Entscheidungsstichwort (Thema)
Festsetzung des Lohnsummensteuerhebesatzes im Laufe des Rechnungsjahres
Leitsatz (amtlich)
Die Regelung, dass das Gesetz der Freien und Hansestadt Hamburg über die Festsetzung der Hebesätze für die Gewerbesteuer für das Rechnungsjahr 1951 (HambGVOBl I S. 229) mit Wirkung vom 1. April 1951 in Kraft trat, verstößt nicht gegen das Grundgesetz.
Normenkette
GG Art. 2, 20
Tatbestand
A.
I.
Die Freie und Hansestadt Hamburg erhöhte durch das Gesetz über die Festsetzung der Hebesätze für die Gewerbesteuer für das Rechnungsjahr 1951 vom 21. Dezember 1951 (HambGVOBl I S 229) – Hebesatzgesetz – die Gewerbesteuerhebesätze für das Rechnungsjahr 1951. Der Hebesatz für die Lohnsummensteuer (§§ 23–27 Gewerbesteuergesetz – GewStG – vom 1. Dezember 1936 – RGBl I S 979), der in den Rechnungsjahren 1947 bis 1950, 500 v. H. betragen hatte, wurde für das Rechnungsjahr 1951 auf 600 v. H. festgesetzt (§ 1 Nr. 2 Hebesatzgesetz). Das Hebesatzgesetz trat gemäß § 2 mit Wirkung vom 1. April 1951, dem Beginn des Rechnungsjahres, in Kraft.
II.
1. Die Beschwerdeführerin unterhält in Hamburg eine Zweigniederlassung. Sie hatte, ohne nach dem Gesetz dazu verpflichtet zu sein, in der Zeit vom 1. April bis zum 31. Dezember. 1951 Lohnsummensteuer nach dem in den vorangegangenen Rechnungsjahren geltenden Hebesatz von 500 v. H. gezahlt. Mit Bescheid vom 24. März 1952 forderte das Bezirksamt sie auf, den sich aus der Neufestsetzung des Lohnsummensteuerhebesatzes für diese Zeit ergebenden Unterschiedsbetrag von 806,30 DM nachzuentrichten.
Die Beschwerdeführerin beschritt gegen diese Anforderung den Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten. Sie machte geltend, das Hebesatzgesetz verstoße gegen das Grundgesetz, soweit es sich Rückwirkung beilege, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg; die Revision wies das Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 14. Dezember 1955 zurück. In den Urteilsgründen ist ausgeführt:
- Der Hebesatz für die in Hamburg erhobene Lohnsummensteuer sei vor dem Erlaß des Hebesatzgesetzes zuletzt für das Rechnungsjahr 1950 bestimmt worden. Diese Festsetzung sei für das Rechnungsjahr 1951 nicht mehr wirksam gewesen. Das Hebesatzgesetz habe also den Hebesatz für die in diesem Rechnungsjahr zu entrichtende Lohnsummensteuer erstmals festgelegt. Es gehöre zu den sogenannten Zeitabschnitts- oder Jahresgesetzen, die sich nach Zweck und zeitlicher Geltung wesentlich von anderen Gesetzen unterschieden. Es erübrige sich daher, zur Zulässigkeit der Rückwirkung von Gesetzen, insbesondere Steuergesetzen, allgemein Stellung zu nehmen.
- Gegen die Rückbeziehung des Hebesatzgesetzes auf den 1. April 1951 bestünden keine Bedenken.
Bei der Neufestsetzung der Realsteuerhebesätze gemäß § 2 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zu den Realsteuergesetzen (EinfRealStG) vom 1. Dezember 1936 (RGBl I S 961) handle es sich um eine alljährlich wiederkehrende Maßnahme. Jeder Gewerbesteuerpflichtige wisse, daß vorher ein teilweise ungeregelter Zustand bestehe. Er könne daher nicht überrascht sein, wenn die vom Gesetzgeber im Gewerbesteuergesetz bewußt gelassene Lücke durch die Festsetzung der Hebesätze nachträglich ausgefüllt werde. Ob in diesem Zusammenhang überhaupt von Rückwirkung gesprochen werden könne, könne dahinstehen.
Dem Einführungsgesetz zu den Realsteuergesetzen lasse sich nicht entnehmen, daß der Hebesatz für die Lohnsummensteuer bis zu einem bestimmten Zeitpunkt im Rechnungsjahr festgesetzt sein müsse. § 2 Abs. 2 EinfRealStG bestimme zwar, daß die im Laufe des Rechnungsjahres einmal zulässige Änderung des. Lohnsummensteuerhebesatzes erst von dem Monat an gelte, welcher der Änderung folge. Daraus ließen sich jedoch keine Schlüsse auf die alljährliche Neufestsetzung gemäß § 2 Abs. 1 EinfRealStG ziehen. Die unterschiedliche Regelung in § 2 Abs. 1 und 2 EinfRealStG berücksichtige die verschiedenartige wirtschaftliche Ausgangssituation: Vor der erstmaligen Festsetzung des Hebesatzes stehe der Steuerpflichtige vor einem rechtlichen Schwebezustand und könne nicht endgültig kalkulieren; die spätere Änderung greife in eine bereits geregelte Situation ein, auf die er habe vertrauen dürfen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verletze sie in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG; es beruhe auf dem Hebesatzgesetz, das wegen seiner weiten zeitlichen Rückbeziehung verfassungswidrig sei. Wenn § 2 Abs. 2 EinfRealStG vorschreibe, daß der Hebesatz für die Lohnsummensteuer nicht rückwirkend geändert werden dürfe, müsse das grundsätzlich auch bei seiner alljährlichen Neufestsetzung beachtet werden. Der Hebesatz müsse stets vor oder allenfalls kurz nach dem Beginn des Rechnungsjahres neu festgesetzt werden.
3. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Nach seiner Auffassung verstößt das Hebesatzgesetz weder gegen ausdrückliche Grundrechtsbestimmungen noch gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der nicht jede Rückwirkung ausschließe. Ein Abgabengesetz verletze ihn – wie das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfGE 7, 89 [93] ausgesprochen habe – dann nicht, wenn die finanzielle Belastung voraussehbar, durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt und im einzelnen unbedeutend sei. Das Hebesatzgesetz halte sich in diesen Grenzen. Über die geplante Erhöhung der Hebesätze sei seit dem Beginn des Rechnungsjahres in der Hamburger Presse berichtet worden. Die Rückbeziehung auf den 1. April 1951 sei wegen der angespannten Haushaltslage notwendig gewesen. Schließlich sei die Mehrbelastung für die Beschwerdeführerin zumutbar, jedenfalls nicht existenzgefährdend gewesen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verstößt nicht deshalb gegen das Grundgesetz, weil es das hamburgische Hebesatzgesetz insoweit angewandt hat, als es seine Wirksamkeit auf den Beginn des Rechnungsjahres 1951 zurückbezieht.
I.
Obwohl das Hebesatzgesetz erst 9 Monate nach Beginn des Rechnungsjahres, für das es gelten soll, ergangen ist, ist es kein rückwirkendes Gesetz (BVerfGE 11, 139 [145 f]). Die Eigenart rückwirkender Gesetze besteht darin, daß sie eine bis zu ihrem Inkrafttreten bestehende Rechtslage mit Wirkung für die Vergangenheit durch neues Recht ordnen, daß sie also an die Stelle der für einen vergangenen Zeitraum geltenden rechtlichen Ordnung nachträglich eine andere treten lassen. Das Hebesatzgesetz hingegen ändert nicht den früheren Rechtszustand, sondern ergänzt ein unvollständiges Gesetz, damit es vollziehbar wird.
1. Das Gewerbesteuergesetz regelt das Lohnsummensteuerrecht nicht vollständig. Es ermächtigt die Gemeinden, den Steuersatz zu bestimmen. Gemäß § 2 Abs. 1 Einf-RealStG werden die Hebesätze für die Realsteuern, also auch für die Lohnsummensteuer, für jedes Rechnungsjahr neu festgesetzt. In Hamburg geschah das im Rechnungsjahr 1951 durch das Hebesatzgesetz.
2. Die Festsetzung des Lohnsummensteuerhebesatzes wirkt grundsätzlich für das ganze Rechnungsjahr und nur für diesen Zeitraum. Wird er erst nach Beginn des Rechnungsjahres festgelegt – wie im Falle des Hebesatzgesetzes –, so besteht bis dahin ein rechtlicher Schwebezustand. Anders als bei der Gewerbesteuer nach dem Gewerbeertrag und dem Gewerbekapital (§ 19 GewStG) besteht nicht einmal die Pflicht, Vorauszahlungen zu leisten (Müthling, GewStG, Anm. zu § 27; Blümich-Boyens-Steinbring-Klein, GewStG, 6. Aufl., Anm. 5 zu § 27). Die Lücke wird erst geschlossen, wenn die Gemeinde von der ihr durch § 2 Abs. 1 EinfRealStG erteilten Ermächtigung Gebrauch macht. Erst dann kann der Steuerschuldner die Höhe der Lohnsummensteuer errechnen und kann die Gemeinde Zahlungen auf die Lohnsummensteuer fordern (§ 25 GewStG).
II.
1. Auch dem Erlaß eines Gesetzes, das ein Steuergesetz mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum ergänzt und insoweit auf einen Tatbestand einwirkt, dessen Verwirklichung bereits begonnen hatte, könnten durch das Gebot der Rechtssicherheit und des daraus folgenden Vertrauensschutzes zeitliche Grenzen gezogen sein (vgl auch Urteil 2 BvR 1/60 vom 19. Dezember 1961). Die Festsetzung des Lohnsummensteuerhebesatzes erst im Laufe des Rechnungsjahres verletzt jedoch nicht das Vertrauen, das der Staatsbürger dem geltenden Recht entgegenbringen darf. Sie betrifft einen regelungsbedürftigen Gegenstand, der noch nicht geregelt war. Deshalb verstößt eine solche Regelung nicht gegen –das Gebot der Rechtssicherheit. Wird der Hebesatz für die Lohnsummensteuer erst im Laufe des Rechnungsjahres festgesetzt, so können sich die Steuerpflichtigen nicht auf einen früheren Hebesatz berufen. Es kann also nicht Vertrauen auf geltendes Recht verletzt werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – die Lohnsummensteuer nicht erstmals erhoben wird (§ 6 Abs. 2 GewStG), sondern bereits in den vorhergehenden Rechnungsjahren entrichtet werden mußte.
2. Die Beschwerdeführerin mußte davon ausgehen, daß die Lohnsummensteuer wie in den vergangenen Jahren so auch im Jahre 1951 erhoben werde. Dazu bedurfte es der Bestimmung eines neuen Hebesatzes. Da dies vor Beginn des Rechnungsjahres nicht geschehen war, mußte die Beschwerdeführerin mit einer späteren Regelung im Laufe des Rechnungsjahres rechnen. Das gilt um so mehr, als auch die Hebesätze für die Rechnungsjahre 1947 bis 1950 erst während oder sogar nach Ablauf des Rechnungsjahres festgelegt worden waren (für 1947: Gesetz vom 25. September 1947 – HambGVOBl S 59, für 1948 und 1949: Gesetz vom 16. Juni 1950 – HambGVOBl I S 132; für 1950: Gesetz vom 15. März 1951 – – HambGVOBl I S 28 –).
Die Beschwerdeführerin konnte sich auch nicht darauf verlassen, daß der Hebesatz nachträglich in der Höhe festgesetzt werde, die er im vorausgehenden Rechnungsjahr 1950 gehabt hatte. Seine Höhe hing entscheidend vom Ausgang der im Rechnungsjahr 1951 erst am 19. Juli 1951 abgeschlossenen Haushaltsberatungen der Bürgerschaft ab. Es konnte keinesfalls angenommen werden, daß der hamburgische Gesetzgeber von der Befugnis, die Realsteuerhebesätze entsprechend dem Finanzbedarf zu bestimmen, keinen Gebrauch machen werde. Solange der Lohnsummensteuerhebesatz für das Rechnungsjahr 1951 nicht festgesetzt war, mußten daher alle Steuerpflichtigen mit der Möglichkeit seiner Erhöhung rechnen.
C.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Dezember 1955 verletzt demnach keine Grundrechte der Beschwerdeführerin. Die Verfassungsbeschwerde war daher zurückzuweisen.
Fundstellen
BStBl I 1962, 490 |
BVerfGE, 279 |
NJW 1962, 292 |
DVBl. 1962, 381 |