Beteiligte
Pflegekasse bei der AOK – Die Gesundheitskasse im Saarland, Hauptgeschäftsstelle |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 27. Mai 1997 abgeändert und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 10. Juni 1996 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt Pflegegeld gemäß Stufe I nach dem Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – (SGB XI) ab 1. April 1995.
Der Kläger ist im August 1982 geboren und bei der beklagten Pflegekasse versichert. Als Folge einer frühkindlichen Hirnschädigung sind eine umfassende Entwicklungsverzögerung, vor allem im Sprachbereich, eine erhebliche motorische Unruhe und ein cerebrales Anfallsleiden festgestellt. Der Kläger besucht werktags eine Behindertenschule und einmal wöchentlich eine logopädische Schulung.
Den Antrag des Klägers vom Dezember 1994 auf Leistungen nach der sozialen Pflegeversicherung lehnte die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens und einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) ab (Bescheid vom 15. März 1995 und Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 1995). Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) ein Gutachten eingeholt und der Klage schon wegen eines mehr als 45minütigen täglichen Pflegebedarfs im Bereich der Grundpflege stattgegeben; das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteile vom 10. Juni 1996 bzw 27. Mai 1997). Das LSG hat ausgeführt, es könne dahinstehen, wie groß der hauswirtschaftliche Pflegebedarf des Klägers sei. Beim Kläger werde der erforderliche Pflegebedarf von 90 Minuten schon durch die Grundpflege erreicht: Zu den 31 Minuten Hilfebedarf bei der Körperpflege kämen fünf Minuten wegen nächtlicher Begleitung zur Toilette hinzu, außerdem 15 Minuten und sechs Minuten täglich für die Begleitung zum Schulbus und zur Logopädie. Mit weiteren 33 bis 53 Minuten Hilfebedarf durch Beaufsichtigung wegen aggressiven und auto-aggressiven Verhaltens des Klägers, das ärztlich vielfach belegt sei, werde der erforderliche Grundpflegebedarf auf jeden Fall erreicht. Diese Beaufsichtigung sei zu berücksichtigen, weil sie lebensnotwendige Grundlage für eine sinnvolle und ungestörte Vornahme der Katalogverrichtungen des § 14 SGB XI sei.
Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 14, 15 SGB XI. Ein hauswirtschaftlicher Versorgungsbedarf sei beim Kläger nicht festgestellt worden und könne nach den Begutachtungsrichtlinien bei Kindern der Pflegestufe I ohne konkreten Nachweis pauschal nur mit höchstens 30 Minuten täglich angesetzt werden. Eine demnach erforderliche Grundpflege von mindestens 60 Minuten liege aber nicht vor, da zu den 31 Minuten täglicher Hilfe bei der Körperpflege gemäß Gutachten lediglich sechs Minuten Begleitung zur Logopädie hinzukämen. Da der Kläger in der Regel durchschlafe, könnten die nächtlichen Toilettengänge nicht berücksichtigt werden; dasselbe gelte für die Begleitung zum Schulbus, weil der Besuch einer Behindertenschule nicht der Aufrechterhaltung der Lebensführung im häuslichen Bereich diene. Im übrigen würden auch unter Einbeziehung beider Punkte nur 57 Minuten täglich erreicht. Die Berücksichtigung einer Beaufsichtigung wegen aggressiven oder auto-aggressiven Verhaltens außerhalb der Katalogverrichtung widerspreche § 14 SGB XI und sei auch im Umfang nicht nachvollziehbar. Das LSG habe insoweit seine Amtsermittlungspflicht verletzt.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts für das Saarland vom 27. Mai 1997 sowie des Sozialgerichts für das Saarland vom 10. Juni 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Der Senat konnte wegen Ausbleibens der ordnungsgemäß zum Termin geladenen Beteiligten gemäß § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach Lage der Akten entscheiden, nachdem in der Ladung auf die Möglichkeit hingewiesen worden war.
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die vorinstanzlichen Urteile waren abzuändern, die Klage war abzuweisen, weil der Kläger nur einen Grundpflegebedarf von höchstens 41 Minuten täglich hat und damit ohne Rücksicht auf die vom SG verneinte generelle Notwendigkeit eines hauswirtschaftlichen Pflegebedarfs das auch bei Kindern erforderliche Mindestmaß von mehr als 45 Minuten nicht erreicht.
1. Nach § 15 Abs 1 Nr 1 SGB XI in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl I S 1014), der durch das 1. SGB XI-Änderungsgesetz (1. SGB XI-ÄndG) vom 14. Juni 1996 (BGBl I S 830) zu § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI geworden ist, setzt die Zuordnung eines Pflegebedürftigen zur Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) voraus, daß er bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt werden. Dabei gehören zum Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- und Blasenentleerung, zum Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten und die Aufnahme der Nahrung und zum Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen sowie das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (§ 14 Abs 4 Nrn 1 bis 3 SGB XI). Zusätzlich wird nach § 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI (idF des 1. SGB XI-ÄndG) vorausgesetzt, daß der Zeitaufwand, den eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, täglich im Wochendurchschnitt 90 Minuten beträgt, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.
Die in der Zeit seit dem Inkrafttreten des Leistungsrechts der Pflegeversicherung am 1. April 1995 bis zum 25. Juli 1996 (Zeitpunkt des Inkrafttretens des 1. SGB XI-ÄndG, vgl dessen Art 8 Abs 1) geltende ursprüngliche Fassung des SGB XI enthielt die zuletzt genannte Voraussetzung noch nicht. § 15 Abs 3 SGB XI ermächtigte seinerzeit lediglich die Spitzenverbände der Pflegekassen bzw das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, den in den einzelnen Pflegestufen jeweils mindestens erforderlichen zeitlichen Pflegeaufwand in den Pflegerichtlinien nach § 17 SGB XI bzw in der Verordnung nach § 16 SGB XI zu regeln. Die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeitsrichtlinien ≪PflRi≫) enthielten in ihrer ursprünglichen Fassung vom 7. November 1994 bezüglich des Mindestzeitaufwands bei der Pflegestufe I die Voraussetzung, der Zeitaufwand, den eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung und pflegeunterstützende Maßnahmen benötige, habe im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten zu betragen, wobei der pflegerische Aufwand gegenüber dem hauswirtschaftlichen Aufwand „im Vordergrund stehen” müsse. Die in § 16 SGB XI vorgesehene Verordnung ist nicht erlassen worden. Für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist auch die ursprüngliche Fassung des § 15 SGB XI maßgebend, die für die Zeit bis zum 24. Juni 1996 galt und damit noch die hier streitige Leistungszeit ab 1. April 1995 betraf. Der Senat hat bereits entschieden, daß ein in der ursprünglichen Fassung des § 15 Abs 3 SGB XI enthaltenes Regelungsdefizit bezüglich der für die einzelnen Pflegestufen erforderlichen zeitlichen Mindestvoraussetzungen durch die Neufassung des § 15 Abs 3 SGB XI auch für die zurückliegende Zeit seit dem Inkrafttreten des SGB XI ausgefüllt worden ist. Dies gilt auch für den Mindestbedarf der Pflegestufe I.
2. Für die Pflegebedürftigkeit von Kindern – der Kläger war am 1. April 1995 (Inkrafttreten des Leistungsteils des SGB XI) ca 12 1/2, am 27. Mai 1997 (mündliche Verhandlung vor dem LSG) fast 15 Jahre alt – gilt nach § 15 Abs 2 SGB XI, daß der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend ist. Der Senat hat bereits entschieden, daß damit nicht jedweder Mehrbedarf ausreicht, sondern daß auch bei Kindern im Bereich der Grundpflege nicht auf einen Mehrbedarf von „mehr als 45 Minuten” gegenüber gleichaltrigen gesunden Kindern verzichtet werden kann (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 2 sowie Urteile des Senats vom 19. Februar 1998, B 3 P 5/97 R, und vom 24. Juni 1998, B 3 P 1/97 R, beide zur Veröffentlichung vorgesehen; zur Rechtslage nach den §§ 53 ff Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – ≪SGB V≫ vgl BSG SozR 3-2500 § 53 Nrn 7, 8). Ob darüber hinaus sogar ein Pflegemehrbedarf von 60 Minuten im Bereich der Grundpflege zu verlangen ist, wie die Beklagte meint, weil sie dem Kläger (nur) einen hauswirtschaftlichen Mehrbedarf von pauschal 30 Minuten zubilligt, ist zweifelhaft, kann hier aber offenbleiben.
3. Beim Kläger liegt schon kein Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten täglich vor. Vom LSG festgestellt und von den Beteiligten nicht angegriffen ist der durch den Gutachter Dr. R. ermittelte Grundpflegebedarf von 31 Minuten (Waschen 15, Baden/Duschen drei, Zähneputzen sechs, Kämmen eine, Toilette drei, Ankleiden drei Minuten – jeweils im Wochendurchschnitt). Selbst wenn dazu noch die von Dr. R. erwähnten „nächtlichen Toilettenschwierigkeiten” trotz fraglicher Regelmäßigkeit mit durchschnittlich zehn Minuten täglich zu veranschlagen wären, würde der für die Grundpflege notwendige Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten noch nicht erreicht.
Wegen der einmal wöchentlichen Begleitung zur Logopädie und/oder der dortigen Warte- und Behandlungszeiten ist kein weiterer Grundpflegebedarf zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich nicht um eine verrichtungsbezogene Pflegehilfe; etwa zum Gehen oder zum Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Der erkennende Senat hat bereits zum Anspruch auf Pflegeleistungen nach den §§ 53 ff SGB V aF entschieden, daß besondere Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung behinderter Kinder bei der Feststellung von (Schwer-)Pflegebedürftigkeit nicht ohne weiteres als Hilfebedarf gewertet werden können (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 8). Zielen derartige Maßnahmen – wie hier – allgemein darauf ab, die Fähigkeit zu eigenständiger Lebensführung zu stärken, so dienen sie vorrangig dem Ziel, den Pflegeaufwand in späteren Lebensabschnitten zu vermeiden oder geringer zu halten. Von daher sind sie dem Bereich der Rehabilitation zuzuordnen. Rehabilitative Maßnahmen zur Vermeidung von Pflege wurden von den §§ 53 ff SGB V aF und werden auch von den §§ 14, 15 SGB XI nicht erfaßt. Nach § 5 iVm § 31 SGB XI ist die Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit nicht Aufgabe der Pflegeversicherung. Zuständig ist vielmehr derjenige Sozialleistungsträger, der im Einzelfall die Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen hat. Dies ist vor allem die gesetzliche Krankenversicherung, zu deren Leistungen nach § 11 Abs 2 SGB V auch medizinische oder ergänzende Leistungen zur Rehabilitation zählen, die notwendig sind, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern. Bei der Bemessung des Pflegebedarfs im Rahmen der §§ 14, 15 SGB XI bleiben derartige Maßnahmen nicht nur dann unberücksichtigt, wenn sie von einer familiären Pflegeperson im Haushalt des Pflegebedürftigen erbracht werden, sondern auch dann, wenn die Pflegeperson den Pflegebedürftigen zur Praxis des Leistungserbringers begleitet. Der für die Begleitung eines Pflegebedürftigen auf Wegen außerhalb seiner Wohnung erforderliche Zeitaufwand kann nur berücksichtigt werden, wenn die außerhalb der Wohnung zu erledigende Verrichtung, etwa der Besuch eines Arztes oder Krankengymnasten, für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unerläßlich ist (zur Begrenzung der Verrichtung „Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung” vgl bereits das Urteil des Senats vom 6. August 1998, B 3 P 17/97 R = SozR 3-3300 § 14 Nr 6). Dient die Behandlung dagegen (überwiegend) einer für die Zukunft angestrebten Besserung des Gesundheitszustandes, so muß auch die hiermit im Zusammenhang stehende Hilfeleistung bei der Bemessung des Pflegebedarfs unberücksichtigt bleiben, weil sie dem nicht von der Pflegeversicherung abgedeckten Bereich der Rehabilitation zuzuordnen ist.
Die Begrenzung des berücksichtigungsfähigen Pflegebedarfs auf die in § 14 Abs 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen schließt auch die Einbeziehung dieses Hilfebedarfs als Hilfe im Bereich der Kommunikation aus. Die Kommunikation ist bewußt nicht in den Katalog der für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit oder die Zuordnung zu einer Pflegestufe maßgebenden Verrichtungen aufgenommen worden. Im Gesetzgebungsverfahren wurde ausdrücklich klargestellt, daß ein Hilfebedarf im Bereich der Kommunikation nicht zum maßgebenden Pflegebedarf zu rechnen ist (BT-Drucks 12/5262, S 96, zu § 12 Abs 4 des Gesetzentwurfs). Etwas anderes folgt auch nicht aus § 28 Abs 4 Satz 2 SGB XI. Danach sollen, um der Gefahr der Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegenzuwirken, bei der Leistungserbringung auch die Bedürfnisse des Pflegebedürftigen nach Kommunikation berücksichtigt werden. Diese Aufforderung richtet sich an alle, die Pflegeleistungen erbringen und deren Dienstleistungen entweder direkt (bei der ambulanten Pflegesachleistung und der stationären Pflege) oder zumindest indirekt (bei nicht erwerbsmäßig tätigen Pflegepersonen durch die Teilhabe am Pflegegeld) von der Pflegeversicherung finanziert werden. Auf die Bemessung des Pflegebedarfs, die im zweiten Kapitel des SGB XI geregelt ist, hat diese Vorschrift, die sich im vierten Kapitel befindet, das die Leistungen der Pflegeversicherung regelt, keinen Einfluß.
Auch die notwendige Begleitung des Klägers zum Schulbus muß bei der Ermittlung des Pflegebedarfs außer Betracht bleiben. Nach den nicht angegriffenen und daher für den Senat verbindlichen Feststellungen des LSG wird in den Schulen für körperlich und geistig Behinderte im Saarland ua die Bewegungserziehung, dh die Grob- und Feinmotorik, geschult; nach dem Lehrplan sollen die Kinder ferner befähigt werden, sich selbst zu versorgen und ihre eigene Existenz zu sichern. Somit handelt es sich ebenfalls nicht um eine verrichtungsbezogene Pflegehilfe, sondern teilweise um rehabilitative Maßnahmen, die nicht nur der Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause dienen.
Es kann offenbleiben, ob die Feststellungen des LSG, daß durch eine wegen aggressiver und/oder auto-aggressiver Verhaltensweisen erforderliche Beaufsichtigung des Klägers ein weiterer Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 33 Minuten, „ohne weiteres” aber auch 53 Minuten täglich besteht, verfahrensfehlerhaft getroffen worden sind, wie die Revision rügt. Denn ein solcher Aufsichtsbedarf hat bei der Bemessung des Pflegebedarfs außer Ansatz zu bleiben. Das Gesetz bietet keine Grundlage für die Berücksichtigung eines Hilfebedarfs in Form einer ständigen Anwesenheit und Aufsicht einer Pflegeperson zur Vermeidung einer möglichen Selbst- oder Fremdgefährdung eines geistig Behinderten. Auch insoweit gilt, daß für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen allein der Hilfebedarf bei den in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen sowie die in § 14 Abs 3 SGB XI genannten Arten der Hilfe maßgebend sind und eine Ausdehnung auf dort nicht genannte Pflegebereiche, Verrichtungen und Hilfeleistungen somit grundsätzlich ausscheidet. Es ist auch hier zu betonen, daß die Pflegeversicherung vom Gesetzgeber nicht auf die lückenlose Erfassung jeglichen Pflegebedarfs ausgerichtet worden ist (vgl BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 - B 3 P 5/97 R - = Breithaupt 1999, 20, zur grundsätzlichen Ausklammerung der Behandlungspflege). Daher kann die Frage offenbleiben, ob bei dem Kläger die ständige Gefahr einer Selbst- oder Fremdgefährdung tatsächlich besteht.
Die völlige Ausklammerung des nicht konkret verrichtungsbezogenen allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei geistig Behinderten läßt sich mit den in den Einweisungsvorschriften und in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Zielen der Pflegeversicherung allerdings nicht vereinbaren. Vor allem die mit der Einführung der Pflegeversicherung verbundene Absicht, die Bereitschaft zur häuslichen Pflege zu stärken und der häuslichen gegenüber der stationären Pflege eine Vorrangstellung einzuräumen, ist in den für die Bemessung des Pflegebedarfs maßgebenden Vorschriften der §§ 14 und 15 SGB XI im Hinblick auf den Hilfebedarf geistig Behinderter nicht sachgerecht umgesetzt worden. Während der Verrichtungskatalog bei Personen mit somatischen (körperlichen) Funktionsdefiziten geeignet erscheint, den tatsächlich bestehenden Hilfebedarf des Pflegebedürftigen und die hieraus resultierende Belastung der Pflegepersonen im häuslichen Umfeld realitätsbezogen zu ermitteln, ist dies im Hinblick auf geistig Behinderte nicht der Fall. Der Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI ist nicht geeignet, die örtliche Bindung der Pflegepersonen zu erfassen, deren ständige Präsenz und Kontrolle in der Nähe des Behinderten zumeist unerläßlich sind, was die freie Lebensgestaltung etwa von pflegenden Angehörigen auch bei relativ leichten Fällen geistiger Behinderung nachhaltig einschränkt. Die besondere Belastung der Eltern geistig behinderter Kinder, die von diesen zu Hause versorgt werden, wird von diesem Bemessungssystem ebensowenig erfaßt wie diejenige von Kindern, die altersverwirrte Eltern pflegen, ohne daß hierfür ein anderes Sicherungssystem bereitsteht, wie dies vergleichsweise bei dem ebenfalls unberücksichtigt gebliebenen Bedarf an Behandlungspflege mit der häuslichen Krankenpflege (§ 37 SGB V) der Fall ist. Bei den beiden Gruppen geistig Behinderter kommt als Alternative zur ehrenamtlichen häuslichen Pflege zumeist nur die Unterbringung in einer stationären Einrichtung in Betracht, was durch die Pflegeversicherung gerade so weit als möglich verhindert werden sollte. Die im „Ersten Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung über die Entwicklung der Pflegeversicherung seit ihrer Einführung am 1. Januar 1995” vom 19. Dezember 1997 (Erster Pflegebericht der Bundesregierung – BT-Drucks 13/9528, S 25 ff) aus den statistischen Ergebnissen der Medizinischen Dienste abgeleitete Folgerung, geistig Behinderte würden bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu den Pflegestufen gegenüber somatisch Kranken und Behinderten nicht benachteiligt, kann sich nicht auf die Vorschriften des SGB XI zur Bemessung des Pflegebedarfs stützen. Denn diese lassen eine Berücksichtigung des hier behandelten spezifischen Hilfebedarfs von geistig Behinderten nicht zu. Die Tatsache, daß tatsächlich auch geistig Behinderte in großer Zahl Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, läßt sich vermutlich damit erklären, daß vor allem bei schwerwiegenden Fällen geistiger Behinderung der Hilfebedarf in der Begutachtungspraxis durch eine extensive Ausdehnung der in § 14 Abs 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen festgestellt wird. Dieser im Gesetz nicht ohne weiteres vorgezeichnete Weg versagt jedoch vor allem bei weniger schwerwiegenden Fällen geistiger Behinderung, die dennoch einen Pflegebedarf hervorrufen, der im Sinne der Gleichbehandlung aller Hilfebedürftigen eine Zuordnung zur Pflegestufe I rechtfertigen würde, weil er mit demjenigen bei einem aufgrund somatischer Ursachen erheblich Pflegebedürftigen iS von § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1 iVm Abs 3 Nr 1 SGB XI vergleichbar ist.
Wegen der Dominanz des Zeitfaktors bei der Bemessung des Pflegebedarfs, der sich erst in der letzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens zum SGB XI durchgesetzt hat (vgl hierzu Udsching in: Festschrift für Krasney, 1997, 677, 680 mwN), bestand allerdings die Gefahr, daß eine umfassende Einbeziehung des allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs zu einer Überbewertung geführt hätte, da der Bedarf zumeist rund um die Uhr besteht, die tatsächliche Belastung der Pflegepersonen jedoch das Ausmaß, das eine Zuordnung zu einer der höheren Pflegestufen rechtfertigen könnte, zumeist nicht erreicht.
Der vom Gesetzgeber als abschließend verstandene Verrichtungskatalog in § 14 Abs 4 SGB XI (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 19. Februar 1998 - B 3 P 3/97 R = SozR 3-3300 § 14 Nr 2) läßt eine Auslegung, die eine sachgerechte Berücksichtigung des allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei geistig Behinderten ermöglichen könnte, nicht zu. Die Ungleichbehandlung der hier betroffenen Gruppe geistig Behinderter erreicht noch nicht ein solches Ausmaß, daß eine einen Verfassungsverstoß begründende Überschreitung des gesetzgeberischen Ermessens angenommen werden müßte. Hierbei ist zu bedenken, daß das gesetzgeberische Ermessen, wie der Senat bereits deutlich gemacht hat (aaO), bei der Einführung der neuen Sicherungsform „Pflegeversicherung” besonders groß war und bei einer gerichtlichen Überprüfung auch zu berücksichtigen ist, daß im vorhinein nicht ohne weiteres zu erkennen war, ob die zur Beurteilung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit eingeführten Kriterien sich als sachgerecht erweisen würden, sondern daß sich dies erst nach einer Phase der Umsetzung in der Praxis feststellen ließ. Hinzukommt, daß die unzureichende Berücksichtigung des Hilfebedarfs der hier betroffenen Gruppe geistig Behinderter im Rahmen der Pflegeversicherung im Ergebnis zum Teil dadurch kompensiert wird, daß sie in den Genuß von Leistungen der Eingliederungshilfe nach den §§ 39 ff Bundessozialhilfegesetz kommt.
Die begründete Forderung nach Einbeziehung auch des allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei geistig Behinderten könnte sachgerecht durch einen pauschalen Zuschlag zum verrichtungsbezogenen Zeitaufwand umgesetzt werden. Eine derartige konzeptionelle Änderung des Gesetzes ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Sie kann nicht durch richterliche Rechtsfortbildung erfolgen.
Weiterer Pflegebedarf des Klägers im Bereich der Grundpflege ist vom LSG nicht festgestellt, so daß das erforderliche Mindestmaß von mehr als 45 Minuten täglich nicht erreicht wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 542878 |
NZS 1999, 453 |
br 1999, 113 |
KVusR 2000, 154 |
SozSi 1999, 415 |