Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugang fristgebundener Schriftstücke bei Gericht
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Zugangs fristgebundener Schriftstücke bei Gericht (im Anschluß an BVerfGE 52, 203).
Leitsatz (redaktionell)
Ein Schriftstück ist bereits dann wirksam eingegangen, wenn es in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt ist, unabhängig davon, ob es bei der Postverteilungsstelle eingegangen ist oder ob es von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle amtlich in Empfang genommen worden ist.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1; ZPO § 519 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LG Köln (Beschluss vom 05.12.1979; Aktenzeichen 1 S 295/79) |
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine Entscheidung, durch die dem Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen das Versäumen der Berufungsbegründungsfrist in einem Zivilprozeß versagt worden ist.
1. Der Beschwerdeführer ist im Ausgangsverfahren wegen rückständigen Mietzinses in Höhe von 7 740 DM in Anspruch genommen worden. Gegen das entsprechende Urteil des Amtsgerichts vom 26. Juni 1979, das dem Beschwerdeführer am 24. Juli 1979 zugestellt worden war, hatte er am 23. August 1979 beim Landgericht Berufung eingelegt. Eine Berufungsbegründung kam nicht zu den Akten. Das Landgericht verwarf deshalb durch Beschluß vom 23. Oktober 1979 das Rechtsmittel als unzulässig.
Der Beschwerdeführer beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und trug dazu vor: Sein Prozeßbevollmächtigter habe die Berufungsschrift und die Berufungsbegründung am 21. August 1979 in seinem Beisein und in Gegenwart eines Dolmetschers diktiert. Die Schriftsätze seien am 23. August 1979 geschrieben, am nächsten Tag von einer als Anwaltsgehilfin Auszubildenden zum Gericht gebracht und auf der Postverteilungsstelle in das für Landgerichtspost vorgesehene Fach gelegt worden. Durchschriften der Schriftsätze seien am gleichen Tag über die Fächer auf der Postverteilungsstelle den Rechtsanwälten des Gegners zugeleitet worden, die sie auch erhalten und am 29. August 1979 an ihren Mandanten zur Stellungnahme weitergegeben hätten.
Das Landgericht wies das Wiedereinsetzungsgesuch durch den angegriffenen Beschluß zurück mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe die Berufungsbegründungsfrist nicht ohne sein Verschulden versäumt. In der Postverteilungsstelle befänden sich Schilder mit Hinweisen, wonach Fristsachen auf der Geschäftsstelle oder der gemeinsamen Briefannahmestelle abzugeben seien. Die Kanzleiangestellte habe fahrlässig gehandelt, weil sie die Begründungsschrift trotz dieser Warnungen auf der Postverteilungsstelle abgegeben habe; diese Einrichtung sei keine Geschäftsstelle und deshalb nicht das Berufungsgericht im Sinne des § 519 Abs. 2 Satz 1 ZPO.
2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG. Er trägt vor: Sobald ein Schriftstück in das Fach des Landgerichts auf der Postverteilungsstelle eingelegt werde, sei es in den Verantwortungsbereich des Gerichts gelangt. Er habe darauf vertrauen dürfen, daß die Berufungsbegründungsschrift ordnungsgemäß zur Geschäftsstelle weitergeleitet werde. Die Hinweisschilder rechtfertigten keine andere Beurteilung; da die Begründungsfrist erst sechs Wochen später abgelaufen sei, habe mit rechtzeitiger Beförderung innerhalb des Gerichts gerechnet werden dürfen. Daß der Schriftsatz nicht zu den Akten gelangt sei, könne nur auf einem Versäumnis von Gerichtsbediensteten beruhen. Dafür aber habe er nicht einzustehen.
3. Nach einer Mitteilung des Präsidenten des Landgerichts handelt es sich bei der „Postverteilungsstelle” um eine gemeinsame Einrichtung des Landgerichts und des Anwaltvereins, die Zustellungsstelle genannt wird. Dort ist ein Angehöriger des einfachen Justizdienstes des Landgerichts eingesetzt, der Zustellungen nach § 212a ZPO an Rechtsanwälte ausführt. Die Rechtsanwälte unterhalten Fächer, in die die Schriftstücke, auch die von Anwalt zu Anwalt zuzustellenden, eingelegt werden. Außerdem sind in dem Raum Körbe aufgestellt, in die Post für die Justizbehörden gelegt werden kann. Wachtmeister des Landgerichts leeren die Körbe täglich und verteilen den Inhalt. Eingangsstempel erhalten die Schriftstücke erst auf den Geschäftsstellen. Unmittelbar neben den Körben sind folgende Schilder in der Größe von jeweils etwa 46 × 25 cm angebracht:
„Alle Schriftstücke, durch die Fristen gewahrt werden sollen, müssen auf den Abteilungen bzw. Kammern abgegeben werden.”
„Schriftstücke mit Kostenmarken sowie Eil- und Fristsachen sind nur auf der Geschäftsstelle bzw. auf der gemeinsamen Briefannahmestelle abzugeben.”
Daneben gibt es noch eine gemeinsame Briefannahmestelle des Amtsgerichts und des Landgerichts, die nach Nr. 37a Abs. 2 der „Preußischen Zusatzbestimmungen zur Aktenordnung” als Geschäftsstelle sämtlicher Abteilungen der angeschlossenen Gerichte gilt.
4. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Begünstigte des Ausgangsverfahrens hat sich nicht geäußert.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Beschluß des Landgerichts verletzt das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sich ergebende Gebot einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung und den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
1. Das Bundesverfassungsgericht hat es als unsachlich und deshalb verfassungswidrig angesehen, daß Gerichte ein fristwahrendes Schriftstück erst dann als wirksam eingereicht gelten lassen, wenn es vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle amtlich in Empfang genommen worden ist. Ein Schriftstück ist bereits dann wirksam eingegangen, wenn es in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt ist (BVerfGE 52, 203 (209); ebenso jetzt Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 12. Februar 1981 – VII ZB 27/80 –). Mit diesem Grundsatz ist schon der Ausgangspunkt des Landgerichts nicht zu vereinbaren, wonach eine Berufungsbegründungsschrift wirksam nur bei der Geschäftsstelle eingereicht werden könne.
Ist mit dem Einlegen eines Schriftstücks in den Korb bereits Gewahrsam des Gerichts begründet, so ist damit auch die Frist gewahrt. Der Hinweis auf den Schildern neben den Körben ändert daran nichts. Er ist durch die frühere, vom Bundesverfassungsgericht mißbilligte und überholte Rechtsprechung der Zivilgerichte veranlaßt (BGH, a.a.O.) und daher unbeachtlich.
2. Der Beschluß des Landgerichts beruht auf der Verfassungsverletzung. Trifft der Vortrag des Beschwerdeführers zu, so hätte er die Berufungsbegründungsfrist nicht schuldhaft versäumt, sondern die Frist eingehalten. Der angegriffene Beschluß ist aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat gemäß § 34 Abs. 4 BVerfGG die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu erstatten.
Fundstellen
BVerfGE, 117 |
NJW 1981, 1951 |