Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Juli 1966 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin erkrankte im Dezember 1961 während ihrer Beschäftigung als Schwesternschülerin an einer fieberhaften Lungeninfiltration. Sie wurde deswegen vom 29. Dezember 1961 bis 21. Januar 1962 in der Medizinischen Universitätsklinik Kiel behandelt und im unmittelbaren Anschluß daran einem Heilverfahren in der Lungenheilstätte Oberkaufungen bis zum 19. Juli 1962 unterzogen.
Im März 1962 erstattete die Schwesternschaft Helenenstift vom Deutschen Roten Kreuz in Hamburg-Altona die Anzeige über eine Berufskrankheit (BK). Auf Grund der ärztlichen Unterlagen lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung durch Bescheid vom 14. Oktober 1964 ab.
Die Klage gegen diesen Bescheid ist vom Sozialgericht (SG) Itzehoe abgewiesen worden.
Im Berufungsverfahren haben die Beteiligten am 5. November 1965 folgenden Vergleich geschlossen:
„Die Beklagte erteilt der Klägerin einen neuen Bescheid, in welchem sie die Tuberkuloseerkrankung in den Jahren 1961/1962 als Berufskrankheit anerkennt und eine Rente gewährt nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 % für die Zeit vom 30. Dezember 1961 bis 19. Juli 1962.
Die Beklagte behält sich das Recht vor, diesen Vergleich bis zum 30. November 1965 durch Anzeige zu den Gerichtsakten zu widerrufen.”
Nach fruchtlosem Ablauf der Widerspruchsfrist ist der Beklagten bewußt geworden, daß sich die Klägerin während der Zeit, für die ihr in dem Vergleich Rente zugesprochen worden war, in Heilanstaltpflege befand und demzufolge während dieser Zeit nach § 559 e Reichsversicherungsordnung alter Fassung (RVO aF), § 1524 Abs. 2 Satz 1 RVO Rente wegfiel.
Am 31. Januar 1966 hat die Beklagte daraufhin beim Landessozialgericht (LSG) beantragt, das Berufungsverfahren fortzusetzen und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Sie begründet ihr Begehren wie folgt: Dem Vertreter der Beklagten in der Berufungsverhandlung hätten die Unterlagen nicht zur Verfügung gestanden, aus denen er hätte erkennen können, daß der Vergleich gegen das materielle Recht verstoße. Vergleiche dürften in der Sozialgerichtsbarkeit jedoch nur insoweit geschlossen werden, als der Versicherungsträger über den Gegenstand der Klage verfügen könne. Der Vergleich müsse sich also im Rahmen des objektiven Rechts halten. Da ein Prozeßvergleich unwirksam sein könne und dies unter den vorliegenden Umständen der Fall sei, werde die Unwirksamkeit des Vergleichs vom 5. November 1965 geltend gemacht.
Das LSG hat durch Urteil vom 15. Juli 1966 entschieden:
„Der Rechtsstreit der Beteiligten L 3 – U 42/65 ist durch den Prozeßvergleich vom 5. November 1965 erledigt worden.”
Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Die Beklagte fechte den Vergleich nicht wegen Irrtums an; sie mache vielmehr die Unwirksamkeit des Vergleichs wegen Verstoßes gegen materielles Recht geltend. Hierfür könne sie sich nicht mit Erfolg auf § 101 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stützen. Nach dieser Vorschrift seien die Beteiligten zwar nur insoweit befugt, einen Vergleich zu schließen, als sie über den Gegenstand der Klage verfügen könnten. Das bedeute jedoch lediglich, daß die Verwaltung formell befugt sein müsse, einen dem Vergleich entsprechenden Verwaltungsakt zu erlassen (vergl. BVerwGE 14, 103). Dies sei hier der Fall. Im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit übersteige anerkanntermaßen das „Verfügen-Können” einer Verwaltung ihr „Verfügen-Dürfen”, § 101 Abs. 1 SGG habe die Wirksamkeit eines Prozeßvergleichs danach abgegrenzt, in welchem Ausmaß sich die Verwaltung auch sonst wirksam binden könne. Der Prozeßvergleich binde in seinem vertraglichen Bestandteil die Verwaltung daher ebenso wie ein Verwaltungsakt. Dieser sei, wenn er gegen materielles Recht verstoße, nur anfechtbar, es sei denn, er sei wegen schwerwiegender Mängel nichtig. So könnten auch zur Unwirksamkeit von Prozeßvergleichen nur diejenigen Gesetzesverstöße führen, welche bei Verwaltungsakten Nichtigkeit zur Folge hätten. Der Prozeßvergleich verlöre seine Bedeutung als hervorragendes Mittel zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens, wenn seine Wirksamkeit von der Gesetzmäßigkeit des Inhalts abhinge. Gerade das Vertrauen auf die Bestandskraft des Vergleichs veranlasse den Prozeßgegner, das sichere Weniger dem geforderten Ungewissen Mehr vorzuziehen. Ein bindender Verwaltungsakt, dem der gleiche Mangel anhaften würde wie dem Prozeßvergleich im vorliegenden Fall, wäre in seiner Bestandskraft nicht berührt worden.
Die Revision ist zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 6. Oktober 1966 zugestellt worden. Sie hat gegen das Urteil am 27. Oktober 1966 Revision eingelegt und diese am 2. November 1966 begründet.
Die Beklagte beantragt,
- das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Itzehoe vom 6. April 1965 zurückzuweisen,
hilfsweise,
- unter Änderung des erstinstanzlichen Urteils und des Bescheides der Beklagten vom 14. Oktober 1964 festzustellen, daß die Klägerin im Dezember 1961 an einer von der Beklagten zu entschädigenden BK im Sinne der Nr. 39 der Anlage zur 6. Berufskrankheiten-Verordnung vom 28. April 1961 erkrankte, oder
- die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin hat zur Sache keine Erklärung abgegeben.
Die Beklagten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig; sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Die Auffassung des LSG, der Rechtsstreit sei durch den von den Beteiligten am 5. November 1965 über den Klaganspruch auf Grund des § 101 Abs. 1 SGG geschlossenen Vergleich erledigt worden, ist frei von Rechtsirrtum. Zwar hat sich die Beklagte durch diesen Prozeßvergleich zur Gewährung einer Leistung an die Klägerin verpflichtet, auf welche diese keinen Anspruch hat. Die Klägerin befand sich während der ganzen Zeit, für die ihr durch den Vergleich die volle Rente zugebilligt worden ist, wegen eines Lungenleidens in stationärer Heilbehandlung.
Dies hatte nach § 559 e der bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes –UVNG– vom 30. April 1963 (BGBl I 241) geltenden Fassung der RVO aF zur Folge, daß für diese Zeit die Rente aus der Unfallversicherung wegfiel. Die Beklagte hat dies beim Abschluß des Vergleichs vor dem LSG versehentlich nicht beachtet. Dieser Umstand macht jedoch entgegen der Ansicht der Beklagten den Vergleich nicht rechtsunwirksam.
Nach § 101 Abs. 1 SGG können die Beteiligten zur Erledigung des geltend gemachten Anspruches vor Gericht einen Vergleich schließen, soweit sie über den Gegenstand der Klage verfügen können. Diese Verfügungsbefugnis hat das LSG, wie die Ausführungen des angefochtenen Urteils erkennen lassen, dahin verstanden, daß sich der in Anspruch genommene Versicherungsträger auch bei der Regelung eines Klaganspruchs im Vergleichswege zwar nicht über den das Verwaltungshandeln beherrschenden Grundsatz der Gesetzmäßigkeit hinwegsetzen darf, daß aber ein gegen das objektive Recht verstoßender Prozeßvergleich ebensowenig wie ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts allein wegen einer solchen Fehlerhaftigkeit unwirksam sei. Hiermit hat das LSG die für die Bestandskraft eines Verwaltungsakts geltenden Grundsätze (vgl. BSG 18, 84 ff) auch für die Wirksamkeit eines Prozeßvergleichs als maßgebend erachtet. Es hat somit zwischen der Zulässigkeit und der Wirksamkeit eines materiell-rechtlich fehlerhaften Prozeßvergleichs unterschieden.
Diese Betrachtungsweise trifft nach der Auffassung des erkennenden Senats zu. Sie wird im Schrifttum, soweit dort zu der Frage der Wirksamkeit eines dem objektiven Recht widersprechenden Prozeßvergleichs überhaupt Stellung genommen wird, allerdings nicht einhellig geteilt (Delitz, VersorgB 1960, 93, 95; Finke, JR 1967, 293; Pyrzek, Die Arbeiterversorgung 1963, 146; Dapprich, Die Sozialversicherung der Gegenwart, Bd. 3, 1964 So 79 ff; Gierling, KrV 1964, 162; von Zastrow, JR 1967, 5; Haueisen, DOK 1967, 305). Auch soweit in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), und zwar in den Urteilen des 4. Senats vom 25. Oktober 1956 (BSG 4, 31, 34) und des 7. Senats vom 19. Dezember 1961 (BSG 16, 61, 63), zur Frage der Verfügungsbefugnis der Versicherungsträger im Sinne des § 101 Abs. 1 SGG Stellung genommen wird, ist lediglich ausgesprochen, daß die Versicherungsträger im Wege des Vergleichs nicht andere als die gesetzlich oder satzungsmäßig vorgesehenen Leistungen gewähren und auch nicht die vorgesehenen Leistungen gewähren könnten, ohne daß die gesetzlichen Voraussetzungen vorlägen. Daraus ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob nur zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß sich ein Versicherungsträger durch einen Vergleich nicht zu einer gesetzwidrigen Leistung verpflichten dürfe, oder ob auch der Standpunkt vertreten werden sollte, daß ein zu einer solchen Leistung verpflichtender Vergleich grundsätzlich unwirksam sei. Dies kann indessen unerörtert bleiben; denn inzwischen haben die beiden Senate aus Anlaß einer Entscheidung des 11. Senats des BSG erklärt, daß nach ihrer Auffassung die Wirksamkeit eines Prozeßvergleichs nicht von der Richtigkeit seines materiell-rechtlichen Inhalts abhängig sei. In diesem Sinn hat der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 28. April 1967 – 11 RA 138/66 – (BSG 26, 210 = SozR Nr. 8 zu § 101 SGG) die Frage der Wirksamkeit eines gegen das objektive Recht verstoßenden Prozeßvergleichs entschieden. In den Entscheidungsgründen dieses Urteils, auf die im einzelnen Bezug genommen wird, ist im wesentlichen ausgeführt, daß durch einen Prozeßvergleich der Rechtsstreit nach § 101 Abs. 1 SGG beendet werde, wenn der beklagte Versicherungsträger den im Streit befindlichen Anspruch durch einen Verwaltungsakt hätte regeln können; dabei komme es nicht darauf an, ob er dies tun dürfe, sondern darauf, ob er das habe tun können; diese Machtbefugnis sei ihm gegeben, wenn er eine entsprechende Regelung durch einen Verwaltungsakt hätte treffen können, der auch im Falle einer mit dem objektiven Recht nicht im Einklang stehenden Leistungsgewährung wirksam und nicht nichtig gewesen wäre. Die in diesem Urteil dargelegte Rechtsauffassung gipfelt darin, daß der Versicherungsträger wie beim Erlaß eines Verwaltungsakts auch beim Abschluß eines Prozeßvergleichs zwar den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu beachten habe, also nicht Leistungen gewähren dürfe, für welche die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien, daß aber trotzdem ein materiell-rechtlich unrichtiger Prozeßvergleich nicht ohne weiteres unwirksam sei, da sich das „Verfügen-Können” im Sinne des § 101 Abs. 1 SGG nicht mit dem „Verfügen-Dürfen” decke. Ob und in welchen Fällen ein Vergleich ebenso wie ein Verwaltungsakt nichtig ist, wenn besonders schwere und offensichtliche Mängel gegeben sind, hat der 11. Senat offen gelassen. Diese Frage brauchte auch im vorliegenden Streitfall nicht entschieden zu werden, da auch hier keine Gründe gegeben sind, die einen Verwaltungsakt gleichen Inhalts nichtig machen würden (vgl. BSG 24, 162 = SozR Nr. 108 zu § 54 SGG). Der erkennende Senat schließt sich – in den wesentlichen Punkten in Übereinstimmung mit dem LSG – der Rechtsauffassung des 11. Senats zur Auslegung des § 101 Abs. 1 SGG an. Dieser Auffassung steht auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung des dem § 101 Abs. 1 SGG im wesentlichen wörtlich entsprechenden § 106 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht entgegen (BVerwGE 14, 103; 17, 87, 93, 94).
Ob und inwieweit freilich die Rechtslage anders zu beurteilen wäre, wenn sich der beklagte Versicherungsträger im Wege des Prozeßvergleichs bewußt und gewollt zu einer dem objektiven Recht widersprechenden Leistung verpflichtet hätte, konnte ungeprüft bleiben, da ein solcher Fall unzweifelhaft nicht zu entscheiden war.
Die Revision hat keine Gesichtspunkte geltend gemacht, welche den Bestand des angefochtenen Urteils in Frage stellen könnten. Soweit sie sich auf die Rechtsprechung des 4. und 7. Senats stützt, ist ihr die durch die vorstehend angeführten Äußerungen dieser Senate ohne weiteres der Boden entzogen.
Die Revision ist sonach unbegründet und mußte zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht auf Grund des § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Bundesrichter Dr. Kaiser ist durch Urlaub an der Unterschriftsleistung verhindert. Brackmann, Hunger
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 02.10.1967 durch Bohl RegHauptsekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 707717 |
NJW 1968, 176 |
MDR 1968, 88 |