Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung. Vorliegen einer ‚Behinderung’. Begriff der langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen. Entlassung eines Arbeitnehmers, der auf unbestimmte Zeit vorübergehend arbeitsunfähig im Sinne des nationalen Rechts ist
Normenkette
Richtlinie 2000/78/EG Art. 1-3; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 3, 15, 21, 30-31, 34-35
Beteiligte
Fondo de Garantía Salarial |
Tenor
Die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass
- der Umstand, dass der Betroffene aufgrund eines Arbeitsunfalls auf unbestimmte Zeit vorübergehend arbeitsunfähig im Sinne des nationalen Rechts ist, für sich allein nicht bedeutet, dass die Einschränkung der Fähigkeit dieser Person als „langfristig” gemäß der Definition der „Behinderung” im Sinne dieser Richtlinie, betrachtet im Licht des im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 genehmigten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, qualifiziert werden kann;
- zu den Anhaltspunkten dafür, dass eine solche Einschränkung „langfristig” ist, u. a. der Umstand, dass zum Zeitpunkt des angeblich diskriminierenden Geschehnisses ein kurzfristiges Ende der Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen nicht genau absehbar ist, oder der Umstand, dass sich die Arbeitsunfähigkeit bis zur Genesung des Betroffenen noch erheblich hinziehen kann, gehören;
- sich das vorlegende Gericht bei der Überprüfung dieser Langfristigkeit auf alle ihm bekannten objektiven Gesichtspunkte stützen muss, insbesondere auf Unterlagen und Bescheinigungen über den Zustand des Betroffenen, die auf aktuellen medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und Daten beruhen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Social n° 33 de Barcelona (Arbeitsgericht Nr. 33 Barcelona, Spanien) mit Entscheidung vom 14. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juli 2015, in dem Verfahren
Mohamed Daouidi
gegen
Bootes Plus SL,
Fondo de Garantía Salarial,
Ministerio Fiscal
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras, J. Malenovský, M. Safjan (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Daouidi, vertreten durch G. Pérez Palomares, abogado,
- des Ministerio Fiscal, vertreten durch A. C. Andrade Ortiz,
- der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Mai 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3, 15, 21 Abs. 1, 30, 31, 34 Abs. 1 und 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 1 bis 3 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Mohamed Daouidi einerseits sowie der Bootes Plus SL, dem Fondo de Garantía Salarial (Lohngarantiefonds, Spanien) und dem Ministerio Fiscal (Staatsanwaltschaft, Spanien) andererseits wegen der Entlassung von Herrn Daouidi zu einem Zeitpunkt, als er auf unbestimmte Zeit vorübergehend arbeitsunfähig im Sinne des nationalen Rechts war.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
In dem im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) genehmigten Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden: VN-Übereinkommen) heißt es in Buchst. e der Präambel:
„in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern”.
Rz. 4
Art. 1 („Zweck”) dieses Übereinkommens lautet:
„Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen ...