Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs. Allgemeinkundigkeit von Tatsachen, die das Gericht aus einem berufskundlichem Sammelwerk entnimmt
Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch auf rechtliches Gehör kann verletzt sein, wenn das Gericht eine von dem beklagten Versicherungsträger genannte Verweisungstätigkeit als ungeeignet ansieht, ohne zuvor darauf hinzuweisen, welche besonderen Anforderungen diese Tätigkeit seiner Ansicht nach an die Leistungsfähigkeit des Versicherten stellt. Ein entsprechender Hinweis ist nicht schon wegen einer generell anzunehmenden Allgemeinkundigkeit solcher Tatsachen entbehrlich, die das Gericht einem weit verbreiteten berufskundlichen Sammelwerk entnimmt.
Normenkette
SGG § 62; SGB VI §§ 43-44
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Die 1955 geborene Klägerin arbeitete von 1970 bis 1985 als Montiererin. Auf ihren Antrag vom 28. November 1985 erhielt sie von der Beklagten von November 1985 bis Dezember 1991 EU-Rente auf Zeit (Bescheide vom 3. März 1986, 19. Dezember 1988, 29. Januar 1990 und 30. November 1990). Den Antrag der Klägerin vom 4. Oktober 1991 auf Weitergewährung der Rente über den 31. Dezember 1991 hinaus lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 7. Mai 1992 ab, den Widerspruch der Klägerin wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 5. April 1993). Das Sozialgericht Ulm (SG) hat die von der Klägerin hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1993). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin, die keinen Beruf erlernt habe, könne noch leichte Arbeiten ohne volle Gebrauchsfähigkeit der rechten (Gebrauchs-) Hand vollschichtig verrichten; ihr sei mithin der Arbeitsmarkt nicht verschlossen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Januar 1992 EU-Rente zu gewähren (Urteil vom 19. September 1994). Es hat seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Da die Klägerin ihre rechte Hand, die ständige Gebrauchshand sei, nur noch stark eingeschränkt benutzen könne, sei sie faktisch als Einhänderin zu betrachten. Aus diesem Grunde liege bei ihr eine schwere spezifische Leistungsbeeinträchtigung iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vor. Ihr sei mithin ein konkreter Verweisungsberuf nachzuweisen. Dem Senat sei jedoch keine entsprechende Tätigkeit bekannt.
Die Beklagte habe allein die Tätigkeit als Pförtnerin genannt. Darauf könne die Klägerin aber nicht zumutbar verwiesen werden. Sie erfülle die in dem (von der Bundesanstalt für Arbeit herausgegebenen) "Grundwerk ausbildungs- und berufskundlicher Informationen - gabi - " (Nr 791b ≪Werkschutzleute, Pförtner/in≫) genannten körperlichen Anforderungen für eine Pförtnertätigkeit, die nach der jeweiligen Arbeitsplatzsituation in der Regel mit Nebentätigkeiten verbunden sei, bei weitem nicht. Dort würden als wesentliche körperliche Eignungsvoraussetzungen ua Körpergewandtheit, körperliche Belastbarkeit, Funktionstüchtigkeit der Wirbelsäule sowie der Arme und Beine angegeben, über welche die Klägerin nicht verfüge. Sofern solche Arbeitsplätze auch für Behinderte mit relativ leichten Behinderungen in Frage kämen, sei die Tendenz stark rückläufig, wobei auch "erhebliche Ausfälle der oberen Gliedmaßen" zur Nichteignung führten. Zudem seien Arbeitsplätze für Pförtner in Betrieben nach wie vor geeignete "Schonarbeitsplätze"; insoweit stütze sich der Senat auf die dem "gabi" zugrundeliegenden berufskundlichen Untersuchungen und Erhebungen. Weitere Ermittlungen zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes für die Tätigkeit als Pförtnerin erübrigten sich aber, weil die Klägerin wegen ihrer faktischen Einhändigkeit bereits den körperlichen Anforderungen dieser Tätigkeit nicht gewachsen sei.
Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend: Die Feststellungen des LSG über die Anforderungen der Tätigkeit als Pförtnerin, die dafür erforderlichen körperlichen Eignungsvoraussetzungen und die Nichteignung dieser Tätigkeit als Behindertenarbeitsplatz bei erheblichen Ausfällen der oberen Gliedmaßen seien verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Insoweit sei ihr Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß §§ 62, 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Das LSG stütze seine Entscheidung auf die nicht in den Prozeß eingeführte Gerichtskunde, daß eine Pförtnertätigkeit in der Regel mit Nebentätigkeiten verbunden sei, was eine erhöhte Belastbarkeit voraussetze; es habe ihr nicht mitgeteilt, daß es diese Tatsachen als festgestellt ansehen wolle. Hierdurch sei sie überrascht worden. Das LSG habe es versäumt, ihr vor seiner abschließenden Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesen Erkenntnissen zu geben.
Das angefochtene Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensverstoß. Bei einem entsprechenden Hinweis des Gerichts hätte sie nämlich vorgetragen: Bei einer Rechtshänderin komme trotz fehlender Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand bei ansonsten vollschichtiger Leistungsfähigkeit eine Verweisung auf die Tätigkeit einer Nebenpförtnerin in Betracht. Diese Tätigkeit erfordere keine volle Einsatzfähigkeit beider Hände, sondern lediglich die - bei der Klägerin vorhandene - Möglichkeit, die rechte Hand als Stütz- und Beihand zu gebrauchen. Ergänzend hätte sie auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28. Oktober 1993 - L 3 J 168/92 - hingewiesen. Eine aufgrund dieses Vortrages durchgeführte Beweiserhebung hätte ergeben, daß die Nebenpförtnerin im wesentlichen mit beaufsichtigenden Tätigkeiten betraut sei, für die es keiner vollen Gebrauchstauglichkeit der rechten Hand bedürfe. Weiter hätte sich ergeben, daß entsprechende Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden seien.
Außerdem verletze das Berufungsurteil die §§ 43 Abs 2, 44 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI). Als ungelernte bzw angelernte Montagearbeiterin sei die Klägerin auf alle ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Auch unter Berücksichtigung der spezifischen Leistungseinschränkung könne nicht davon ausgegangen werden, daß dort für sie keine zumutbare Verweisungstätigkeit vorhanden sei. Im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur vollschichtigen Ausübung eines zumutbaren Verweisungsberufs der Nebenpförtnerin liege bei der Klägerin BU nicht vor; dies gelte erst recht für das Vorliegen von EU.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 19. September 1994 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Ulm vom 10. Dezember 1993 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Die Beklagte könne wegen des vom LSG gegebenen Hinweises auf die in Betracht kommende Notwendigkeit der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht geltend machen, von einer Überraschungsentscheidung betroffen worden zu sein. Auf die in diesem Hinweis angesprochene Problematik sei sie nicht eingegangen. Es gebe keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichte, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Im übrigen sei es auch gerichtsbekannt, daß Arbeitsplätze, die für ungelernte und angelernte Arbeiter geeignet seien, die nur noch körperlich leichte Arbeiten mit weit weniger spezifischen Einschränkungen als die Klägerin verrichten könnten, regelmäßig nur an Angehörige des eigenen Betriebes vergeben würden und damit für Betriebsfremde nicht als Eingangsstellen in Betracht kämen. Außerdem habe der 6-jährige Zeitrentenbezug am 31. Oktober 1991 geendet, so daß ihr nach § 102 Abs 2 Satz 4 SGB VI ab dem 1. November 1991 eine Dauerrente zustehe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung nicht zu.
Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen EU oder BU richtet sich nach §§ 43, 44 SGB VI, denn ihr Rentenantrag vom 4. Oktober 1991 bezieht sich ausschließlich auf die Zeit ab 1. Januar 1992 (vgl § 300 Abs 1, 2 SGB VI).
Nach § 43 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen BU, wenn sie berufsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der BU drei Jahre Pflichtbeitragszeiten und vor Eintritt der BU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Berufsunfähig sind nach § 43 Abs 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Ob diese oder sogar die noch höhere Anforderungen an die Einschränkung der Leistungsfähigkeit stellenden Voraussetzungen für das Vorliegen von EU (vgl § 44 Abs 2 SGB VI) gegeben sind, kann der erkennende Senat anhand der berufungsgerichtlichen Feststellungen nicht abschließend beurteilen.
Ausgangspunkt für die Prüfung der BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der "bisherige Beruf", den die Versicherte ausgeübt hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 169). In der Regel ist dies die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, von der auch bei nur kurzfristiger Ausübung auszugehen ist, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben der Versicherten gewesen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 130, 164).
Zutreffend ist das LSG danach davon ausgegangen, daß der bisherige Beruf der Klägerin der einer Montiererin ist. Aus den berufungsgerichtlichen Feststellungen ist jedenfalls nicht ersichtlich, daß die Klägerin im Laufe ihres Berufslebens andere Tätigkeiten mit einer höheren Wertigkeit verrichtet hätte. Ob sie diese Tätigkeit noch ausüben kann, ist dem Berufungsurteil zwar nicht ausdrücklich zu entnehmen. Offenbar ist das LSG aber ohne weiteres davon ausgegangen, daß ihr dies aufgrund der von ihm festgestellten starken Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand nicht mehr möglich ist. Damit ist die Klägerin aber noch nicht berufsunfähig. Dies ist vielmehr erst dann der Fall, wenn ihre Erwerbsfähigkeit auch nicht mehr für eine zumutbare Verweisungstätigkeit ausreicht.
Die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Dementsprechend werden die Gruppen durch den Leitberuf der Vorarbeiterin mit Vorgesetztenfunktion bzw der besonders hoch qualifizierten Facharbeiterin, der Facharbeiterin (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), der angelernten Arbeiterin (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von drei Monaten bis zu zwei Jahren) und der ungelernten Arbeiterin charakterisiert (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 138, 140). Die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend hierfür ist vielmehr allein die Qualität der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 27, 33). Grundsätzlich darf die Versicherte im Vergleich zu ihrem bisherigen Beruf auf die nächstniedrigere Gruppe verwiesen werden (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 mwN; SozR 3-2200 § 1246 Nr 5).
Das LSG hat den bisherigen Beruf der Klägerin, den es als "ungelernt bzw angelernt" bezeichnet hat, keiner Gruppe des Mehrstufenschemas ausschließlich zugeordnet. Augenscheinlich wollte es mit seiner Formulierung "ungelernte bzw angelernte Montagearbeiterin" vielmehr offenlassen, ob die Klägerin dem unteren Bereich der Gruppe der angelernten oder der Gruppe der ungelernten Arbeiterinnen zuzuordnen ist. Allerdings ist nicht zu erkennen, woraus es entnommen hat, daß gerade dieses Spektrum der Qualität der beruflichen Tätigkeit vorliegt und die Klägerin nicht etwa dem oberen Bereich der Angelernten zuzuordnen ist. Das LSG hat nämlich keinerlei Feststellungen getroffen, aus denen auf die Wertigkeit des bisherigen Berufs der Klägerin geschlossen werden könnte. Es finden sich weder Erkenntnisse über die Dauer der regelmäßigen Anlernzeit noch über sonstige wertbildende Faktoren der Tätigkeit.
Hiergegen wäre nichts einzuwenden, wenn mit dem LSG davon auszugehen wäre, daß die Klägerin nicht mehr in der Lage ist, irgendeine konkret zu bezeichnende berufliche Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angeboten wird, vollschichtig zu verrichten. Davon wären dann nämlich auch solche Tätigkeiten erfaßt, welche die besonderen Anforderungen an zumutbare Verweisungstätigkeiten für angelernte Arbeiterinnen des oberen Bereichs erfüllen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 45). Eine Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten hat indes in jedem Fall zu erfolgen, weil mit dem LSG anzunehmen ist, daß bei der Klägerin angesichts der festgestellten erheblichen Einschränkung der Gebrauchstauglichkeit ihrer rechten Hand eine schwere spezifische Leistungseinschränkung vorliegt, die Zweifel an einer normalen betrieblichen Einsatzfähigkeit auch für leichtere Tätigkeiten gerechtfertigt erscheinen läßt und daher nach der ständigen Rechtsprechung des BSG die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich macht (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 mwN).
Das Berufungsgericht ist zwar zu dem Ergebnis gekommen, eine Tätigkeit, auf welche die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen zumutbar verwiesen werden könne, sei nicht vorhanden. Seine tatsächlichen Feststellungen, die diesem Schluß zugrunde liegen, sind jedoch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Dies hat die Beklagte auch mit einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge angegriffen. Da der erkennende Senat die erforderlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht selbst treffen kann (vgl § 163 SGG), ist eine Zurückverweisung der Sache an das LSG gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG geboten.
Das LSG hat seine Schlußfolgerung, es gebe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine für die Klägerin zumutbare Verweisungstätigkeit, zum einen darauf gestützt, daß ihm keine solche Tätigkeit bekannt sei. Es ist zwar nicht ersichtlich, ob es sich insoweit um eine bloße subjektive Unkenntnis des Gerichts, das Ergebnis nicht mitgeteilter Ermittlungen oder Gerichtskunde handelt; insoweit hat die Beklagte allerdings keine Rügen erhoben. Zum anderen hat das Berufungsgericht seinen Schluß mit der Feststellung belegt, die von der Beklagten insoweit genannte Tätigkeit als Pförtnerin habe - wie sich aus "gabi" ergebe - als wesentliche körperliche Eignungsvoraussetzungen ua Körpergewandtheit, körperliche Belastbarkeit, Funktionstüchtigkeit der Wirbelsäule sowie der Arme und Beine zur Voraussetzung. Hierzu macht die Beklagte geltend, sie sei von diesen auf Gerichtskunde beruhenden tatsächlichen Feststellungen überrascht worden; hätte das LSG sie darauf hingewiesen, hätte sie die Tätigkeit der Nebenpförtnerin benannt, bei der diese Voraussetzungen nicht gegeben seien.
Der Anspruch einer Beteiligten auf rechtliches Gehör iS der §§ 62, 128 Abs 2 SGG ist verletzt, wenn das Gericht sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligte nicht äußern konnte; dies gilt auch dann, wenn diese als gerichtskundig behandelt werden (vgl BSG SozR 1500 § 62 Nrn 3, 11, 23). Das Gericht muß die Beteiligten demnach über die für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen vorher unterrichten, ihnen insbesondere auch Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 98). Daran fehlt es hier.
Das LSG hat seine Entscheidung ua auf aus dem "gabi" gewonnene Erkenntnisse (Tatsachen) gestützt, die nach dem Vortrag der Beklagten, dem die Klägerin nicht widersprochen hat und dessen Richtigkeit auch nicht durch die Sitzungsniederschrift des LSG oder den sonstigen Akteninhalt widerlegt wird, den Beteiligten zuvor nicht zur Kenntnis gebracht worden sind. Der knappe Hinweis auf die schwere spezifische Leistungseinschränkung und die Notwendigkeit zur Benennung mindestens einer konkreten Verweisungstätigkeit, den das LSG den Beteiligten im Zuge des Berufungsverfahrens gegeben hat, reicht hierzu nicht aus. Die Beklagte konnte nicht von sich aus alle denkbaren Erkenntnismöglichkeiten über die Anforderungen an den Beruf der Pförtnerin aufspüren, um möglicherweise auf die dann vom Gericht für zutreffend erachteten, aber nicht bekanntgegebenen Tatsachen zu stoßen und dazu Ausführungen zu machen.
Bei diesen Tatsachen handelte es sich auch nicht um allgemeinkundige Tatsachen, auf die ein Gericht seine Entscheidung stützen kann, ohne auf deren Verwertung vorher hinweisen zu müssen. Diese Ausnahme von der grundsätzlichen Verpflichtung des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs gilt nur für diejenigen Tatsachen, welche allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen diese auch wissen, daß sie für die Entscheidung erheblich sein können (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 15). Zwar handelt es sich bei "gabi" um ein für die Gewinnung berufskundlicher Kenntnisse geeignetes Sammelwerk, jedoch nicht um das einzige oder auch nur überwiegend von den mit diesen Fragen befaßten Stellen und Personen benutzte Erkenntnismittel (vgl etwa die Aufzählung in BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 39). Es kann daher nicht vorausgesetzt werden, daß den Beteiligten an einem Rentenstreitverfahren die berufskundliche Beschreibung einer bestimmten Tätigkeit, die aus "gabi" entnommen werden kann, im hier geforderten Sinne gegenwärtig ist. Es kommt hinzu, daß gerade im Bereich der berufskundlichen Literatur erfahrungsgemäß nicht selten verschiedene Informationen über dieselbe Tätigkeit verbreitet oder unterschiedliche Differenzierungen vorgenommen werden, so daß schon aus diesem Grunde die Kenntnis der vom Gericht zu verwertenden Tatsachen erforderlich ist, um eine Auseinandersetzung der Beteiligten damit zu ermöglichen.
Auf dieser Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör kann das mit der Revision angefochtene Urteil auch beruhen. Es ist möglich, daß die infolge des Verfahrensverstoßes von der Beklagten nicht genannte Tätigkeit der Nebenpförtnerin vom LSG im Hinblick auf die von der Beklagten dargelegten geringeren körperlichen Anforderungen als zumutbare Verweisungstätigkeit für die Klägerin angesehen und ihr demgemäß ein Anspruch auf EU-Rente nicht zugesprochen, ihre Berufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil also zurückgewiesen worden wäre.
Das LSG hat seine Entscheidung entgegen der Ansicht der Klägerin nicht darauf gestützt, daß die Arbeitsplätze für Pförtner ohnehin als "Schonarbeitsplätze" für Außenstehende nicht zugänglich und daher "verschlossen" wären (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 71, 86, 101, 110), so daß es auf die Anforderungen dieser Tätigkeit an die körperliche Leistungsfähigkeit nicht ankäme. Das LSG hat die Tätigkeit einer Pförtnerin vielmehr allein deshalb für die Klägerin als zumutbare Verweisungstätigkeit ausgeschlossen, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht zu deren Ausübung in der Lage sei. Die Frage der "Verschlossenheit" entsprechender Arbeitsplätze hat das Berufungsgericht ausdrücklich offengelassen, weil die Tätigkeit als solche bereits aus den besagten gesundheitlichen Gründen nicht in Betracht komme. Die Beklagte mußte daher insoweit keine Verfahrensrüge erheben, um dem Berufungsurteil seine tatsächliche Grundlage zu entziehen.
Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht trotz der Gesetzesverletzung aus anderen Gründen als richtig dar (vgl § 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Zwar hat die Beklagte die Zeitrente wegen EU möglicherweise entgegen der damals noch geltenden Vorschrift des § 1276 Abs 3 Halbs 1 RVO (nunmehr § 102 Abs 2 Satz 4 SGB VI) für zwei Monate über die höchstzulässige Dauer von insgesamt 6 Jahren hinaus, nämlich bis zum 31. Dezember 1991 statt (bei einem Rentenbeginn am 1. November 1985) bis längstens zum 31. Oktober 1991 gewährt. Ein hier zu berücksichtigender Anspruch auf Gewährung von Dauerrente für den streitigen Zeitraum folgt daraus jedoch entgegen der Ansicht der Klägerin nicht. Die den zulässigen Zeitraum überschreitende Bewilligung ist durch den Bescheid vom 29. Januar 1990 getroffen worden. Dieser insoweit möglicherweise rechtswidrige Bescheid ist von der Klägerin indes nicht angefochten worden und nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens. Im übrigen wäre er nur dann insoweit rechtswidrig, als eine Dauerrente anstelle einer Zeitrente zu bewilligen gewesen wäre, wenn die EU ausschließlich auf dem Gesundheitszustand der Klägerin beruht hätte (vgl § 1276 Abs 3 Halbs 2 iVm Abs 1 Satz 2 RVO). Ob dies der Fall ist, kann anhand der Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden.
Bei der erneuten Behandlung der Sache wird das LSG bei der Suche nach einer zumutbaren konkreten Verweisungstätigkeit zu beachten haben, daß für die Einordnung des bisherigen Berufes in das Mehrstufenschema zwar die Dauer der absolvierten oder erforderlichen Berufsausbildung von Bedeutung ist, sich die Prüfung der Wertigkeit aber nicht auf den Faktor Ausbildungsdauer beschränken darf. In § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI wird vielmehr auch auf die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit abgestellt. Für das hiernach maßgebende Gesamtbild ist auch zu berücksichtigen, ob und wie die Tätigkeit tariflich eingestuft ist (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 14, 32 mwN). Das LSG wird hier den einschlägigen Tarifvertrag, der bei der Beendigung der versicherungspflichtigen Beschäftigung der Versicherten als Montagearbeiterin galt (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 22, 32), heranzuziehen und zu prüfen haben, ob dieser nach Qualitätsstufen geordnet war (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 22 mwN). Kommt der Tarifvertrag danach als Grundlage für die Beurteilung der Wertigkeit der in ihm aufgeführten Tätigkeiten in Betracht, ist zu prüfen, in welcher Lohngruppe die Berufstätigkeit des Versicherten (abstrakt) eingruppiert war. Handelte es sich dabei um eine Gruppe, in die Handwerksgesellen oder Facharbeiter eingestuft waren, so wurde grundsätzlich auch die Qualität der übrigen darin enthaltenen Tätigkeiten durch das Leitbild des Facharbeiters geprägt. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt war (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13) oder wenn eine "Berufsanfängerlohngruppe" vorlag (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 32). Handelte es sich danach nicht um eine Facharbeiterlohngruppe, so ist zu prüfen, ob die Lohngruppe durch Tätigkeiten mit dem Leitbild der Angelernten im oberen Bereich (Anlernzeit von über einem Jahr bis zu zwei Jahren) geprägt war.
Sofern die Versicherte danach als Facharbeiterin einzustufen sein sollte, wären ihr nur Tätigkeiten sozial zuzumuten gewesen, die zumindest angelernten Tätigkeiten tarifvertraglich gleichgestellt waren (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 17). War sie einer Angelernten im oberen Bereich gleich zu achten, konnte sie ebenfalls nicht schlechthin auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden. Vielmehr schieden ungelernte Tätigkeiten nur ganz geringen qualitativen Wertes aus; die zumutbaren Verweisungstätigkeiten müßten sich durch Qualitätsmerkmale, zB das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher und betrieblicher Vorkenntnisse auszeichnen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 45 mwN). Aus der Einschränkung der Verweisbarkeit folgt in beiden Fällen, daß mindestens eine danach in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret zu bezeichnen ist (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 45 mwN).
Sollten die Ermittlungen des LSG ergeben, daß der bisherige Beruf der Klägerin lediglich dem unteren Bereich der Gruppe mit dem Leitbild der angelernten Arbeiterin zuzuordnen war, so scheiden nur Tätigkeiten mit qualitativ ganz geringem Wert aus (vgl BSGE 43, 243, 246 f = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Die Notwendigkeit der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit besteht aber auch in diesem Fall bereits wegen der bei der Klägerin vorliegenden schweren spezifischen Leistungseinschränkung (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 mwN).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 956136 |
SozSi 1997, 160 |