Verfahrensgang
LSG Bremen (Urteil vom 26.01.1979) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. Januar 1979 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten in der Sache selbst darum, ob die klagende L…, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, Umlage für Konkursausfallgeld zu zahlen hat.
Die beklagte Berufsgenossenschaft verlangt von der Klägerin Umlage nach § 186c Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes – AFG – (Bescheid vom 6. Mai 1976; Widerspruchsbescheid vom 24. August 1976).
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die Anfechtungsklage durch Urteil vom 29. August 1977 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Bremen hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26. Januar 1979 der Klage stattgegeben. Es hat das Urteil am selben Tag durch Verlesen der Urteilsformel und Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Entscheidungsgründe verkündet. Das Urteil mit Tatbestand und Entscheidungsgründen ist jedoch erst aufgrund einer Verfügung der Geschäftsstelle vom 25. Januar 1980 der Klägerin am 25. Januar 1980 und der Beklagten am 28. Januar 1980 zugestellt worden.
Die Beklagte hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 186c Abs 2 AFG und beanstandet die späte Zustellung des angefochtenen Urteils.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG Bremen vom 26. Januar 1979 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Bremen vom 29. August 1977 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie wendet sich gegen ein wirksam gewordenes Berufungsurteil, gegen das die Revision zugelassen worden ist (§ 160 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 162, 164 SGG).
Die Revision ist auch begründet, denn dem LSG ist ein wesentlicher Verfahrensfehler unterlauten, der zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG führen muß.
Das LSG hat die Vorschriften über die schriftlichen Maß nahmen nach Urteilsverkündung (§§ 134 ff iVm § 153 Abs 1 SGG) verletzt, nämlich: Das Urteil ist mit Tatbestand und Entscheidungsgründen schriftlich abzufassen (§ 136 Abs 1 Nr 5 und 6 SGG) und von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben (§ 153 Abs 2 SGG); es ist den Beteiligten zuzustellen, was binnen zwei Wochen nach seiner Verkündung geschehen soll (§ 135 SGG).
Nach § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der nach § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, “wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist”. Da eine Entscheidung des LSG, bevor sie mit Gründen versehen ist, mit der Revision nicht angefochten werden kann, ergreift § 551 Nr 7 ZPO in der Sozialgerichtsbarkeit vorwiegend die Fälle, in denen die Entscheidung zwar tatsächlich mit Gründen versehen ist, diese Gründe aber unvollständig oder, wie hier, verspätet abgefaßt oder zugestellt worden sind.
Von welchem Zeitpunkt an ein Urteil infolge verspäteter Abfassung oder Zustellung “nicht mit Gründen versehen ist”, ist nicht gesetzlich geregelt. Die Fünfmonatsfrist, die der Bundesgerichtshof aus § 552 ZPO aF gefolgert hat (BGHZ 7, 155; LM Nr 6 zu § 551 Ziff 7 ZPO) ist jedenfalls nicht überzeugend auf das sozialgerichtliche Verfahren zu übertragen (vgl 6. Senat des Bundessozialgerichts – BSG – in SozR Nr 11 zu § 551 ZPO). Auch die Dreimonatsfrist des § 320 Abs 2 Satz 3 ZPO, die für den Antrag auf Tatbestandsberichtigung eines zivilgerichtlichen Urteils gilt und die als Fristbestimmung auch für die Zustellung eines verkündeten Urteils angesehen werden könnte (aA BAG AP Nr 1 zu § 60 ArbGG; Urteil des BAG vom 18. Juni 1980 – 4 AZR 532/78 – MdR 1981, 83; BGHZ 32, 17), ist für das sozialgerichtliche Verfahren kein geeigneter Anhalt. Denn hier beginnt die Antragsfrist für die Tatbestandsberichtigung erst mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefaßten Urteils (§ 139 Abs 1 SGG).
Daraus folgt aber nicht, für das Sozialgerichtsverfahren gelte überhaupt keine Frist, innerhalb der das Urteil schriftlich abgefaßt und zugestellt werden müsse. Während der 6. Senat des BSG (aaO) bei einer achtmonatigen Verzögerung in der Absetzung der Gründe eines Berufungsurteils § 551 Nr 7 ZPO nicht angewendet hat, hat der 8a Senat des BSG ausdrücklich entschieden, daß auch im sozialgerichtlichen Verfahren nicht davon abgesehen werden kann, daß für die Erfüllung der Pflichten der §§ 134 ff SGG eine Frist gilt, nach der keine Heilung mehr möglich ist (SozR 1750 § 551 Nr 8; vgl auch Zöller/Wolfsteiner, ZPO, 12. Aufl, 1979, § 551 Anm 1g).
Soweit der 6. Senat (aaO) – möglicherweise – den Eindruck vermittelt, daß im sozialgerichtlichen Verfahren eine wesentlich großzügigere Handhabung des § 551 Nr 7 ZPO angebracht sei, ist dem entgegenzuhalten, daß die vom Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren zur Durchführung der schriftlichen Maßnahmen nach Urteilsverkündung zu beachtenden Vorschriften nicht weniger streng als diejenigen des zivilgerichtlichen Verfahrens sind. § 134 Satz 2 SGG geht von dem Regelfall aus, daß das Urteil bei Verkündung schon vollständig schriftlich niedergelegt ist. Nur wenn dies nicht der Fall ist, soll es binnen dreier Tage nach der Verkündung der Geschäftsstelle in vollständiger Form übergeben werden. Nach § 135 SGG soll die Zustellung des Urteils binnen zweier Wochen nach seiner Verkündung geschehen. Daß die Fristen durch Soll-Vorschriften festgelegt sind, ändert nichts daran, daß nach Urteilsverkündung die schriftliche Verfahrensweise durch Muß-Vorschriften angeordnet ist, die nicht durch Zeitablauf umgangen werden dürfen.
Für eine möglichst kurze Frist spricht nicht nur der allgemeine Grund, daß der Rechtsschutz beschleunigt werden muß, sondern auch, daß der Rechtsschutz immer stärker beeinträchtigt wird, je länger nach der Verkündung eines Urteils mit der schriftlichen Verlautbarung abgewartet wird. Nach einer unangemessen langen Zeit geben die Gründe nicht mehr mit hinreichender Sicherheit die Gründe wieder, die für das Urteil tatsächlich maßgebend waren. Ferner wird der Angriff gegen ein solches Urteil erschwert, weil die Ergebnisse der mündlichen Verhandlung auch in der Erinnerung der Beteiligten verblassen. Der 8a Senat des BSG (aaO) hat bei einem Verzug von zwei Jahren und vier Monaten die dann vorgelegten Gründe nicht mehr als die Gründe im Sinne des § 551 Nr 7 ZPO beurteilt. Aber auch dann, wenn – wie hier – zwischen der Entscheidung und ihrer schriftlichen Verlautbarung etwa ein Jahr liegt, sind die Gründe nicht mehr hinzunehmen, und zwar auch dann nicht, wenn – wie hier – keine Beweiswürdigung erforderlich war. Ob bei einer kürzeren Zeitspanne zwischen der Verkündung eines Urteils und der schriftlichen Verlautbarung im Einzelfall geprüft werden muß, inwieweit die Gründe noch hinzunehmen sind, kann hier dahinstehen.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat zwar in Anwendung der §§ 133 Nr 5 und 138 Nr 6 der Verwaltungsgerichtsordnung – sie entsprechen § 551 Nr 7 ZPO – ausgeführt, eine generell bestimmbare Grenze sei nicht festzulegen, ein Urteil sei nur dann “nicht mit Gründen versehen”, wenn außer dem Zeitablauf ein Anhalt dafür bestehe, daß die schriftlichen Entscheidungsgründe nicht zuverlässig die Gründe wiedergeben, die für die richterliche Urteilsbildung leitend gewesen seien (BVerwGE 49, 61; 50, 278; BVerwG, Urteil vom 7. Februar 1980, NJW 1980, 1865). Eine Überschreitung von einem Jahr hat es aber ebenfalls als absoluten Verfahrens fehler mißbilligt (BVerwGE 49, 61). Auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) läßt in den Gründen seines Urteils vom 18. Juni 1980 (aaO) erkennen, daß es bei einem Zeitablauf von einem Jahr nicht ausschließen will, daß § 551 Nr 7 ZPO anzuwenden ist.
Nach § 551 Nr 7 ZPO, § 202 SGG ist der Senat von Amts wegen verpflichtet, das angefochtene Urteil aufzuheben; dabei ist es unerheblich, ob es auf der verspäteten Begründung beruht. Das Fehlen von Gründen gebietet, daß der Begründungsmangel auch ohne formgerechte Rüge berücksichtigt wird. Denn es fehlt die zuverlässige Grundlage für die revisionsgerichtliche Überprüfung (vgl BVerwGE 50, 278, 279).
Durchgreifende Bedenken gegen die Verfahrensweise des LSG, die bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung zu beachten wären, fehlen. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, daß unentschieden geblieben ist, ob Streitigkeiten wegen einer Umlageverpflichtung nach § 186c AFG Angelegenheiten der Bundesanstalt für Arbeit (BA) oder Angelegenheiten der Sozialversicherung sind.
Da das Vorverfahren durchgeführt worden ist, braucht nicht geklärt zu werden, ob der Widerspruch als Klage hätte behandelt werden dürfen, was nach § 85 Abs 4 SGG nur in Angelegenheiten der Sozialversicherung, nicht aber in Angelegenheiten der BA zulässig gewesen wäre. Da der 5. Senat des LSG, der hier entschieden hat, nach dem Geschäftsverteilungsplan des LSG Bremen für das Geschäftsjahr 1979 für Angelegenheiten der BA und auch für die Streitigkeiten zuständig war, die – wie die Streitigkeiten nach § 186c AFG – keinem anderen Senat zugeteilt worden sind, greifen Zweifel an der vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 551 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG) nicht durch. Zwar ist die Bildung von Fachsenaten in der Sozialgerichtsbarkeit durch Gesetz vorgeschrieben (§ 31 SGG). Es besteht aber kein Grund anzunehmen, daß einem Senat für Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der übrigen Aufgaben der BA (§ 31 Abs 1 Satz 1 SGG) nur solche Angelegenheiten und Aufgaben zugeteilt werden dürfen. Das Gesetz verlangt eigene Senate ausdrücklich nur für Angelegenheiten des Kassenarztrechts (§ 31 Abs 2 SGG) und – bei Bedarf – für Angelegenheiten der Knappschaftsversicherung einschließlich der Unfallversicherung für den Bergbau (§ 31 Abs 1 Satz 2 SGG). Sinngemäß wird ein eigener Senat auch für die Kriegsopferversorgung verlangt, weil für diese Senate besondere Besetzungsvorschriften hinsichtlich der ehrenamtlichen Richter gelten (vgl § 35 Abs 1 Satz 2, § 12 Abs 4, § 13 Abs 5, § 14 Abs 4 SGG). Die Meinung, auch für Angelegenheiten der BA müsse ein eigener Senat gebildet werden, dem keine Angelegenheiten der Sozialversicherung zugewiesen werden dürften, kann sich nur auf die Aufzählung in § 31 Abs 1 Satz 1 SGG stützen. Es muß bezweifelt werden, ob diese Aufzählung überhaupt eine Trennung will, denn die Aufzählung erklärt sich schon daraus, daß das SGG von dem herkömmlichen und nicht von dem sachlichen Begriff der Sozialversicherung ausging, so daß die Arbeitslosenversicherung besonders erwähnt werden mußte (vgl zum Begriff der Sozialversicherung: Meyer-Ladewig, SGG, § 51 Anm 22; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: August 1980, S. 79). Es kann aber jedenfalls nicht der Sinn der Aufzählung sein, ein Fachgebiet der Sozialversicherung, wie das Recht des Konkursausfallgeldes, das Jahrzehnte nach dem SGG geschaffen worden ist, gerichtsverfassungsrechtlich nach früheren begrifflichen Vorstellungen von der Sozialversicherung aufzuteilen. Es fehlt jeder zwingende Grund, das Recht des Konkursausfallgeldes nur deshalb zwei “eigenen” Senaten zuzuteilen, weil es leistungsrechtlich von der BA und beitragsrechtlich von Trägern der Unfallversicherung durchgeführt wird. Auch wenn man den beitragsrechtlichen Teil des Rechts des Konkursausfallgeldes als eine Angelegenheit der traditionellen Sozialversicherung ansieht, wäre es nicht zu beanstanden, diesen Teil einem im übrigen für Angelegenheiten der BA zuständigen Senat zuzuteilen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
BSGE, 122 |
Breith. 1981, 833 |