Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosenhilfeanspruch - Ruhen - Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrages - Verwaltungsakt - Ermessensausübung in atypischen Fällen - niedrigerer Rentenzahlbetrag - Gesetzesänderung - authentische Interpretation
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, wann eine Gesetzesänderung eine authentische Interpretation der früheren Rechtslage enthält (hier: Änderung des § 202 SGB 3 durch das Job-AQTIV-G).
Normenkette
SGB III § 202 Abs. 1 Sätze 1-2, 2 Hs. 2; SGB X § 31
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Dezember 2001 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass auch der Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Juli 1999 aufgehoben wird.
Die Beklagte erstattet dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I
Im Streit ist die Aufhebung der Bewilligung (bis 31. Dezember 1998) von Arbeitslosenhilfe (Alhi) mit Wirkung ab 1. Juli 1998.
Der am 9. Mai 1938 geborene Kläger, der von 1953 bis 1987 in Großbritannien beschäftigt war, arbeitete von Januar 1987 bis Januar 1989 in der Bundesrepublik Deutschland. Seit 24. Januar 1989 bezog er von der Beklagten Leistungen wegen Arbeitslosigkeit, zuletzt Alhi in Höhe von 219,38 DM wöchentlich, bewilligt bis 31. Dezember 1998 (Bescheid vom 24. Januar 1998).
Die Beklagte forderte den Kläger mit Schreiben vom 22. April 1998 (ohne Rechtsbehelfsbelehrung) auf, innerhalb eines Monats nach Zugang des Schreibens die Altersrente zu beantragen; andernfalls ruhe der Anspruch auf Alhi ab dem Tag nach Ablauf der Monatsfrist. Weil der Kläger darauf verwies, dass er erst ab 9. Mai 2003 einen Anspruch auf Altersrente ohne Rentenminderung habe, fragte die Beklagte bei der Landesversicherungsanstalt Hamburg als dem zuständigen Rentenversicherungsträger nach; sie erhielt von dort die Antwort, dass eine Rente frühestens ab 1. Juni 1998 ohne Abschläge bezogen werden könne. Daraufhin forderte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 19. Juni 1998 (ohne Rechtsbehelfsbelehrung) auf, die Rente bis 10. Juli 1998 zu beantragen.
Nachdem der Kläger dies im Hinblick darauf abgelehnt hatte, dass ihm eine (deutsche) Rente nur in Höhe von 122,97 DM zustehe und die britische Altersrente erst ab Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen werden könne, hob die Beklagte die Bewilligung von Alhi mit Wirkung ab 1. Juli 1998 auf (Bescheid vom 14. Juli 1998; Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1999). Die Klage hiergegen hatte beim Sozialgericht (SG) Erfolg (Urteil vom 8. Mai 2000). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Alhi-Bewilligung gemäß § 48 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) lägen nicht vor. Der Alhi-Anspruch des Klägers habe nicht gemäß § 202 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) geruht. Der Kläger sei zwar der Aufforderung der Beklagten, einen Rentenantrag zu stellen, nicht nachgekommen; jedoch sei die Aufforderung der Beklagten im Hinblick auf die deutlich niedrigere Altersrente als die Alhi ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 6. Dezember 2001). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG Bezug genommen auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 42/99 R.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 202 Abs 1, 190 Abs 1 Nr 5 SGB III. Sie hält die Entscheidung des erkennenden Senats vom 27. Juli 2000 für unrichtig, wonach es sich bei der Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrags um einen Verwaltungsakt handelt und bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung Ermessen auszuüben ist, wenn die zu erwartende Rente niedriger als die zu erwartende Alhi ist. Gegen die Auslegung des Senats, die noch die Vorgängervorschrift des § 134 Abs 3c Arbeitsförderungsgesetz (AFG) betroffen habe, spreche insbesondere die klarstellende Gesetzesänderung ab 1. Januar 2002; danach sei § 202 Abs 1 SGB III ausdrücklich dahin ergänzt worden, dass die Höhe der Altersrente unbeachtlich sei. In der Begründung zur Änderung des § 202 (BT-Drucks 14/6944 S 38) werde hierzu ausgeführt, die Klarstellung sei wegen des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 42/99 R – erforderlich. Im Übrigen mache der Gesetzgeber in dieser Begründung auch deutlich, dass er die Aufforderung, einen Rentenantrag zu stellen, nicht als Verwaltungsakt ansehe, sondern lediglich als Vorbereitungshandlung zum Erlass eines solchen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 8. Juli 1998 sei bereits deshalb rechtswidrig, weil er mit dem Schreiben vom 19. Juni 1998 aufgefordert worden sei, die Rente bis zum 10. Juli 1998 (statt innerhalb eines Monats) zu beantragen, und die Beklagte dann sogar die Bewilligung der Alhi bereits ab 1. Juli 1998 aufgehoben habe; damit habe sie die gesetzlich vorgesehene Handlungsfrist nicht eingehalten. Die von der Beklagten zitierte Gesetzesänderung des § 202 Abs 1 SGB III könne erst ab 1. Januar 2002 Geltung erlangen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nicht nur der Bescheid der Beklagten vom 14. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Juli 1999, sondern zusätzlich die Aufforderung der Beklagten vom 19. Juni 1998, die ein Verwaltungsakt ist (BSGE 87, 31, 37 f = SozR 3-4100 § 134 Nr 22). An dieser Auffassung, der sich mittlerweile der 11. Senat des BSG ausdrücklich angeschlossen hat (Urteil vom 20. September 2001 – B 11 AL 35/01 R –, unveröffentlicht), hält der Senat fest. Gegen diesen Verwaltungsakt, der nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, hat sich der Kläger rechtzeitig (§ 66 Abs 2 SGG) mit seinem Widerspruch gewandt. Die Beklagte hat auch im Widerspruchsbescheid, ebenso wie das SG und das LSG in ihren Urteilen, in der Sache über die Rechtmäßigkeit dieser Aufforderung befunden. Dem war im Rahmen der Tenorierung Rechnung zu tragen, ohne dass dies eine “reformatio in peius” darstellt. An die in der BT-Drucks 14/6944 S 38 Nr 58 geäußerte Rechtsansicht, die Aufforderung zur Rentenantragstellung diene (nur) der Vorbereitung eines Verwaltungsakts, ist der erkennende Senat nicht gebunden. Im Übrigen sieht der Gesetzgeber selbst in der so genannten Meldeaufforderung nach § 309 SGB III, also in einem ähnlichen Fall mit vergleichbaren Konsequenzen, einen Verwaltungsakt (§ 336a Satz 1 Nr 5 SGB III). Die Auffassung des Senats steht – abgesehen davon, dass der 11. Senat sich mittlerweile der Auffassung des erkennenden Senats angeschlossen hat – auch nicht im Widerspruch zu einer früheren Entscheidung des 11. Senats (BSG SozR 3-4100 § 105c Nr 1). In dieser Entscheidung, die sich mit der Aufforderung zur Rentenantragstellung gemäß § 105c AFG befasst, hat der 11. Senat den Rechtscharakter dieser Aufforderung weder geprüft noch in irgendeiner Weise hierzu Stellung genommen. Nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist im Übrigen die erste Aufforderung der Beklagten zur Stellung eines Rentenantrags vom 4. Mai 1998. Insoweit kann dahinstehen, ob diese Aufforderung sich nicht bereits auf andere Weise erledigt hat (vgl hierzu BSG SozR 3-4100 § 105c Nr 1), weil die Beklagte zunächst auf die “Durchsetzung” der Aufforderung verzichtet hat. Jedenfalls ist eine Erledigung durch die zweite Aufforderung vom 19. Juni 1998 eingetreten (§ 39 Abs 2 SGB X), die die ursprüngliche Aufforderung in vollem Umfang ersetzt hat.
Richtigerweise hat der Kläger eine Anfechtungsklage erhoben (§ 54 Abs 1 SGG). Allein durch die Aufhebung der fehlerhaften Aufforderung zur Rentenantragstellung, die durch eine erneute Aufforderung nicht heilbar wäre (BSGE 87, 31, 33 f = SozR 3-4100 § 134 Nr 22), und des anschließenden Aufhebungsbescheids wird dem klägerischen Begehren in vollem Umfang Rechnung getragen. Damit wird die ursprüngliche Bewilligung der Alhi bis zum Ablauf des Bewilligungszeitraums am 31. Dezember 1998 wieder wirksam.
Zu Recht hat das LSG angenommen, dass die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X für eine Aufhebung des Alhi-Bewilligungsbescheides nicht vorliegen, weil bereits die Aufforderung zur Rentenantragstellung rechtswidrig war. Damit fehlt es auch an einer wesentlichen Änderung iS des § 48 Abs 1 SGB X. Eine solche liegt auch nicht in der Zahlung von Sozialhilfe; diese kann nur als Erfüllung gemäß § 107 SGB X gelten.
Nach § 202 Abs 1 Satz 1 SGB III (idF, die die Norm durch das 2. SGB III-ÄndG vom 21. Juli 1999 – BGBl I 1648 – erhalten hat) soll das Arbeitsamt den Arbeitslosen, der in absehbarer Zeit die Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente wegen Alters – ohne Rentenabschläge (vgl BSGE 87, 31, 35 f = SozR 3-4100 § 134 Nr 22) – voraussichtlich erfüllt, auffordern, diese Rente innerhalb eines Monats zu beantragen. Stellt der Arbeitslose den Antrag nicht, ruht der Anspruch auf Alhi vom Tag nach Ablauf der Frist bis zu dem Tag, an dem der Arbeitslose Rente wegen Alters beantragt (Satz 2). Zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 134 Abs 3c AFG hat der Senat bereits entschieden, dass die Beklagte bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung in atypischen Fällen Ermessen auszuüben hat und ein solcher atypischer Fall – wie vorliegend – anzunehmen ist, wenn die zu zahlende Altersrente niedriger als die zu zahlende Alhi wäre (BSGE 87, 31, 39 f = SozR 3-4100 § 134 Nr 22); dem hat sich der 11. Senat in zwei Entscheidungen vom 20. September 2001 angeschlossen (B 11 AL 87/00 R, SuP 2002, 450 ff, und BSGE 89, 13 ff = SozR 3-4300 § 142 Nr 1).
An dieser Rechtsprechung, die auch für § 202 Abs 1 SGB III gilt (BSG, Urteil vom 20. September 2001 – B 11 AL 35/01 R), ist trotz der Änderung des § 202 SGB III durch das Job-AQTIV-Gesetz vom 10. Dezember 2001 (BGBl I 3443) festzuhalten. Ab 1. Januar 2002 ist nunmehr in § 202 SGB III, dessen Abs 1 Satz 1 auf den Kläger Anwendung findet (vgl § 202 Abs 1 Satz 2 SGB III iVm § 234 Abs 4 SGB VI), geregelt, dass bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung die Höhe der Altersrente unbeachtlich sein soll (Abs 1 Satz 2). Dies hat indes keine Auswirkungen auf das vorliegende Verfahren. Zwar ist zur Begründung der Gesetzesänderung ausgeführt, die Klarstellung sei wegen des Senatsurteils vom 27. Juli 2000 erforderlich (BT-Drucks 14/6944, S 38). Daraus kann jedoch nicht entnommen werden, dass es sich um eine authentische Interpretation des vor dem 1. Januar 2002 geltenden Rechts handelt. Das Ziel einer Klarstellung kann nicht ohne weiteres iS einer Rückwirkung verstanden werden; vielmehr muss, wenn – wie vorliegend – eine eindeutige gesetzliche Anordnung der Rückwirkung fehlt, die Bedeutung der Neufassung durch Auslegung ermittelt werden (BSG SozR 4100 § 168 Nr 22 S 56 ff). Gegen eine solche Rückwirkung spricht bereits, dass vom Gesetzgeber, wenn er schon die Entscheidung des Senats zitiert, “Klartext” hätte “formuliert” werden können (vgl dazu BSG SozR 4100 § 168 Nr 22 S 56 mwN) und auch müssen. Immerhin ist die Entscheidung des Senats nicht zu § 202 SGB III, sondern zu § 134 AFG ergangen, sodass es erforderlich gewesen wäre, auch diese Norm, der § 202 Abs 1 SGB III in der bis 31. Dezember 2001 geltenden Fassung entspricht (BT-Drucks 13/4941, S 190 zu § 200), in die Begründung mit aufzunehmen. Dies gilt um so mehr, als zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses mit den Urteilen des 11. Senats vom 20. September 2001 (B 11 AL 87/00 R, SuP 2002, 450 ff, und BSGE 89, 13 ff = SozR 3-4300 § 142 Nr 1) bereits eine anderslautende ständige Rechtsprechung vorlag.
Darüber hinaus kann die Gesetzesänderung deshalb nicht als eine authentische Interpretation mit Wirkung für das vor dem 1. Januar 2002 geltende Recht verstanden werden, weil eine andere als die vom Senat vorgenommene Auslegung des § 202 SGB III aF nicht möglich war (vgl zu dieser Voraussetzung BSG SozR 3-2600 § 93 Nr 3 S 19). Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom 27. Juli 2000 ausdrücklich ausgeführt, dass nur seine Auslegung mit dem Gesamtkonzept der §§ 118 Abs 1 Nr 4, 134 Abs 3c AFG vereinbar war (BSGE 87, 31, 39 f = SozR 3-4100 § 134 Nr 22); diese Konzeption war vom SGB III in den §§ 142 Abs 1 Satz 1 Nr 4, 202 Abs 1 bis zur Änderung durch das Job-AQTIV-Gesetz übernommen worden. Die Neuregelung beinhaltet demgegenüber einen Bruch mit dem früheren Gesetzeskonzept, über dessen Bedeutung vorliegend keine Entscheidung erforderlich ist. Der streitige Zeitraum wird von der Neuregelung nicht erfasst, sodass sich auch nicht die Frage stellt, ob eine authentische Interpretation mit Wirkung für die Vergangenheit zulässig gewesen wäre.
Ergibt sich mithin die Rechtswidrigkeit der Aufforderung und damit die Rechtswidrigkeit der Aufhebung der Alhi-Bewilligung bereits aus der fehlenden Ermessensausübung der Beklagten bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung, so kann auch dahinstehen, ob die Beklagte mit ihrer Aufforderung zur Rentenantragstellung die in § 202 Abs 1 Satz 1 SGB III vorgesehene Handlungsfrist von einem Monat eingehalten hat, was allenfalls unter Berücksichtigung der ersten Aufforderung vom 4. Mai 1998 angenommen werden könnte. Ohne Bedeutung für die Entscheidung ist die britische Rente. Abgesehen davon, dass die Beklagte den Kläger jedenfalls nicht ausdrücklich aufgefordert hat, diese zu beantragen, werden ausländische Renten von § 202 SGB III überhaupt nicht erfasst; anders als in § 142 SGB III (Abs 3) fehlt eine ausdrückliche Einbeziehung vergleichbarer Sozialleistungen ausländischer Träger.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt auch den in der mündlichen Verhandlung geschlossenen Teilvergleich der Beteiligten.
Fundstellen
Haufe-Index 886199 |
NWB 2003, 268 |
NZA-RR 2003, 384 |
NZS 2004, 279 |
SozR 3-4300 § 202, Nr. 3 |