Leitsatz (amtlich)
Der Weg nach dem Ort der versicherten Tätigkeit beginnt auch dann mit dem Durchschreiten der Außentür des Wohngebäudes, wenn der Versicherte die auf einem Einfamilienhausgrundstück an das Wohngebäude angebaute, aber von diesem nicht direkt zugängliche Garage aufsucht, um mit dem Pkw zur Arbeitsstätte zu fahren (Weiterentwicklung von BSG 1973-12-11 2 RU 29/73 = BSGE 37, 36).
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 26. Juli 1974 wird zurückgewiesen.
Tatbestand
Die bei der Klägerin für den Fall der Krankheit versicherte Verkäuferin Margarete M (M.) bewohnte zur Unfallzeit mit ihrem Ehemann ein Einfamilienhaus mit eingezäuntem Vorgarten. An das Haus ist eine Garage angebaut, die nur durch das Garagentor zugänglich ist. Als Frau M. am 19. November 1971 gegen 8.00 Uhr mit dem in der Garage abgestellten Kraftwagen zur Arbeit fahren wollte und dabei das nach oben schwenkende Garagentor nur unvollständig anhob, fiel dieses zurück und verletzte Frau M. am Kopf. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 17. Januar 1972 einen Entschädigungsanspruch ab, da sich der Unfall nach den Angaben von Frau M. in der Garage ereignet habe und die Garage als bauliche Einheit des Hauses Teil des unversicherten häuslichen Bereichs sei. Die von Frau M. dagegen erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Hildesheim vom 11. Juli 1972 - S 13 U 34/72 -). Die jetzige Klägerin war zu jenem Rechtsstreit beigeladen.
Mit der am 23. Juli 1973 beim SG Hamburg erhobenen Klage forderte die Klägerin von der Beklagten Ersatz des Frau M. in der Zeit vom 9. bis 29. Dezember 1971 gezahlten Verletztengeldes in Höhe von 300,30 DM sowie von Verwaltungskosten in Höhe von 26,- DM, insgesamt 326,30 DM. Das SG hat die Beklagte entsprechend dem Klagebegehren verurteilt und die Berufung zugelassen (Urteil vom 26. Juli 1974). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es u. a. ausgeführt: Das rechtskräftige Urteil des SG Hildesheim stehe einer Entscheidung nicht entgegen. In jenem Verfahren habe es sich um die Anfechtung des Bescheides der Beklagten vom 17. Januar 1972 gehandelt, durch den die Gewährung einer Unfallentschädigung abgelehnt worden sei. Hier sei jedoch über einen anderen Streitgegenstand, nämlich das Begehren der Klägerin nach Aufwendungsersatz, zu entscheiden. Der Ersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte ergebe sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 1510 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Klägerin habe aufgrund eines allgemeinen Auftrags, der durch die Verwaltungsvereinbarung der Spitzenverbände der Träger der Unfallversicherung mit denen der Krankenkasse vom 28. Juni 1963 erteilt worden sei, an Frau M. Verletztengeld gezahlt. Ihr stehe hiernach ein Aufwendungsersatz in Höhe des Verletztengeldes zuzüglich der Verwaltungskosten zu, da der Unfall der Frau M. ein Arbeitsunfall gewesen sei. Nach § 550 Satz 1 RVO gelte als Arbeitsunfall auch ein Unfall, der sich auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von der Arbeitsstätte ereigne. Der Weg zur Arbeitsstätte, der von der Wohnung aus angetreten werde, beginne mit dem Verlassen des Bereichs, in dem sich das private Leben des Versicherten abspiele. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe Frau M. mit dem Durchschreiten der Haustür den Weg zur Arbeitsstätte bereits angetreten gehabt. Die angebaute Garage sei dem häuslichen Bereich nicht mehr zuzurechnen, da sie nur nach Durchschreiten der Haustür zu erreichen gewesen sei. Die bloße bauliche Verbindung der Garage mit dem Wohngebäude im Sinne eines Anbaus reiche für die Einbeziehung in den häuslichen Bereich nicht aus. Im übrigen setzt sich das SG mit den seiner Meinung nach zum Teil widersprüchlichen Entscheidungen des BSG über die Abgrenzung des unversicherten häuslichen Bereichs von dem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg auseinander.
Die Beklagte hat mit Einwilligung der Klägerin Sprungrevision eingelegt. Zur Begründung des Rechtsmittels trägt sie im wesentlichen vor: Das Urteil des SG beruhe auf einer unrichtigen Anwendung des § 550 RVO. Es sei zwar zutreffend, daß der versicherte Weg regelmäßig an der Außentür des bewohnten Gebäudes beginne und wieder ende. Jedoch könne der häusliche Wirkungskreis auch Räume umfassen, die außerhalb des Wohngebäudes liegen. Nach der Rechtsprechung des BSG komme es für die Beurteilung des Versicherungsschutzes darauf an, welche Sphären im allgemeinen noch dem häuslichen und damit unversicherten Bereich zuzurechnen seien. Sofern die Garage auf dem Grundstück des Einfamilienhauses liege und von ihm direkt zu erreichen sei, gehöre die Garage auch dann noch zum häuslichen Bereich, wenn sie an das Wohnhaus angebaut sei, ohne von diesem zugänglich zu sein. In diesen Fällen müsse von einem aufgespaltenen häuslichen Bereich ausgegangen werden, der trotz des Fehlens eines unmittelbaren räumlichen Zusammenhanges rechtlich als einheitlicher häuslicher Bereich zu behandeln sei. Das bedeute, daß der versicherte Weg erst mit dem Verlassen der Garage beginne und bereits mit dem Erreichen der Garage wieder ende. Da Frau M. danach keinen Arbeitsunfall erlitten habe, sei der Anspruch der Klägerin unbegründet.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Hamburg vom 26. Juli 1974 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Sprungrevision der Beklagten ist nach § 161 SGG in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) geltenden Fassung zulässig, aber nicht begründet.
Dem SG ist zunächst darin zuzustimmen, daß das rechtskräftige Urteil des SG Hildesheim vom 11. Juli 1972 (S 13 U 34/72) hinsichtlich des Anspruchs der Klägerin auf Ersatz ihrer Aufwendungen keine Bindungswirkung hat (BSG 24, 155). In jenem Rechtsstreit, zu dem die jetzige Klägerin beigeladen war, wurde über den von der Beklagten abgelehnten Entschädigungsanspruch der Frau M. entschieden; der Ersatzanspruch der Klägerin war nicht Gegenstand des Verfahrens. Die von der Beklagten und dem SG Hildesheim übereinstimmend verneinte Frage, ob Frau M. am 19. November 1971 einen Arbeitsunfall erlitten hat, kann daher im anhängigen Rechtsstreit nochmals und anders beantwortet werden.
Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, daß die Klägerin an Frau M. Verletztengeld aufgrund der zwischen den Spitzenverbänden der Träger der Unfallversicherung und den Trägern der Krankenversicherung abgeschlossenen Verwaltungsvereinbarung vom 28. Juni 1963 (DOK 1963, 334) gezahlt hat. Diese sieht u. a. vor, daß die Krankenkassen die Berechnung und Auszahlung des Verletztengeldes übernehmen und bestimmt die Höhe der von den Trägern der Unfallversicherung den Krankenkassen für ihre Unterstützungsleistung zu zahlenden Verwaltungskosten. Der der Höhe nach nicht streitige Ersatzanspruch der Klägerin gründet sich auf eine entsprechende Anwendung des § 1510 Abs. 2 RVO (vgl. BSG 39, 24, 26). Nach dieser Vorschrift hat der Träger der Unfallversicherung dem Beauftragten die aus dem Auftrag erwachsenen Aufwendungen zu ersetzen. Der Ersatzanspruch setzt jedoch voraus, daß Frau M. am 19. November 1971 einen Arbeitsunfall erlitten und die Klägerin ihr deswegen Geldleistungen erbracht hat, die sie andernfalls überhaupt nicht zu erbringen gehabt hätte.
Mit dem SG ist der Senat der Auffassung, daß der Unfall, von dem Frau M. am 19. November 1971 betroffen wurde, ein Arbeitsunfall war.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Auslegung des § 550 Abs. 1 RVO ab, der mit dem bis zum 31. Dezember 1973 geltenden § 550 Satz 1 RVO identisch ist (vgl. § 15 Nr. 1 des Siebzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 1. April 1974 - BGBl I 821). Hiernach gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats bildet die Grenze zwischen dem noch nicht oder nicht mehr dem Versicherungsschutz unterliegenden häuslichen Bereich und dem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit, sofern der Weg von der Wohnung des Versicherten aus angetreten wird oder dort endet, die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes.
Es macht keinen Unterschied, ob das vom Versicherten bewohnte Gebäude ein städtisches Mehrfamilienhaus mit abgeschlossenen Einzelwohnungen (BSG 2, 239), ein Zweifamilienhaus mit separaten Wohnungseingängen auf eingezäuntem Grundstück (Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64) oder ein Einfamilienhaus auf eingezäuntem Grundstück (BG 1965, 314) ist. Bei dieser Abgrenzung hat der erkennende Senat sich von dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit leiten lassen, mit dem es nicht zu vereinbaren ist, den Versicherungsschutz von beliebig zu variierenden Verschiedenheiten des einzelnen Falles abhängig zu machen. Versicherungsschutz besteht somit auch auf dem Teil des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit, den der Versicherte innerhalb des eingezäunten Grundstücks eines ihm gehörenden Ein- oder Zweifamilienhauses zurücklegt, zumal da es nicht Zweck des § 550 Abs. 1 RVO ist, Versicherungsschutz nur für die dem Versicherten im Zusammenhang mit seiner Berufstätigkeit drohenden Verkehrsgefahren zu gewähren (BSG 2, 239, 241) und sich auch außerhalb des Wohngebäudes eine klare, den Erfordernissen der Rechtssicherheit entsprechende Abgrenzung des für Beginn oder Ende des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit maßgebenden häuslichen Bereichs nicht finden läßt (Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64). Den vorstehend genannten Entscheidungen des erkennenden Senats lagen Sachverhalte zugrunde, die dadurch gekennzeichnet sind, daß die Versicherten für die Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit kein eigenes Fahrzeug (Kraftfahrzeuge, Fahrrad) als Transportmittel verwendeten.
Im Grundsatz gilt aber auch dann nichts anderes, wenn der Versicherte für die Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit ein solches Transportmittel benutzt. Der erkennende Senat hat in Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung den Versicherungsschutz bereits für den Teil des Weges bejaht, den der Versicherte auf umzäuntem Ein- oder Zweifamilienhausgrundstück zurücklegt, nachdem er das für den Weg zu benutzende Fahrzeug (Moped, Kraftwagen) aus dem Abstellraum (Keller, Garage) herausgeholt hat (BSG 22, 240; Urteil vom 24. August 1966 - 2 RU 175/65). Gleiches würde auch für den Weg von dem Ort der Tätigkeit anzunehmen sein, bevor der Raum betreten wird, in dem das benutzte Fahrzeug abgestellt werden soll. Der erkennende Senat hat dies jedoch noch nicht entschieden (vgl. BSG 22, 10, 12). Die Grenze zwischen dem noch nicht oder nicht mehr dem Versicherungsschutz unterliegenden häuslichen Bereich und dem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit bildet hier entgegen der Ansicht der Beklagten nicht schon der für das Abstellen des Fahrzeuges vorgesehene Raum, sondern in der Regel ebenfalls die Außentür des Wohngebäudes. Der erkennende Senat hat dies in seiner neueren Rechtsprechung schon mehrfach herausgestellt und zur Begründung darauf hingewiesen, daß eine zum Abstellen eines Kraftfahrzeuges benutzte Garage nicht zum unversicherten häuslichen Bereich gehört, mag die Garage sich im Kellergeschoß des Wohnhauses befinden, aber von dort nicht direkt, sondern erst nach Durchschreiten der Außentür des Wohngebäudes zu erreichen sein oder vom Wohnhaus getrennt liegen (BSG 37, 36, 38; SozR Nr. 4 zu § 550 RVO). Damit hat die insbesondere von dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit geprägte Rechtsprechung des erkennenden Senats an den früher verwendeten Abgrenzungskriterien der baulichen Verbundenheit der Garage mit dem Wohngebäude (siehe die Ausführungen in SozR Nr. 4 zu 550 RVO in Bezug auf BSG 24, 243) oder der Nutzungs- und Verfügungsmöglichkeit des Versicherten über die zum Abstellen des Fahrzeuges benutzten Räumlichkeiten (BSG 22, 10, 12; BG 1965, 114) nicht mehr festgehalten. Dies schließt nunmehr in aller Regel auch aus, in dem vom Wohngebäude nicht unmittelbar zugänglichen Raum zum Abstellen des für den Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit als Transportmittel benutzten Fahrzeuges auch nur einen Teilbereich eines gespaltenen häuslichen Bereichs zu sehen (so noch im Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64 !- in Bezug auf BSG 22, 10; zum häuslichen Teilbereich vgl. BSG 19, 257). Dabei wird nicht verkannt, daß Garagen und ähnliche zum Abstellen von Fahrzeugen benutzte Räumlichkeiten, auch wenn sie zu dem Wohngebäude des Versicherten keinen unmittelbaren Zugang haben, zumindest auf eingezäunten Ein- und Zweifamilienhausgrundstücken, der persönlichen (privaten) Lebenssphäre des Versicherten zugerechnet werden könnten, wie dies auch für das eingezäunte Grundstück selbst möglich wäre. Da sich jedoch innerhalb dieser Lebenssphäre keine klare dem Erfordernis der Rechtssicherheit und dem Zweck des § 550 Abs. 1 RVO entsprechende Abgrenzung für den Beginn und das Ende des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit finden läßt, ist es gerechtfertigt, diese Lebenssphäre nicht dem durch das Wohnen des Versicherten gekennzeichneten "häuslichen Bereich" zuzurechnen; die Grenze bildet in der Regel auch hier die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes (vgl. BSG 2, 239; Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64 -; BSG 22, 240; BG 1965, 314; Urteil vom 24. August 1966 - 2 RU 175/60; SozR Nr. 4 zu § 550 RVO).
Für den hier zu entscheidenden Fall bedeutet dies, daß Frau M. nach dem Durchschreiten der Außentür des Wohngebäudes auf dem Weg zur Garage, den sie zurücklegte, um mit dem dort abgestellten Kraftwagen zu ihrer Arbeitsstelle zu fahren, bereits unter Versicherungsschutz stand. Die Tatsache, daß es sich um die Garage eines Einfamilienhauses handelt, die Garage an das Haus angebaut ist und bei dem Weg zur Garage das eingezäunte Grundstück nicht verlassen zu werden braucht, ist rechtlich unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, daß die Garage keinen Zugang zum Wohngebäude hat und daher erst nach dem Durchschreiten der Außentür des Wohngebäudes erreicht werden kann. Da die Garage hier nicht zum unversicherten häuslichen Bereich gehört, ist es für den Versicherungsschutz auch unerheblich, ob Frau M. - wie die Beklagte meint - die Garage im Augenblick des Unfalls bereits betreten hatte.
Die Beklagte ist somit zu Recht verurteilt worden, der Klägerin die geltend gemachten und der Höhe nach nicht bestrittenen Aufwendungen aus Anlaß des Arbeitsunfalls der Frau M. am 19. November 1971 zu ersetzen. Die Revision der Beklagten war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Eine Kostenentscheidung entfällt (§ 193 Abs. 4 SGG).
Fundstellen