Entscheidungsstichwort (Thema)
Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung im Fall einer pandemiebedingten Triage begründen unverzügliche Handlungspflicht des Gesetzgebers. konkrete gesetzgeberische Schutzpflicht aus Art 3 Abs 3 S 2 GG. hier: Verfassungsbeschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen zur Regelung von pandemiebedingten Triage-Situationen in der Intensivmedizin mit Blick auf Art 3 Abs 3 S 2 GG erfolgreich
Leitsatz (amtlich)
1. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich für den Staat das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung und ein Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen.
2. Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Dazu gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung, eine mit der Benachteiligung wegen Behinderung einhergehende Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wie das Leben oder auch Situationen struktureller Ungleichheit.
Der Schutzauftrag verdichtet sich hier, weil das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen besteht.
3. Dem Gesetzgeber steht auch bei der Erfüllung einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Entscheidend ist, dass er hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 3 Abs. 3 S. 2; BürgPoRPakt Art. 6, 12; EMRK Art. 14; UNBehRÜbk Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 10, 25; WiSoKuPakt Art. 2 Abs. 1-2
Verfahrensgang
Tenor
1. Der Gesetzgeber hat Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird.
2. Der Gesetzgeber ist gehalten, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zu treffen.
3. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 9) wird verworfen.
4. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführenden zu 1) bis 8) ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Fundstellen
Haufe-Index 14981035 |
COVuR 2022, 100 |
BVerfGE 2022, 79 |
NJW 2022, 380 |
NVwZ 2022, 139 |
NZA 2022, 6 |
ZAP 2022, 63 |
ArztR 2022, 4 |
BtPrax 2022, 72 |
DÖV 2022, 300 |
JA 2022, 259 |
JZ 2022, 145 |
JZ 2022, 69 |
JuS 2022, 10 |
JuS 2022, 281 |
MedR 2022, 212 |
NDV-RD 2022, 3 |
NZS 2022, 6 |
VR 2022, 143 |
ZfSH/SGB 2022, 129 |
DVBl. 2022, 3 |
FF 2022, 46 |
FamRB 2022, 45 |
GesR 2022, 98 |
RÜ 2022, 179 |
RdW 2022, 225 |
GRZ 2022, 111 |
GSZ 2022, 8 |
Jura 2022, 652 |
KriPoZ 2022, 48 |
Polizei 2022, 252 |
R&P 2022, 88 |
medstra 2022, 108 |