kapitalbildenden Lebensversicherung, die nicht der angemessenen Alterssicherung dient, unzumutbar sein. Die Beklagte selbst anerkennt dies für den Fall, daß der Ehegatte des Arbeitslosen eine außergewöhnlich gefährliche Tätigkeit ausübt und seine Angehörigen anders nicht ausreichend geschützt sind (Durchführungsanweisungen 8/94 zu § 137 unter 3.46 Abs. 10 ≪ Rz 67≫). Ähnliche Überlegungen könnten für den Fall anzustellen sein, daß die Mutter der Kinder des Arbeitslosen verstorben ist und die Kinder anderweitig nicht ausreichend abgesichert sind. Vorliegend sind die Mütter beider Kinder des Klägers verstorben. Ob und inwieweit die Kinder anderweitig abgesichert sind, wäre durch das LSG ggf noch zu prüfen.
Konnte die Verwertung der Lebensversicherung unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Klägers und seiner Kinder billigerweise erwartet werden, kommt es im Rahmen des § 6 Abs. 3 Satz 1 AlhiV auf die – aus der Sicht des LSG zu Recht offengelassene – weitere Frage an, ob sie nicht offensichtlich unwirtschaftlich war. Auch diese Frage läßt sich nur unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalles sowie von Sinn und Zweck der Alhi-Regelungen beantworten. Allgemein ist jedoch zu sagen: Offensichtlich unwirtschaftlich ist eine Verwertung nur dann, wenn der dadurch erlangte bzw zu erzielende Gegenwert in einem (deutlichen) Mißverhältnis zum wirklichen Wert des verwerteten bzw zu verwertenden Vermögensgegenstandes steht oder stehen würde (BSG, Urteil vom 17. Oktober 1990 – 11 RAr 133/88 –, DBIR Nr. 3785 a zu § 137 AFG). Umgekehrt ist offensichtliche Unwirtschaftlichkeit der Vermögensverwertung nicht gegeben, wenn das Ergebnis der Verwertung vom wirklichen Wert nur geringfügig abweicht. Ob im Fall der Verwertung einer kapitalbildenden Lebensversicherung erst dann von offensichtlicher Unwirtschaftlichkeit der Verwertung gesprochen werden kann, wenn – wie die Beklagte meint – der Rückkaufswert (nach Abzug von Gebühren) die Summe der eingezahlten Beiträge um mehr als 10 vH unterschreitet (Durchführungsanweisungen 8/94 zu § 137 unter 3.46 Abs. 9 ≪Rz 65≫), läßt der Senat offen. Denn hierauf scheint es im vorliegenden Fall, in dem der Rückkaufswert das Deckungskapital um mehrere tausend Deutsche Mark überschreitet, nicht anzukommen. Daran dürfte selbst der Umstand nichts ändern, daß maßgebender Zeitpunkt für die Frage der zumutbaren Verwertung nicht der 1. November, sondern der 29. Oktober 1993 ist. Dieses frühere Datum könnte allenfalls dazu führen, daß fehlende Bedürftigkeit des Klägers für einen kürzeren Zeitraum gegeben ist, als von der Beklagten bisher angenommen worden ist (§ 9 AlhiV).
Nach alldem konnte das Berufungsurteil keinen Bestand behalten. Es war aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
NWB 1997, 2238 |
Breith. 1997, 476 |
SozSi 1997, 318 |