Orientierungssatz
Der Begriff "Versicherung" bezeichnet in den Rentenversicherungsgesetzen einerseits die Aufgabe des Versicherungsträgers, also seine "Funktion", andererseits die Summe der öffentlich-rechtlichen Beziehungen, die zwischen dem Versicherten und dem Rentenversicherungsträger durch die Leistung von Beiträgen entstehen.
Es handelt sich also um einen umfassenden Begriff, in dem nicht danach unterschieden wird, ob die "Versicherung" auf Pflichtbeiträgen, freiwilligen Beiträgen oder Höherversicherungsbeiträgen beruht. Auch die Höherversicherungsbeiträge dienen der "Funktion" des Versicherungsträgers, und auch die Höherversicherung ist ein Teil des öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnisses, sie begründet nicht ein neben dem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis bestehende Rechtsbeziehung anderer Art.
Leitsatz (amtlich)
Die "Verfallklausel" des RVO § 1303 Abs 5 (= AVG § 82 Abs 5) bezieht sich auch auf Höherversicherungsbeiträge.
Normenkette
AVG § 82 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23, § 83 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1303 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23, § 1304 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Januar 1965 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt die Erstattung von Beiträgen der Höherversicherung. Sie war vom 1. April 1952 bis zum 30. Juni 1960 in der Angestelltenversicherung pflichtversichert und entrichtete in dieser Zeit außerdem Beiträge zum Zwecke der Höherversicherung. Nach ihrer Eheschließung am 19. Juni 1959 beantragte sie am 1. Juli 1960, ihr die bis dahin entrichteten Beiträge nach § 83 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu erstatten.
Mit Bescheid vom 7. September 1960 erstattete die Beklagte die für die Zeit vom 12. März 1959 bis zum 30. Juni 1960 entrichteten Pflichtbeiträge zur Hälfte und die vollen für die Zeit vom 1. März 1959 bis zum 30. Juni 1960 geleisteten Höherversicherungsbeiträge. Die Erstattung der vor dieser Zeit entrichteten Beiträge lehnte sie ab, weil der Klägerin eine Regelleistung, nämlich in der Zeit vom 11. Februar bis zum 11. März 1959 ein Heilverfahren, gewährt worden sei; nach § 83 Abs. 3 i.V. mit § 82 Abs. 5 AVG könnten nur die danach entrichteten Beiträge erstattet werden.
Das Sozialgericht (SG) Köln verurteilte die Beklagte antragsgemäß, der Klägerin auch die Höherversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1. April 1952 bis zum 28. Februar 1959 in Höhe von 1.293,50 DM zu erstatten (Urteil vom 19. Februar 1962). Das Landessozialgericht (LSG) hob auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Die Anschlußberufung der Klägerin, mit der diese auch noch die Hälfte der von April 1952 bis Februar 1959 entrichteten Pflichtbeiträge begehrte, wies das LSG zurück. Das LSG sah das der Klägerin gewährte Heilverfahren als eine Regelleistung im Sinne des § 82 Abs. 5 AVG an, das der Erstattung der bis dahin entrichteten Beiträge entgegenstehe. Das gelte nach Wortlaut, Aufbau und Systematik der §§ 82, 83 AVG auch für die zur Höherversicherung geleisteten Beiträge. Diese teilten regelmäßig das rechtliche Schicksal der Grundbeiträge, soweit nicht ausdrücklich zur Wahrung der "absoluten Beitragsentrichtungsfreiheit" in der Höherversicherung und wegen ihres "Zusatz- und Aufstockungscharakters" etwas anderes bestimmt sei. Eine solche Ausnahmebestimmung fehle aber in den §§ 82, 83 AVG (Urteil vom 20. Januar 1965).
Mit der - zugelassenen - Revision beantragte die Klägerin,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Ihren mit der Anschlußberufung geltend gemachten weitergehenden Antrag verfolgte sie im Revisionsverfahren nicht weiter.
Die Klägerin rügte die Verletzung der §§ 82, 83 AVG: Wortlaut, Aufbau und Systematik des Gesetzes sprächen dafür, daß Höherversicherungsbeiträge trotz der Gewährung eines Heilverfahrens erstattungsfähig seien. Eine Akzessorietät zwischen Grund- und Höherversicherungsbeitrag bestehe nur in beitragsrechtlicher Hinsicht, sofern ein Beitrag der Höherversicherung nur neben einem Pflicht- oder einem freiwilligen Beitrag entrichtet werden dürfe. Leistungsrechtlich bestehe eine Akzessorietät jedoch nur bezüglich des Versicherungsfalles, während die Höherversicherungsbeiträge im übrigen nicht den Grundbeiträgen folgten. Zu dem mit der Höherversicherung versicherten Risiko gehörten nicht die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit; das Heilverfahren als eine "Regelleistung" sei der Klägerin allein aus der Pflichtversicherung und nicht aus der Höherversicherung gewährt worden. Der Tatbestand des § 82 Abs. 5 AVG, wonach es für den Verfall der Beiträge darauf ankomme, ob dem Versicherten "eine Regelleistung aus der Versicherung" gewährt worden sei, treffe danach für die Höherversicherungsbeiträge der Klägerin nicht zu.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Erstattung der von April 1952 bis Februar 1959 entrichteten Höherversicherungsbeiträge verneint. Nach § 82 Abs. 5 AVG, der auf die Beitragserstattung wegen Heirat nach § 83 Abs. 3 AVG - vor der Streichung des § 83 mit Wirkung ab 1. Januar 1968 durch Art. 1 § 2 Nr. 11 des Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 - entsprechend anzuwenden ist, sind, wenn der Versicherten eine Regelleistung aus der Versicherung gewährt worden ist, nur die später entrichteten Beiträge zu erstatten. Das LSG hat zutreffend diese Einschränkung auch auf die Höherversicherungsbeiträge bezogen. § 82 Abs. 1 Satz 1 AVG regelt zunächst ebenso wie § 83 Abs. 1 Satz 1 AVG die Voraussetzungen des Anspruchs auf Erstattung von "Beiträgen" - allgemein - nach Grund und Höhe. Der in beiden Vorschriften unmittelbar folgende Satz "Beiträge der Höherversicherung sind dem Versicherten in voller Höhe zu erstatten" enthält für Höherversicherungsbeiträge eine Ausnahme hinsichtlich der Höhe des Erstattungsanspruchs; eine andere Bedeutung hat dieser Satz nicht; er besagt nicht, daß Höherversicherungsbeiträge nicht ebenso "Beiträge" im Sinne des ersten Satzes sind, wie Pflichtbeiträge und freiwillige Beiträge. § 82 Abs. 5 AVG enthält eine Einschränkung des Anspruchs auf Erstattung von "Beiträgen" für den Fall, daß dem Versicherten eine Regelleistung aus der Versicherung gewährt worden ist; das Wort "Beiträge" hat hier keine andere Bedeutung als in der "Grundregel" des Abs. 1 Satz 1, d.h. es bezieht sich auf Grundbeiträge (Pflichtbeiträge und freiwillige Beiträge) und Höherversicherungsbeiträge. Wenn diese Einschränkung für Höherversicherungsbeiträge nicht gelten sollte, hätte in Abs. 5 für diese Beiträge ebenso eine Sonderregelung getroffen werden müssen, wie dies in Abs. 1 geschehen ist.
Diese Auffassung steht auch mit dem Sinn und Zweck der §§ 82, 83 AVG im allgemeinen und mit der "Verfallklausel" des § 82 Abs. 5 AVG im besonderen in Einklang. Bei den in §§ 82, 83 AVG als erstattungsfähig erklärten Beiträgen - Grundbeiträgen und Höherversicherungsbeiträgen - handelt es sich um Beiträge, für die die Voraussetzungen der Zulässigkeit und der Wirksamkeit der Beitragsentrichtung vorgelegen haben. Sie sind die Gegenleistung dafür, daß der Versicherungsträger - bzw. die Versichertengemeinschaft - das Risiko des einen Leistungsanspruch begründenden Versicherungsfalles trägt. Deshalb können sie grundsätzlich auch dann nicht erstattet werden, wenn ein Versicherungsfall überhaupt nicht eintritt, wenn etwa der Versicherte nicht berufs- oder erwerbsunfähig wird oder wenn er stirbt, ohne Altersruhegeld bezogen zu haben und ohne daß rentenberechtigte Hinterbliebene vorhanden sind, oder wenn Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für ihn nicht erforderlich werden. Soweit trotzdem im Gesetz ein Anspruch auf Beitragserstattung eingeräumt ist, beruht diese Regelung auf Billigkeitserwägungen. Den in § 82 AVG geregelten Erstattungsfällen liegt die Erwägung zugrunde, daß mit dem Wegfall der Versicherungspflicht und der Beseitigung der Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung die Voraussetzungen für die Erfüllung der Wartezeit und damit für den Erwerb eines Rentenanspruchs entfallen; der in § 83 AVG geregelte Erstattungsfall hat auf der - allerdings stets umstrittenen - Auffassung beruht, daß weibliche Versicherte nicht selten eine Sicherung gegen die an sich von der Rentenversicherung gedeckten Versicherungsrisiken in der Ehe finden und daß ihnen zugleich durch die Beitragserstattung die Gründung eines Hausstands erleichtert wird. In den Erstattungsfällen tritt der Erstattungsanspruch "ersatzweise" - als eine Regelleistung der Versicherung (vgl. § 12 Nr. 4 AVG) - an die Stelle der Ansprüche auf die sonst möglicherweise aus der Versicherung zu gewährenden Leistungen. Es handelt sich dabei um eine Art "Prämienrückgewähr"; es entspricht aber allgemeinen versicherungsrechtlichen und versicherungsmathematischen Grundsätzen, daß eine solche "Prämienrückgewähr" nur Platz greift, soweit Versicherungsleistungen nicht in Anspruch genommen worden sind, und ohne Rücksicht darauf, in welcher Höhe Versicherungsleistungen gewährt worden sind. Wenn ein Versicherungsverhältnis bereits "aktualisiert", d.h. ein versicherungsrechtliches Risiko bereits abgedeckt ist, sollen diesem Versicherungsverhältnis nicht nachträglich die Grundlagen entzogen oder verändert werden. Diese Erwägungen treffen gleichermaßen für Grundbeiträge wie für Höherversicherungsbeiträge zu. Zwar teilen die Höherversicherungsbeiträge im Leistungsrecht vielfach nicht das "Schicksal" der Grundbeiträge. Die Besonderheit der Höherversicherungsbeiträge liegt darin, daß sie schon durch das Höherversicherungsgesetz vom 14. März 1951 (BGBl I 188) gewissermaßen mit der Garantie einer "prämiengerechten" Leistung ausgestattet worden sind. Die Beiträge, die der zusätzlichen Vorsorge dienen sollen, sollten dem Versicherten voll und ganz rentensteigernd zugute kommen. So könnte weder die Anwartschaft aus den Höherversicherungsbeiträgen verfallen (§ 5 Abs. 2 des Höherversicherungsgesetzes), noch könnten die aus Höherversicherungsbeiträgen zu leistenden Steigerungsbeträge ruhen oder gekürzt werden (§ 5 Abs. 3 des Höherversicherungsgesetzes). In entsprechender Weise ist das Höherversicherungsrecht bei der Neuregelung des Rentenversicherungsrechts in das allgemeine Rentenrecht eingegliedert worden. Im Leistungsrecht bestehen deshalb weitgehend Sondervorschriften für die Berücksichtigung von Höherversicherungsbeiträgen (vgl. die §§ 23 Abs. 4, 24 Abs. 4, 25 Abs. 5, 30 Abs. 1, 2.Halbsatz, 31 Abs. 1, 2.Halbsatz, 38, 40 Abs. 3, 46 Abs. 2, 47 Abs. 2, 49 Abs. 3, 62, 72 und Art. 2 §§ 15 Abs. 1, 33 Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes). Auch für den dem Leistungsrecht angehörenden Erstattungsanspruch ist dem Grundgedanken, daß Höherversicherungsbeiträge voll dem Versicherten "gutgebracht" werden sollen, insofern Rechnung getragen, als diese Beiträge - anders als die Grundbeiträge, die nur zur Hälfte erstattet werden - dem Versicherten voll zu erstatten sind (§§ 82 Abs. 1 Satz 2, 83 Abs. 1 Satz 2 AVG). Dies gilt jedoch nur, wenn die Voraussetzungen der "Erstattungsfähigkeit" von Beiträgen überhaupt vorliegen. Hieran fehlt es, wenn eine Regelleistung aus der Versicherung erbracht ist. Die Höherversicherungsbeiträge bleiben jedoch - trotz der Erstattung der Grundbeiträge - für eine künftige Rentenberechnung wirksam.
Zu Unrecht meint die Klägerin, die Erstattungsfähigkeit der Höherversicherungsbeiträge für die Zeit vor der Durchführung des Heilverfahrens sei deshalb zu bejahen, weil die Höherversicherungsbeiträge nicht Grundlage des Heilverfahrens gewesen seien, das Heilverfahren also nicht "aus der (Höher-)Versicherung" gewährt worden sei. Der Begriff "Versicherung" bezeichnet in den Rentenversicherungsgesetzen einerseits die Aufgabe des Versicherungsträgers, also seine "Funktion" (vgl. z.B. die Überschriften zum 1. und 2. Abschnitt des AVG, die §§ 84, 85, 86, 98 Abs. 2, Buchst. b, 109 AVG), andererseits die Summe der öffentlich-rechtlichen Beziehungen, die zwischen dem Versicherten und dem Rentenversicherungsträger durch die Leistung von Beiträgen entstehen (vgl. z.B. §§ 10, 28 Abs. 2, 36 Abs. 3, 37 Abs. 1, 82 Abs. 8, 97 Abs. 2 AVG). Es handelt sich also um einen umfassenden Begriff, in dem nicht danach unterschieden wird, ob die "Versicherung" auf Pflichtbeiträgen, freiwilligen Beiträgen oder Höherversicherungsbeiträgen beruht. Auch die Höherversicherungsbeiträge dienen der "Funktion" des Versicherungsträgers, und auch die Höherversicherung ist ein Teil des öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnisses, sie begründet nicht eine neben dem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis bestehende Rechtsbeziehung anderer Art (vgl. z.B. Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Einführung S. 9). Auch die Einkünfte aus der Höherversicherung gehören zu den Mitteln des Versicherungsträgers, die für die Aufgaben der "Versicherung" allgemein zur Verfügung stehen.
Da das Heilverfahren der Klägerin aus dieser "Versicherung" gewährt worden ist, steht der Klägerin ein Erstattungsanspruch nach den §§ 83, 82 Abs. 5 AVG nur hinsichtlich der später entrichteten Beiträge zu. Das LSG hat daher zu Recht den Anspruch der Klägerin auf Erstattung der vor der Durchführung des Heilverfahrens geleisteten Beiträge in vollem Umfange, also auch hinsichtlich der Höherversicherungsbeiträge, verneint. Die Revision der Klägerin ist damit unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
RegNr, 3280 |
DAngVers 1968, 332 (LT1) |
MittRuhrKn 1969, 105 (LT1) |
RV 1969, 61 (LT1) |
SGb 1968, 551 (LT1) |
SozR § 1303 RVO (LT1), Nr 7 |