Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsminderungsrente. Berufsunfähigkeit. Benennung eines konkreten Verweisungsberufs. Keine Pauschalverweisung auf Tätigkeiten in tarifvertraglichen Vergütungsgruppen. Revisionsbegründung gesondert für Erwerbs- und Berufsunfähigkeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Hat das LSG in seinem Urteil über zwei prozessuale Ansprüche befunden, nämlich zum einen über das Recht auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und zum anderen über das Recht auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, ist Zulässigkeitsvoraussetzung für die Revision, dass der Kläger für jeden dieser selbstständigen Streitgegenstände in der Revisionsbegründung darlegt, weshalb die Vorinstanz mit der Zurückweisung seiner Berufung das jeweils einschlägige materielle Recht nicht richtig angewandt hat (stRspr; vgl. BSG, Urteil v. 23.11.2005, B 12 RA 10/04 R).
2. Die Instanzgerichte haben Feststellungen darüber zu treffen, ob es für den Kläger, der seinen bisherigen Beruf gesundheitsbedingt nicht mehr ausüben kann, einen qualitativ zumutbaren Vergleichsberuf (Verweisungsberuf) gibt, dessen fachlichen und gesundheitlichen Anforderungen er trotz seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit genügen kann. Sie müssen daher einen Beruf benennen, der an mindestens 300 Arbeitsplätzen in Deutschland mit dem wesentlich gleichen Anforderungsprofil verrichtet wird, und aufzeigen, welche Tätigkeiten ihn ausmachen und ggf. welchen qualitativen Wert die tarifvertragliche Einordnung indiziert. Eine pauschale Verweisung eines Verwaltungsfachangestellten auf eine Auflistung von Tätigkeiten im öffentlichen Dienst in der Vergütungsgruppe BAT VIII ist nicht zulässig (unter Bezug auf BSG Urteil v. 14.5.1981, 4 RJ 125/79).
Normenkette
SGB VI §§ 43-44; SGG § 164 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. September 2004 wird als unzulässig verworfen, soweit er die Feststellung begehrt, ihm stehe das Recht auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu. Im
Übrigen wird das vorbezeichnete Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger ab 1.10.1998 das Recht auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU) zusteht.
Nach Abschluss einer dreijährigen Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten war der Kläger in diesem Beruf bis April 1986 beschäftigt. Anschließend arbeitete er bis März 1990 als Versicherungsvertreter und Kundendienstbetreuer. Im Oktober 1990 nahm er wieder eine Beschäftigung als Verwaltungsfachangestellter auf; das Arbeitsverhältnis wurde zum 30.9.1998 beendet.
Im Dezember 1998 beantragte der Kläger bei der Beklagten, ihm eine Rente wegen EU oder BU zu gewähren. Nach medizinischer Sachaufklärung lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 6.4.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.8.1999). Das Sozialgericht (SG) hat nach weiterer medizinischer Sachaufklärung die Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 21.6.2001). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 29.9.2004) und zur Begründung ausgeführt, er sei weder berufs- noch erwerbsunfähig. Er könne noch vollschichtig mittelschwere und einfache geistige Arbeiten ausführen. Er leide an einem (psychogenen) Tinnitus und unter einer Persönlichkeitsstörung; deshalb entfielen Arbeiten mit Stressfaktoren wie Zeitdruck und Nachtschicht. Seine Entschluss- und Verantwortungsfähigkeit sei leicht vermindert und die Kontakt-, Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit vermindert. Seine letzte Beschäftigung könne er wegen des Publikumsverkehrs nicht mehr verrichten. Als Angestellter mit einer dreijährigen Ausbildung könne er jedoch noch zumutbare Arbeiten in der Vergütungsgruppe BAT VIII verrichten. Somit sei er nicht berufs- und erst recht nicht erwerbsunfähig iS der §§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis Ende 2000 geltenden Fassung. Auch die Voraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI in der ab 1.1.2001 geltenden Fassung seien nicht erfüllt.
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt.
Die Beteiligten haben durch Teilvergleich den Rechtsstreit beendet, soweit das LSG die Voraussetzungen für das Bestehen eines Rechts auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung nach dem ab 1.1.2001 geltenden Recht verneint hat.
Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor, das Urteil des LSG sei rechtsfehlerhaft, weil es keinen konkreten ihm zumutbaren Verweisungsberuf genannt, sondern unzulässig pauschal auf die Vergütungsgruppe BAT VIII verwiesen habe (Urteil des BSG vom 14.5.1981, 4 RJ 125/79).
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29.9.2004 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 21.6.2001 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Entscheidung im Bescheid vom 6.4.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.8.1999 zu verpflichten festzustellen, dass ihm ab 1.10.1998 das Recht auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Berufsunfähigkeit, zusteht, und sie zu verurteilen, entsprechende monatliche Geldbeträge zu zahlen.
Auch die Beklagte ist der Auffassung, dass das LSG es rechtswidrig unterlassen habe, eine Verweisungstätigkeit des Klägers zu konkretisieren. Sie sieht deshalb von einer Antragstellung ab.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist teils unzulässig, teils im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
1. Die Revision ist unzulässig, soweit der Kläger das Recht auf Rente wegen EU nach § 44 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden alten Fassung (aF) beansprucht. Insoweit genügt die Revision nicht den Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Begründung zu stellen sind (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Das LSG hat im angefochtenen Urteil über zwei prozessuale Ansprüche befunden, nämlich zum einen über das geltend gemachte Recht auf Rente wegen EU und zum anderen über das “hilfsweise” geltend gemachte Recht auf Rente wegen BU. Diese prozessualen Ansprüche verfolgt der Kläger im Revisionsverfahren weiter. Zulässigkeitsvoraussetzung seiner Revision ist demzufolge ua, dass er für jeden dieser selbstständigen Streitgegenstände in der Revisionsbegründung darlegt, weshalb die Vorinstanz mit der Zurückweisung seiner Berufung gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG das jeweils einschlägige materielle Recht nicht richtig angewandt hat (hierzu stellvertretend: BSG, Urteil vom 24.7.2003, B 4 RA 62/02 R; Urteil vom 23.11.2005, B 12 RA 10/04 R; Beschluss vom 6.3.2006, B 13 RJ 46/05 R).
Der Kläger trägt in der Revisionsbegründung vor, das Urteil des LSG verletze Bundesrecht, soweit es ihn pauschal auf die Vergütungsgruppe BAT VIII verwiesen habe. Diese Ausführungen können rechtlich nur für das geltend gemachte Recht auf Rente wegen BU relevant sein. Der Kläger hätte sich aber auch damit auseinandersetzen müssen, warum er die Rechtsansicht des LSG nicht teilt, die Voraussetzungen für die Feststellung des Rechts auf Rente wegen EU lägen nicht vor; hierzu hat er auch nichts dargetan. Insoweit entspricht die Revisionsbegründung nicht den gesetzlichen Anforderungen, sodass die Revision bezüglich dieses prozessualen Anspruchs unzulässig ist.
2. Die Revision ist dagegen zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet, soweit der Kläger die Feststellung eines Rechts auf Rente wegen BU nach § 43 SGB VI aF begehrt.
a) Bezüglich dieses prozessualen Anspruchs hat der Kläger die Revision ordnungsgemäß begründet. Er hat dargelegt, warum die angefochtene Entscheidung nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stehe und somit materielles Recht verletze.
b) Soweit die Revision zulässig ist, ist sie auch im Sinne der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung an das LSG begründet. Dessen Urteil verletzt Bundesrecht. Ob die Voraussetzungen für das Recht auf Rente wegen BU ab 1.10.1998 erfüllt sind, kann der Senat jedoch wegen ungenügender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden.
Nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI aF ist ein Versicherter berufsunfähig, wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit und Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen herabgesunken ist. Nach Satz 2 aaO umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderung seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Das LSG hat zutreffend den vom Kläger zuletzt ausgeübten Beruf eines Verwaltungsfachangestellten als “bisherigen Beruf” angesehen. Es hat festgestellt, er könne aus gesundheitlichen Gründen, nämlich auf Grund der bestehenden leicht verminderten Entschluss- und Verantwortungsfähigkeit sowie der verminderten Kontakt-, Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit, diesen Beruf wegen des damit verbundenen Publikumsverkehrs nicht mehr verrichten. Es hat jedoch nicht geklärt, ob es für ihn einen qualitativ zumutbaren Vergleichsberuf gibt, dessen fachlichen und gesundheitlichen Anforderungen er trotz seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit genügen kann. Dabei ist für die Vergleichbarkeit vom sogenannten (sechsstufigen) Mehrstufenschema auszugehen (vgl stellvertretend: BSG, Urteil vom 14.5.1996, BSGE 78, 207 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13; Urteil vom 23.10.1996, SozR 3-2600 § 43 Nr 14; Urteil vom 29.7.2004, B 4 RA 5/04 R).
Soweit das LSG meint, es könne den Kläger – ausgehend von seiner dreijährigen Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten – auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst in der Vergütungsgruppe BAT VIII verweisen, hat es nicht beachtet, dass eine derartige pauschale Verweisung unzulässig ist. Es hätte einen Beruf, der an mindestens 300 Arbeitsplätzen in Deutschland mit dem wesentlich gleichen Anforderungsprofil verrichtet wird, benennen und aufzeigen müssen, welche Tätigkeiten, die im BAT aF beschrieben sind, ihn ausmachen und ggf welchen qualitativen Wert die tarifvertragliche Einordnung indiziert (so schon: BSG, Urteil vom 14.5.1981, 4 RJ 125/79).
Sodann hätte das LSG Feststellungen darüber treffen müssen, ob der Kläger den fachlichen und gesundheitlichen Anforderungen dieses Vergleichsberufs im Antragszeitraum gewachsen war. Bei seiner erneuten Entscheidung wird es zu beachten haben, dass der Kläger nach dem 1.1.1961 geboren ist (§ 240 Abs 1 SGB VI). Daher kann ihm ein Recht auf Rente wegen BU nur zustehen, wenn der Versicherungsfall der BU bis zum Ablauf des 31.12.2000 eingetreten ist.
Mangels ausreichender Feststellungen des LSG ist das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu entscheiden haben.
Fundstellen