Leitsatz (amtlich)
Auch in der Sozialversicherung gibt es das Rechtsinstitut der Verwirkung materieller Rechte. Ein Recht ist verwirkt, wenn der Berechtigte während einer längeren Zeitspanne dem Versicherungsträger gegenüber untätig gewesen ist und besondere Umstände hinzugetreten sind, auf Grund derer sein Verhalten als Verstoß gegen Treu und Glauben empfunden wird. Solche Umstände liegen insbesondere nicht darin, daß der Berechtigte sich zunächst darum bemüht hat, Leistungen von einer Stelle außerhalb der Sozialversicherung zu erhalten, und erst nach fünf Jahren an den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung herangetreten ist.
Normenkette
RVO § 1546 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-08-20; BGB § 242
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 9. Oktober 1956 wird zurückgewiesen, soweit der Kläger die Gewährung von Unfallrente für die Zeit nach der Geltendmachung seines Anspruchs beantragt hat.
Im übrigen wird das Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger zog sich durch einen Arbeitsunfall, den er am 8. Oktober 1943 auf einer Baustelle in Baranowitschi /Weißruthenien erlitt, einen Schädelbasisbruch mit Gehirnerschütterung zu. Er war damals bei der Zentral-Handelsgesellschaft Ost für landw. Absatz und Bedarf m.b.H. (ZO.) dienstverpflichtet; von Beruf ist er Buchdruckmeister. An Unfallfolgen blieben Gleichgewichtsstörungen zurück, deretwegen im Mai 1944 auf Kosten der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK.) Wolfenbüttel ein Heilverfahren durchgeführt wurde. Am 25. Mai 1944 fragte die ZO. unter Übersendung einer formularmäßigen Unfallanzeige bei der Beklagten an, welche Leistungen sie in der Schadenssache des Verletzten übernehmen würde. Die Beklagte antwortete am 7. Juni 1944, daß sie mangels Unfallmeldung die Entschädigungsansprüche noch nicht hätte prüfen können. Sie nahm die Unfalluntersuchung auf und berichtete der ZO. am 9. Januar 1945, daß nach fachärztlicher Begutachtung wesentliche Unfallfolgen nicht mehr vorlägen und der Kläger selbst darüber mit Schreiben vom 20. September 1944 unterrichtet worden wäre. Der Kläger bestreitet, ein solches Schreiben erhalten zu haben.
Am 31. Januar 1950 beanspruchte der Kläger mit einem an die Berufsgenossenschaft (BG.) für reichsgesetzliche Unfallversicherung gerichteten und von dieser an die Beklagte weitergeleiteten Antrag Entschädigung für die Folgen seines Unfalls vom 8. Oktober 1943, und zwar für die Zeit von 1945 an. Er behauptet, um mehr als 20 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit durch die Unfallfolgen beschränkt gewesen zu sein, und beruft sich dafür auf ein seiner Privatversicherungsgesellschaft "Raiffeisendienst" am 18. Januar 1950 erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S... von den Städtischen Krankenanstalten Braunschweig, nach dem als Folge der Gehirnerschütterung noch eine der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 20 v.H. entsprechende Dauerschädigung bestehe. Nach einer von der Beklagten veranlaßten nerven- und ohrenfachärztlichen Untersuchung hängt der neurologische Befund mit dem sieben Jahre zurückliegenden Unfall nicht mehr ursächlich zusammen; es soll auch nur eine höchstens mäßige Hörnervenschädigung noch vorhanden sein. Daraufhin hat die Beklagte durch Bescheid vom 26. Januar 1951 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger die Frist für die Anmeldung des Anspruchs nach § 1546 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versäumt habe und daß im übrigen auch nur eine MdE. von 10 v.H. durch Unfallfolgen anzunehmen sei.
Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid ist durch Vorentscheidung des Vorsitzenden der Spruchkammer des Oberversicherungsamts (OVA.) Braunschweig vom 7. Juli 1952 zurückgewiesen worden. Mit seinem Antrag auf mündliche Verhandlung hiergegen hat der Kläger geltend gemacht, daß er sich in den Jahren vor der Anspruchsanmeldung vom 31. Januar 1950 durch Anfragen bei der Bürgermeisterei und der AOK. Wolfenbüttel vergeblich bemüht habe, die für die Verfolgung seiner Ansprüche zuständige BG. ausfindig zu machen. Dafür bezieht er sich auf eine schriftliche Auskunft der bezeichneten AOK. vom 22. Dezember 1952, die im wesentlichen wörtlich lautet:
"Zwecks Vorlegung beim OVA. Braunschweig bestätigen wir Herrn S., daß dieser sich nach dem Zusammenbruch in den Jahren 47 - 49 nach der zuständigen Berufsgenossenschaft erkundigt hat. Wir haben S. später die Anschrift der BG. f. reichsgesetzl. Unfallvers. in Hamburg..., mitgeteilt."
Nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Sache auf das Sozialgericht Braunschweig übergegangen. Dieses hat die Klage durch Urteil vom 22. November 1954 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe bis zur Antragstellung vom 31. Januar 1950 auf Rente verzichtet; für die spätere Zeit seien nach den ärztlichen Unterlagen keine zum Bezug einer Rente berechtigenden Unfallfolgen mehr vorhanden.
Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG.) noch ein Gutachten der Universitäts-Nervenklinik Göttingen vom 15. Juli 1956 über die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit durch die Unfallfolgen seit dem Unfallereignis eingeholt. Darin wird die MdE. des Klägers wegen einer als Unfallfolge bestehenden mittelschweren Gehirnerschütterung für das erste Vierteljahr nach dem Unfall auf 100 v.H., für das zweite Vierteljahr auf 40 v.H., dann bis zum Ablauf des ersten Jahres nach dem Unfall auf 30 v.H. und schließlich für ein weiteres Jahr, also bis Oktober 1945, auf 20 v.H. unter Berücksichtigung der unfallbedingten, geringen doppelseitigen Schwerhörigkeit geschätzt; für die folgende Zeit rühre eine MdE. in rentenberechtigendem Grade nicht mehr von dem Unfall her, da es klinischer Erfahrung entspreche, daß commotions bedingte vegetative Fehlregulationen nach ein bis zwei Jahren abzuklingen pflegen. Durch Urteil vom 9. Oktober 1956 hat das LSG. die Berufung mit folgender Begründung zurückgewiesen: Der Einwand der verspäteten Anmeldung des Entschädigungsanspruchs sei zwar unberechtigt; denn der Anspruch sei ausweislich des im Jahre 1944 zwischen der ehemaligen Arbeitgeberin des Klägers und der Beklagten geführten Schriftwechsels innerhalb von zwei Jahren nach dem Unfall erhoben worden, und außerdem habe die Beklagte den Anspruch des Klägers im Sinne des § 1546 RVO festgestellt, indem sie die durch den Unfall entstandenen Behandlungskosten mit der zuständigen Krankenkasse verrechnet habe. Gleichwohl sei der Entschädigungsanspruch des Klägers nicht begründet. Soweit er ihn für die Zeit vor der Anmeldung geltend gemacht habe, sei sein Recht auf Leistungen gegen die Beklagte verwirkt. Die Erfüllung dieses Anspruchs sei ihr im Hinblick darauf nicht mehr zuzumuten, daß der Kläger ihr gegenüber fünf Jahre lang geschwiegen habe und unterdessen bemüht gewesen sei, von anderer Stelle für die Folgen seines Unfalls entschädigt zu werden. Die verspätete Geltendmachung verstoße daher gegen Treu und Glauben. Für die spätere Zeit entfalle die Leistungspflicht der Beklagten ebenfalls da nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten der Kläger nicht um wenigstens ein Fünftel in seiner Erwerbsfähigkeit durch Unfallfolgen gemindert sei. Die Revision ist nicht zugelassen.
Gegen dieses dem Kläger am 7. November 1956 zugestellte Urteil hat er durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 23. November 1956 Revision eingelegt und sie am 3. Dezember 1956 begründet. Er rügt wesentliche Verfahrensmängel durch Verstoß des LSG. gegen die §§ 103, 106, 128, 153 SGG und führt dazu aus: Das LSG. habe zu Unrecht angenommen, daß sein Anspruch auf Rente verwirkt sei. In den Jahren nach dem Zusammenbruch habe er sich um die Ermittlung der zuständigen BG. vergeblich bemüht, wie sich aus der Bescheinigung der AOK. Wolfenbüttel vom 22. Dezember 1952 ergebe.
Das LSG. hätte dies angesichts der schriftlichen Bescheinigung der AOK. über die Richtigkeit seines Vorbringens nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts für unglaubhaft halten dürfen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Sie nimmt auf die rechtlichen Ausführungen des angefochtenen Urteils Bezug und meint, ein Verstoß des LSG. gegen den Grundsatz der Amtsermittlungspflicht und das Recht der freien Beweiswürdigung liege auch nicht im Hinblick auf die Bescheinigung der AOK. Wolfenbüttel vor. Denn es sei schon zweifelhaft, daß sich der Kläger bei seinem Alter und Bildungsgrad mit einer ergebnislosen Auskunft der AOK. begnügt haben würde, falls ihm daran gelegen hätte, Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung schon früher als 1950 geltend zu machen. Daher sei der Verdacht begründet, daß der Kläger bei der AOK. überhaupt nicht angefragt habe.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist auch statthaft (§ 162 Abs. 1 SGG). Das LSG. hat sie zwar nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen, auch ist kein Anwendungsfall der Nr. 3 dieser Vorschrift gegeben; der Kläger hat jedoch ordnungsmäßig und mit Erfolg das Vorliegen eines wesentlichen Mangels im Verfahren der Vorinstanz gerügt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 SGG; BSG. 1 S. 150). Dieser Verfahrensmangel liegt darin, daß das LSG. die ihm nach § 103 SGG obliegende Pflicht verletzt hat, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen.
Das LSG. hat angenommen, der Kläger habe schon bald nach dem Zusammenbruch 1945 gewußt, welche BG. für seine Unfallangelegenheit zuständig sei; er sei nur nicht eher an sie herangetreten, weil er mit einer Entschädigung von anderer Seite ("Raiffeisendienst") gerechnet habe. Aus diesen Gründen hat es das LSG. für treuwidrig gehalten, daß der Kläger nach jahrelangem Zögern seine Ansprüche, mit deren Erfüllung die Beklagte nicht mehr habe zu rechnen brauchen, noch gegen sie geltend gemacht hat. Es hat deshalb das Recht des Klägers auf die Unfallrente, soweit er sie für die Zeit vor der neuerlichen Anspruchsanmeldung im Januar 1950 verlangt, als verwirkt angesehen. Zu dieser Auffassung ist das LSG. unter Verstoß gegen den Grundsatz der Amtsermittlungspflicht gelangt. Die Ermittlungen und Maßnahmen, die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind, bestimmt das Gericht zwar im Rahmen seines richterlichen Ermessens. Dieses Ermessen wird jedoch durch die in § 103 SGG festgelegte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts begrenzt. Das Gericht hat daher zu prüfen, ob im Einzelfall noch von weiteren Beweismitteln Gebrauch zu machen ist (BSG. 1 S. 194 und 2 S. 236 [238]). So können Tatbestandshinweise so lange nicht zur Feststellung eines bestimmten Sachverhalts ausreichen, als noch weitere Klärungsmöglichkeiten bestehen. Im vorliegenden Falle hat das LSG. seiner Pflicht zur Sachaufklärung insofern nicht genügt, als es das Vorbringen des Klägers, ihm sei der zuständige Versicherungsträger unbekannt gewesen, ohne weitere Beweiserhebung entgegen der Bescheinigung der AOK. Wolfenbüttel vom 22. Dezember 1952 für unglaubhaft gehalten hat. Aus dieser Bescheinigung geht hervor, daß sich der Kläger in den Jahren 1947 bis 1949 nach der zuständigen BG. bei der AOK. erkundigt und diese ihm die Anschrift der BG. für reichsgesetzliche Unfallversicherung erst nach dieser Zeit mitgeteilt hat. Es mag sein, daß, wie in dem angefochtenen Urteil ausgeführt ist, die AOK. schon seit 1946 wieder friedensmäßig arbeitete und nach ihrer Organisation imstande war, den Kläger bereits von dieser Zeit an in der erbetenen Weise zu bescheiden. Dies schließt jedoch nicht aus, daß trotzdem seine Anfragen zur damaligen Zeit in Wirklichkeit nicht den erstrebten Erfolg hatten und der um Auskunft angegangene Angestellte vielleicht im Hinblick auf die Aufbauschwierigkeiten in der gesamten Staatsverwaltung in den Jahren nach dem Zusammenbruch 1945 die zuständige BG. nicht benennen konnte. Angesichts der angeführten Bescheinigung der AOK. Wolfenbüttel hätte sich das LSG. gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt näher aufzuklären. Ohne weitere Ermittlungen durfte es im Widerspruch zu der Bescheinigung der AOK. jedenfalls nicht die Schlußfolgerung ziehen, sie habe die zuständige BG. gekannt und dem Kläger auch alsbald namhaft gemacht, und zwar um so weniger, als es sich bei der AOK. um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handelt. Überdies hat die Beklagte im Revisionsverfahren mit Recht darauf hingewiesen, daß die AOK. in ihrer Bescheinigung nichts über ihre dem Kläger früher gegebene Auskunft erwähnt hat. Besonders dieser Umstand hätte das LSG. zur Ergänzung der Bescheinigung mindestens durch eine Rückfrage bei der AOK. veranlassen müssen, ehe es zu einer abschließenden Würdigung der Bescheinigung gelangte.
Für verwirkt hält das LSG. allerdings nur den für die Zeit vor der Anmeldung im Januar 1950 geltend gemachten Rentenanspruch. Seine Erwägungen hinsichtlich der vermeintlich unzulässigen Rechtsausübung des Klägers betreffen daher nur diesen Teil des Anspruchs; auf ihn beschränkt sich deshalb die Fehlerhaftigkeit des Verfahrens. Bezüglich des Anspruchs für die Zeit nach der Anmeldung hingegen bestehen gegen die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens keine Bedenken. Dies bedeutet jedoch nicht, daß insoweit die Revision nicht statthaft sei. Dem Revisionsgericht ist vielmehr auch hinsichtlich dieses Anspruchsteils die sachlich-rechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils möglich, da es sich bei dem vom Kläger für die Zeit von 1945 an geltend gemachten Entschädigungsanspruch um einen einheitlichen Rentenanspruch handelt. Die Revision ist somit insgesamt zulässig.
Die Revision ist auch teilweise begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf der unrichtigen Anwendung des Verfahrensrechts (§§ 103, 153, 162 Abs. 2 SGG). Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG. bei gesetzmäßiger Würdigung der Bescheinigung der AOK. Wolfenbüttel und der gebotenen Klarstellung ihres Inhalts zu einer dem Kläger günstigen Auffassung hinsichtlich seines für verwirkt angesehenen Anspruchs gelangt wäre. Diese Möglichkeit genügt für die Annahme des gemäß § 162 Abs. 2 SGG erforderlichen Ursachenzusammenhangs zwischen der Verletzung des Verfahrensrechts und der Entscheidung (BSG. 2 S. 197 [201]).
Die von dem Senat zu treffende Entscheidung hängt von dem Ergebnis der materiell-rechtlichen Nachprüfung des gesamten Urteils ab. Soweit das LSG. den Rentenanspruch für die Zeit nach dem 31. Januar 1950 abgelehnt hat, sind materiell-rechtliche Vorschriften nicht verletzt. Die auf Grund der vorliegenden ärztlichen Gutachten getroffene Feststellung, daß die MdE. des Klägers durch die Folgen des Arbeitsunfalls seit Januar 1950 nicht mehr in dem zum Bezug einer Rente berechtigenden Grade besteht, läßt einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Hinsichtlich des vom 31. Januar 1950 an geltend gemachten Rentenanspruchs war daher die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Revision hatte hingegen hinsichtlich des vom Berufungsgericht als verwirkt angesehenen Anspruchsteils Erfolg. Das LSG. hat den Einwand der Versäumung der Anmeldefrist gemäß § 1546 RVO mit zutreffenden Erwägungen für ungerechtfertigt erklärt. Die Beklagte selbst stellt nicht mehr ernstlich in Abrede, daß die Arbeitgeberin des Klägers für ihn im Mai 1944, also innerhalb von zwei Jahren nach dem Unfall, Entschädigungsansprüche bei der Beklagten wirksam angemeldet habe und daß damals die aus Anlaß des Unfalls entstandenen Kosten der Heilbehandlung von der AOK. Wolfenbüttel mit der Beklagten verrechnet worden seien. Angesichts dieser nach den Akten auch bestätigten Schadensregulierung ist die Annahme des LSG. unbedenklich, die Beklagte habe die Unfallentschädigung gemäß § 1546 RVO von Amts wegen festgestellt, so daß schon aus diesem Grunde der Einwand der Fristversäumnis entfällt (RVO-Mitgl. Komm., 2. Aufl., Bd. I, S. 175, Anm. 2 zu § 1546).
Das LSG. läßt hinsichtlich des für die Zeit von 1945 bis zur neuerlichen Anmeldung im Januar 1950 geltend gemachten Rentenanspruchs den Einwand nicht rechtzeitiger Anmeldung in der Gestalt der Verwirkung fortgelten, weil die späte Geltendmachung des Anspruchs gegen Treu und Glauben verstoße. Dieser Auffassung vermochte sich der erkennende Senat nicht anzuschließen.
Der Gedanke der Verwirkung ist in höchstrichterlicher Rechtsprechung, vor allem des Reichsgerichts, auf verschiedenen Sondergebieten des bürgerlichen Rechts aus dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Vertrauensschutz zu einem besonderen Rechtsinstitut entwickelt worden. Rechtsprechung und Rechtslehre stimmen darin überein, daß der verzögerten Geltendmachung von Ansprüchen - das Entsprechende gilt von der Ausübung von Gestaltungsrechten sowie prozessualer Befugnisse - unter besonderen Umständen die rechtliche Wirkung versagt werden müsse, wenn die nachträgliche Ausübung des Rechts unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Umstände des einzelnen Falles dem Grundsatz von Treu und Glauben widerspricht. Dieser Grundsatz beherrscht die ganze Rechtsordnung. Deshalb ist der Rechtssatz, daß eine Treu und Glauben widersprechende Rechtsausübung mit dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung abgewehrt werden kann, zum festen Bestand der Rechtsprechung auf allen Rechtsgebieten geworden (vgl. Preuß. OVerwG. 104 S. 6; RGZ 155 S. 151/152, 158 S. 107 u. 238, 159 S. 105; BVerwGE. 5 S. 262 - NJW. 1958 S. 75 Nr. 21; BSG. 2 S. 284 [288]; LSG. Nordrhein-Westf. in "Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe" 1958, Heft 4 S. 96; Bayer. LSG. in Breith. 1955 S. 361 [365]; Das Bürgerliche Gesetzbuch, Kommentar, herausgegeben von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtern, 10. Aufl., I. Bd., Anm. 4 zu § 242; Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 10. Aufl., 19. Lieferung, Anm. 663 ff. zu § 242; Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, 8. Aufl., Anm. C II, insbesondere 1 u. 6 zu § 242; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 17. Aufl., Anm. 9 zu § 242; Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 2. Halbband, 14. Aufl., S. 987 ff.; Kleine, JZ. 1951 S. 9; Böhmer, Die Verwirkung im öffentlichen Recht, Bayer. Verwaltungsblätter, 2. Jahrgang (neue Folge) 1956 S. 173; Stich, Die Verwirkung prozessualer Befugnisse im Verwaltungsstreitverfahren, DVBl. 1956 S. 325). Im öffentlichen Recht hat der Verwirkungsgedanke allerdings wegen der besonderen Eigenart und Strenge dieses Rechtsgebiets begreiflicherweise nur zögernd und mit notwendigen Einschränkungen Eingang gefunden (Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I. Bd., Allgemeiner Teil, 4. Aufl. S. 145 u. 6. Aufl. S. 154). Die als Sonderfall der wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben unzulässigen Rechtsausübung gekennzeichnete Verwirkung unterscheidet sich vom pflichtwidrigen Handeln des Berechtigten und vom Ausschluß von Rechten durch bloßen Zeitablauf zufolge Verjährung oder Versäumung von Ausschlußfristen dadurch, daß es sich bei ihr stets nur um Fälle des Rechtsmißbrauchs handeln kann, die auf Tatbestand und Rechtsfolge einer illoyalen Verspätung der Rechtsausübung beruhen (Soergel a.a.O.). Hierin liegt das Wesensmerkmal der Verwirkung. Das bedeutet, daß der bloße Zeitablauf den Rechtsverlust durch Verwirkung allein nicht herbeiführen kann, daß vielmehr weitere Umstände hinzutreten müssen, welche die späte Geltendmachung oder Ausübung des Rechts mit der Wahrung von Treu und Glauben als nicht vereinbar und dem Rechtspartner gegenüber wegen des illoyalen Verhaltens des Berechtigten nicht als zumutbar erscheinen lassen. Daher kann die Untätigkeit des Berechtigten während einer längeren Zeitspanne allein nicht zur Verwirkung seines Rechts führen. Vielmehr ist hierfür ein weiteres unabdingbares Erfordernis, daß die andere Seite aus dieser Untätigkeit geschlossen haben muß, der Berechtigte werde von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen, und daß sie sich im Vertrauen hierauf in ihren Vorkehrungen und Maßnahmen entsprechend eingerichtet hat, d.h. ihr ein unbilliger zusätzlicher Nachteil zugefügt würde, wenn der Berechtigte nachträglich auf sein Recht zurückgreifen dürfte (RGZ. 158 S. 107; BGH. v. 27.6.1957 in JZ. 1957 S. 624 mit Anm. von Hueck; BGH. in MDR. 1951 S. 281; Das Bürgerliche Gesetzbuch, Kommentar, herausgegeben von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtern, a.a.O.; Soergel a.a.O.; Enneccerus-Nipperdey a.a.O. S. 989 Nr. 2; OVerwG. Hamburg v. 31.1.1958, DÖV. 1958 S. 307). Ist schon allgemein bei der Anwendung des Verwirkungsgedankens Vorsicht und Zurückhaltung geboten, da mit diesem Rechtsinstitut nicht bezweckt werden soll, den Leistungspflichtigen vorzeitig ohne zwingenden Grund von seiner ihm nach Gesetz und Vertrag obliegenden Verpflichtung zu befreien, so gilt dies für Ansprüche öffentlich-rechtlicher Art in besonderem Maße. Wie hierzu in der beamtenrechtlichen Entscheidung in RGZ. 158 S. 238 ff. (vgl. auch Böhmer a.a.O.) überzeugend ausgeführt ist, sind Ansprüche, die dem öffentlichen Recht angehören, Gesichtspunkten nicht verschlossen, wie sie sich allgemein für das bürgerliche Recht aus § 242 BGB ergeben; es muß sich allerdings bei der Rechtsgestaltung um Beziehungen handeln, deren sachgemäße Abwicklung nur möglich ist, wenn beide Teile ihr Verhalten in einer dem Erfordernis des § 242 BGB für das bürgerliche Recht entsprechenden Weise dem Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme unterstellen. So wird der Grundsatz von Treu und Glauben z.B. dann nur eingeschränkt anwendbar sein, wenn die rechtlichen Beziehungen wegen des Vorrangs der öffentlichen Interessen eine Verfügungsbefugnis der Beteiligten überhaupt ausschließen. Dieser Gedanke klingt auch in der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG.) vom 22. März 1956 (BSG. 2 S. 284 [288] an, indem dort die Frage gestellt worden ist, ob die Übertragung des Gedankens der Verwirkung auf das Gebiet des öffentlichen Rechts nur dann möglich sei, wenn es sich um Ansprüche handelt, die von einem Beteiligten geltend gemacht werden, der sich in einer einem privatrechtlichen Gläubiger vergleichbaren Stellung befindet. Soweit es sieh um Leistungsansprüche eines Berechtigten gegen einen Träger öffentlich-rechtlicher Verwaltung handelt, bestehen nach Ansicht des erkennenden Senats jedenfalls keine Bedenken, den Gedanken der Verwirkung auch auf das Gebiet der Sozialversicherung als ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts zu übertragen.
Das LSG. hat sonach den Unfallrentenanspruch des Klägers zu Recht unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung geprüft; fehl geht jedoch seine Annahme, die besonderen Voraussetzungen einer unzulässigen Rechtsausübung seien gegeben. Daß der Zeitablauf allein nicht zur Verwirkung führen kann, ist in dem angefochtenen Urteil nicht verkannt; denn es wird in den Entscheidungsgründen ausdrücklich hervorgehoben, daß ein Anspruch verwirkt ist, wenn seit der Möglichkeit seiner Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, auf Grund derer die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben empfunden wird. Zugunsten der Beklagten kann jedoch nicht der vom LSG. berücksichtigte Umstand verwertet werden, daß der Kläger während der fünf Jahre seines Schweigens ihr gegenüber sich bemüht habe, von einer Stelle außerhalb der Sozialversicherung eine Unfallentschädigung zu erhalten. Ein solches Verhalten war schon objektiv nicht geeignet, bei der Beklagten den Eindruck zu erwecken, daß der Kläger gegen sie keine Ansprüche mehr stellen werde; denn sie hatte, bevor das Rentenverfahren Anfang 1950 in Gang gebracht wurde, nach dem festgestellten Sachverhalt überhaupt nicht gewußt, daß er private Ansprüche gegen den "Raiffeisendienst" aus Anlaß des Unfalls vom 8. Oktober 1943 erhoben hatte. Im übrigen bot das Bemühen des Klägers um eine anderweite Unfallentschädigung aus privater Hand für die Beklagte auch keinen begründeten Anlaß, daraus zu schließen, daß er von der Geltendmachung seines gesetzlichen Unfallrentenanspruchs absehen werde; privatversicherungsrechtliche Ansprüche gegen Dritte berühren einen gesetzlichen Unfallentschädigungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte nicht. Schließlich scheitert die Annahme, die späte Geltendmachung des Anspruchs verstoße gegen Treu und Glauben, auch daran, daß die Beklagte dem Kläger nicht entgegenhalten könnte, sie habe sich in ihren finanziellen und verwaltungstechnischen Maßnahmen darauf eingerichtet, daß sie an ihn nicht mehr zu leisten habe. Es ist nicht ersichtlich, welcher Art die unbillige und zusätzliche Härte sein sollte, welche die Beklagte treffen würde, wenn sie sich im Vertrauen auf die Erledigung der Rentenangelegenheit getäuscht sehen mußte; denn es liegt im Wesen der Aufgaben und Finanzgebarung einer BG., daß sie einem gesetzlich begründeten, bei ihr fristgemäß angemeldeten Anspruch auf Unfallentschädigung grundsätzlich auch dann nicht mit dem Einwand der Unzumutbarkeit der Erfüllung begegnen kann, wenn der Berechtigte es jahrelang unterlassen hat, einen Anspruch auf Rente geltend zu machen.
Den für die Zeit von 1945 an bis zur Anmeldung im Januar 1950 erhobenen Anspruch des Klägers auf Unfallrente hat das LSG. daher zu Unrecht als verwirkt angesehen. Trotzdem bedarf die Frage, ob der Kläger für diese Zeit anspruchsberechtigt ist, im Hinblick auf Schwere und Dauer der Unfallfolgen der erneuten Prüfung nach weiterer Klärung des Sachverhalts durch das LSG. Bisher sind ausreichende Feststellungen in dieser Hinsicht nicht getroffen worden. Die Annahme, daß der Kläger durch die Unfallfolgen allenfalls bis Ende 1945 in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt gewesen sei, ist im Zusammenhang mit der Ablehnung des Rentenanspruchs für die Zeit nach der neuerlichen Anmeldung getroffen worden; sie kann daher nicht für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers hinsichtlich der Zeit von 1945 an verwertet werden. Im übrigen bedarf es noch der genauen zeitlichen Begrenzung der Anträge des Klägers. Aus diesen Gründen war das BSG. gehindert, selbst in der Sache zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG. in seinem abschließenden Urteil zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 926585 |
BSGE, 199 |
NJW 1958, 1607 |
MDR 1958, 801 |