Andreas Benecke, Dr. Wendelin Staats
Tz. 1
Stand: EL 105 – ET: 03/2022
Materieller Kern der Regelung des durch das Ges über stliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer stlicher Vorschriften (SEStEG) v 07.12.2006 (BGBl I 2006, 2872, berichtigt BGBl I 2007, 68; BStBl I 2007, 4) neugefassten § 12 KStG ist die Sicherstellung des St-Aufkommens bei Ausschluss oder Beschränkung des dt Besteuerungsrechts (sog Entstrickung). Bis zu dieser umfassenden Neuregelung des Ent- bzw Verstrickungskonzepts durch das SEStEG gab es im dt StR keinen ges geregelten allg Grundsatz des Inhalts, dass die bis zum Zeitpunkt des Ausscheidens eines WG aus der dt Besteuerungshoheit entstandenen stillen Reserven aufzudecken und zu besteuern sind (s Urt des BFH v 16.07.1969, BStBl II 1970, 175; v 10.02.1972, BStBl II 1972, 455; v 16.12.1975, BStBl II 1976, 246; sowie s Kempka, Gewinnrealisierung bei der Überführung von WG zwischen Stammhaus und BetrSt, 39; s Klingberg/van Lishaut, DK 2005, 698, 703; s Thömmes/Schulz/Eismayr/Müller, IWB F 11 Gr 2, 747, 749; s Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1481, 1482; s Stadler/Elser; BB-Special 8/2006, 1, 18; s Benecke/Schnitger, IStR 2006, 765, jeweils mwNachw).
Tz. 2
Stand: EL 105 – ET: 03/2022
Ungeachtet des Fehlens eines allg kodifizierten Entstrickungsgrundsatzes kam es dennoch nach der früheren Rspr des BFH (neben den in Tz 1 genannten Urt zB s Urt des BFH v 28.04.1971, BStBl II 1971, 630; v 30.05.1972, BStBl II 1972, 760; v 24.11.1982, BStBl II 1983, 113; v 14.06.1988, BStBl II 1989, 187; v 13.11.1990, BStBl II 1991, 94; v 19.02.1998, BStBl II 1998, 509) bei Überführung eines WG von einem inl Stammhaus in eine ausl DBA-BetrSt bzw bei Verlegung eines Betriebs/einer BetrSt ins Ausl – sofern das dt Besteuerungsrecht an den WG verloren ging – zu einer Aufdeckung und Besteuerung der stillen Reserven mittels eines Ersatzrealisationstatbestands (Entnahme iSd § 4 Abs 1 S 2 EStG bzw Betriebsaufgabe nach § 16 Abs 3 EStG; sog finale Entnahmetheorie). Mit Urt v 17.07.2008 (BStBl II 2009, 464); v 28.10.2009 (BStBl II 2011, 1019); und v 28.10.2009 (BFH/NV 2010, 432) hat der I. Senat des BFH seine bisherige langjährige Rspr zur finalen Entnahmetheorie "aufgegeben". Aufgrdes Umstands, dass die neuere Rspr des BFH auf einem veränderten Verständnis der Anwendung der Art 7 Abs 2 bzw 13 Abs 2 OECD-MA beruht, ist derzeit streitig, inwieweit diese Rspr Auswirkungen auf die Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 12 Abs 1 KStG idF des SEStEG zum Ausschluss oder zur Beschränkung des dt Besteuerungsrechts hat. Die Fin-Verw sieht die Rechtslage für Sachverhalte ab Inkrafttreten des SEStEG durch diese Rspr nicht berührt (s Schr d BMF v 18.11.2011, BStBl I 2011, 1278). Zur "Aufgabe" der finalen Entnahmetheorie und zu den möglichen Folgen im Einzelnen s Tz 226ff.
Tz. 3
Stand: EL 105 – ET: 03/2022
Durch das SEStEG wurde für KStpfl in § 12 Abs 1 KStG ein allg Rechtsgedanke kodifiziert, wonach die Besteuerung stiller Reserven sichergestellt wird, wenn WG oder deren Nutzung dem dt Besteuerungszugriff entzogen werden. Für EStpfl finden sich vergleichbare Vorschriften bezogen auf WG des BV in § 4 Abs 1 S 3ff und in § 16 Abs 3a EStG (zur Bedeutung für KStpfl s Tz 87 und 639ff) sowie bezogen auf im PV befindliche Anteile an Kap-Ges und Gen in § 17 Abs 5 EStG und § 6 AStG.
In den Vorgängervorschriften des § 12 KStG (s Tz 15ff) waren zwar vergleichbare Regelungen zur St-Entstrickung bereits enthalten, jedoch war der normative Anwendungsbereich dieser Regelungen nur auf einzelne Fallgestaltungen beschr:
- das Ausscheiden eines unbeschr KStpfl aus der dt Besteuerungshoheit bei Verlegung des Sitzes oder des Orts der Geschäftsleitung (s § 12 Abs 1 KStG aF) sowie
- die Auflösung bzw Verlegung und die Übertragung von BetrSt bei beschr KStPflicht (s § 12 Abs 2 KStG aF).
Durch Art 5 der RL 2016/1164 (sog ATAD-RL) wurde für KStpfl ein mit § 12 KStG vergleichbares Entstrickungskonzept als sog Mindestschutzniveau der inl St-BMG der jeweiligen Mitgliedstaaten erstmals unionsweit einheitlich implementiert. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, diese Regelungen spätestens ab dem 01.01.2020 anzuwenden. Im Einzelnen hierzu s Tz 46bff. Die ATAD-RL wurde durch das ATADUmsG v 25.06.2021 (BGBl I 2021, 2035) in nationales Recht umgesetzt.